Friedensaufbau: Von Konflikt zu Versöhnung in der Türkei, Kolumbien und Nordirland 1

Die Beispiele Kolumbien, Nordirland und Türkei hinterlassen uns in dieser Hinsicht eine klare Lehre: Frieden ist ein Prozess, der über das bloße Aushandeln zwischen Staat und Organisation hinausgeht und mit dem gemeinsamen Willen der gesamten Gesellschaft wachsen muss. Wird dieser Wille und diese Beteiligung nicht gewährleistet, mag der Name des Friedens zwar fortbestehen, doch sein Geist wäre längst verloren.
September 22, 2025
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‘‘Las balas escribieron nuestro pasado. La educación, nuestro futuro.’’

“Die Kugeln haben unsere Vergangenheit geschrieben. Bildung ist unsere Zukunft.”

Die anhaltenden bewaffneten Konflikte in verschiedenen Regionen der Welt verletzen nicht nur militärische und politische Gleichgewichte, sondern auch die Seele der Gesellschaften, ihr kollektives Gedächtnis und ihre Vorstellungen von der Zukunft. Die Traumata, die Konflikte hinterlassen, führen zu langfristigen sozialen Brüchen, die nicht nur die gegenwärtigen Generationen, sondern auch kommende Generationen prägen. Daher bedeutet ein Friedensprozess nicht nur das Schweigen der Waffen, sondern auch den Wiederaufbau der Gesellschaft, die Wiederherstellung von Vertrauen und die Umsetzung sozialer Gerechtigkeit.

In diesem Zusammenhang weisen der Friedensprozess Kolumbiens mit der FARC und die türkischen Friedensinitiativen – trotz ihrer unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexte – bemerkenswerte Parallelen auf. Kolumbien ist geprägt von einem mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Guerillakrieg und ländlichen Konfliktdynamiken, die eng mit der Drogenökonomie verknüpft sind. Die Türkei hingegen bietet ein deutlich komplexeres Bild, das durch ethnische Identität, regionale Ungleichheiten und das Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie bestimmt wird. Die IRA wiederum stellt mit dem in Nordirland geführten Friedensprozess ein weiteres Beispiel für die politische und gesellschaftliche Entwaffnung bewaffneter Gruppen dar – nach einem langen Konflikt, der von konfessionellen Identitätsgegensätzen und Fragen politischer Repräsentation geprägt war. Dennoch dürfen die Gemeinsamkeiten dieser beiden Erfahrungen mit dem türkischen Prozess nicht übersehen werden: In allen drei Ländern waren Fragen wie die Entwaffnung, der Rahmen politischer Repräsentation, die Tiefe der gesellschaftlichen Beteiligung und die Rolle internationaler Akteure entscheidend für die Zukunft des Friedens.

Im Fall Kolumbiens machte die Verzögerung bei der Umsetzung der versprochenen ländlichen Entwicklung und Bodenreform den Frieden fragil; in der Türkei schwächte die hinter verschlossenen Türen geführte Friedensinitiative die gesellschaftliche Akzeptanz. Ähnlich erforderte der Friedensprozess mit der IRA in Nordirland nicht nur Entwaffnungsabkommen, sondern auch die breite gesellschaftliche Akzeptanz politischer Repräsentation, kultureller Rechte und von Gerechtigkeitsmechanismen.

Ein vergleichender Blick erinnert uns daher eindringlich daran, dass Frieden nicht nur eine technische Vereinbarung zwischen Staat und bewaffneten Akteuren ist, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Vertrag sein muss.

Der Friedensprozess mit der FARC in Kolumbien: Historische Paradoxien

Die Beziehung zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und den Vereinigten Staaten ist voller Widersprüche, die von der ideologischen Polarisierung des Kalten Krieges bis in die Gegenwart reichen. Eines der auffälligsten Paradoxe ist, dass die FARC über Jahre hinweg Waffen amerikanischer Herkunft nutzte.

Die 1964 gegründete FARC organisierte sich auf der Grundlage einer marxistisch-leninistischen Ideologie als Reaktion auf Armut, Landungleichheit und staatliche Repression in ländlichen Regionen. Die USA betrachteten die aufkommenden linken Bewegungen in der Region, beflügelt durch die Kubanische Revolution, als Bedrohung und unterstützten die kolumbianische Regierung militärisch. Der florierende Waffenmarkt in Lateinamerika führte jedoch dazu, dass insbesondere aus den Konflikten in Mittelamerika stammende US-Waffen auf illegalen Wegen in die Hände der FARC gelangten. So entstand das paradoxe Bild, dass von Washington gelieferte Waffen indirekt auch die militärische Schlagkraft der FARC stärkten.

Ab den 1980er-Jahren finanzierte die FARC ihre Bewaffnung zunehmend durch Einnahmen aus dem Drogenhandel. Ein Teil der für „Anti-Guerilla“-Operationen in Mittelamerika bestimmten leichten US-Waffen gelangte auf den Schwarzmarkt und schließlich nach Kolumbien. Die M-16-Gewehre, M-60-Maschinengewehre und US-Raketenwerfer in den Händen der FARC waren der sichtbarste Ausdruck dieses Paradoxons. Mit anderen Worten: Während die USA der kolumbianischen Regierung Militärhilfe in Milliardenhöhe gewährten, kämpfte die FARC mit amerikanischen Waffen weiter.

Mit dem im Jahr 2000 gestarteten Programm „Plan Colombia“ stellten die USA der kolumbianischen Armee massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung bereit. US-Spezialkräfte waren als Berater aktiv an Operationen gegen die FARC beteiligt. In der Realität jedoch zirkulierten die unter dem Deckmantel des „Drogenkriegs“ gelieferten Waffen auf dem Schwarzmarkt, während FARC-Kämpfer weiterhin mit US-Waffen operierten.

Während der 2012 begonnenen Friedensgespräche in Havanna unterstützten die USA offiziell die Bemühungen der kolumbianischen Regierung. Doch was am Verhandlungstisch nicht thematisiert wurde, war, dass dieser Krieg jahrzehntelang sowohl den US-Rüstungssektor als auch illegale Handelsnetzwerke genährt hatte. Das 2016 unterzeichnete Friedensabkommen wurde von den USA begrüßt. Dennoch bleibt die historische Ironie, dass die FARC ihren Krieg mit amerikanischen Waffen geführt hatte, einer der einprägsamsten Aspekte dieser Beziehung.

Das 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC geschlossene Abkommen zielte darauf ab, einen über 50 Jahre andauernden Konflikt zu beenden. Es wurde als historischer Wendepunkt betrachtet, da es das längste bewaffnete Konfliktgeschehen in Lateinamerika beenden sollte. Das Abkommen umfasste nicht nur die Entwaffnung, sondern auch Programme für ländliche Entwicklung, Bodenreform und den Kampf gegen den Drogenhandel. Besonders die Bodenreform war ein zentrales Thema, da die extreme Landungleichheit seit den 1960er-Jahren ständiger Nährboden für den Konflikt und die Basis für die FARC gewesen war.

Die FARC-Mitglieder gaben ihre Waffen unter Aufsicht der Vereinten Nationen ab, was international große Hoffnung auslöste. Doch ein kritischer Punkt blieb: Obwohl die Entwaffnung abgeschlossen war, verzögerten sich die im Abkommen vorgesehenen Entwicklungsprojekte erheblich. Das langsame Tempo staatlicher Investitionen erschwerte die soziale und wirtschaftliche Reintegration der ehemaligen Guerilleros. Diese Lücke führte dazu, dass einige ehemalige FARC-Mitglieder sich neu formierten und sogenannten „Dissidenzgruppen“ beitraten. Frieden existierte also auf dem Papier, konnte aber gesellschaftlich nicht vollständig verankert werden.

Die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) in Kolumbien und die PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê) in der Türkei werden trotz ihrer Entstehung in unterschiedlichen Kontinenten und Kontexten oft in Friedensprozessen miteinander verglichen.

Ähnlichkeiten:

  • Beide Gruppen definierten sich anfänglich über den bewaffneten Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten: FARC trat für Landreformen und die Rechte der armen Landbevölkerung ein, während die PKK die Anerkennung der kurdischen Identität und den Kampf gegen regionale Ungleichheiten zum Ziel hatte.

  • Im Laufe der Zeit wurden beide Bewegungen nicht nur ideologische und politische Organisationen, sondern auch militärisch-strategische Kräfte.

  • Sowohl FARC als auch PKK wurden lange Zeit in der internationalen Öffentlichkeit als Terrororganisationen eingestuft, was die Legitimität ihrer politischen Lösungsansätze infrage stellte.

  • Beide Gruppen waren in den Friedensprozessen direkt von internationalen Akteuren betroffen: Während in Kolumbien Norwegen und Kuba als Garanten auftraten, wurden im PKK-Prozess Beobachter aus Europa eingeladen, jedoch keine offiziellen Garantien eingerichtet.

Unterschiede:

  • Gesellschaftliche Basis: FARC erhielt hauptsächlich Unterstützung aus ländlichen Gebieten und unter Kleinbauern, während die PKK ihre Basis über die kurdische Identität sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten erweiterte.

  • Finanzielle Ressourcen: FARC finanzierte sich überwiegend durch Drogenhandel und Schmuggel. Die PKK hingegen nutzte vor allem Diaspora-Unterstützung, grenzüberschreitende Drogenlogistik und lokale Ressourcen.

  • Symbolik: FARC strebte eine soziologische Revolution innerhalb Kolumbiens an; das Ziel war nicht die Gründung eines neuen Staates, sondern die Transformation des bestehenden Regimes. Die PKK hingegen verfolgte eine andere Linie: zunächst Autonomie, später den Aufbau eines unabhängigen Staates. Dies zeigt sich auch in den Symbolen: FARC nutzte die kolumbianische Flagge mit eigenem Namen, während die PKK eine rote Flagge mit gelbem Kreis und rotem Stern in der Mitte führt. Gelb verweist auf das „Kurdistan-Gebiet“, der rote Stern auf marxistisch-leninistische Wurzeln, der rote Hintergrund auf den revolutionären Kampf. Die Farbwahl kombiniert ethnische Identität und revolutionäre Ideologie. Während FARC-Symbolik auf die Transformation des bestehenden Staates verweist, signalisiert die PKK-Symbolik den Aufbau einer staatlich unabhängigen Struktur.

  • Internationaler Kontext: Der FARC-Kampf war mit den post-kalten Kriegslinken Bewegungen Lateinamerikas verbunden, während die PKK in die ethnischen, nationalen und geopolitischen Dynamiken des Nahen Ostens eingebettet ist.

  • Integration nach dem Frieden: FARC wandelte sich nach dem Abkommen in eine politische Partei um und wurde ein legitimer Akteur in der kolumbianischen Politik. In der Türkei hingegen stehen PKK-nahe politische Strukturen (z. B. HDP/DEM) weiterhin in Spannung mit dem Staat, und eine vollständige Integration des bewaffneten Flügels ist bislang nicht erreicht.

Die Friedensinitiativen der Türkei

In der Türkei wird der zwischen 2013 und 2015 durchgeführte „Lösungsprozess“ oft als die umfassendste Friedensinitiative in Erinnerung behalten. Im Gegensatz zum Beispiel Kolumbiens beschränkte sich der türkische Prozess jedoch weitgehend auf Sicherheits- und politische Verhandlungen. Die sozioökonomische Dimension – etwa die direkte Verknüpfung regionaler Entwicklungsprojekte mit politischer Einigung – blieb weitgehend zweitrangig.

Ein weiterer Aspekt ist, dass während des Lösungsprozesses lokale zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler erstellte „alternative Friedensberichte“ größtenteils unberücksichtigt blieben. In Kolumbien hingegen waren Hunderte Vertreter der Zivilgesellschaft als Beobachter oder Berater in die Verhandlungen in Havanna einbezogen. In der Türkei hingegen verlief der Prozess weitgehend hinter verschlossenen Türen, was die gesellschaftliche Mitwirkung schwächte.

Istanbul, Havanna und Belfast

Istanbul: Eine verpasste historische Chance

Der 2015 im Dolmabahçe-Palast verkündete Zehn-Punkte-Konsens stellte die konkreteste Roadmap zur Lösung der kurdischen Frage dar. Die Punkte umfassten zentrale Themen wie Demokratisierung, Anerkennung von Identitätsrechten, Entwaffnung und gesellschaftliche Partizipation. Doch schon kurze Zeit später änderte sich das politische Klima drastisch: Wahlpolitische Dynamiken im Inland, die Syrienkrise im Ausland und wachsende Sicherheitsbedenken machten eine breite gesellschaftliche Akzeptanz des Konsenses unmöglich.

Teile des Staates bezeichneten das Abkommen als „falschen Schritt“ und stellten dessen Legitimität infrage. Die nach Dolmabahçe folgenden Auseinandersetzungen zeigten die Zerbrechlichkeit des Prozesses. Bis heute bleibt der Dolmabahçe-Konsens in der kollektiven Erinnerung als „verpasste Friedenschance“ bestehen und symbolisiert, wie entscheidend gesellschaftliche Beteiligung und politische Entschlossenheit für die Friedenssuche sind.

Havanna: Institutionalisierter Dialog

In Kolumbien führten die Gespräche zwischen Regierung und FARC nach jahrelangen Verhandlungen in Havanna 2016 zu einem Friedensabkommen. Das herausragende Merkmal des Havanna-Prozesses war die starke internationale Garantienstruktur: Norwegen und Kuba spielten eine aktive Rolle, zudem nahm die UN als Beobachter teil.

Darüber hinaus war die breite Beteiligung der Zivilgesellschaft ein entscheidendes Merkmal. Hunderte Vertreter von NGOs, Wissenschaftler, Opferangehörige und Menschenrechtsaktivisten wurden direkt in die Verhandlungen einbezogen. Das unterzeichnete Dokument stellte somit nicht nur einen politischen Kompromiss zwischen Regierung und Organisation dar, sondern trug den Charakter eines umfassenden gesellschaftlichen Vertrags.

Dennoch zeigt das kolumbianische Beispiel: Die Unterzeichnung eines Friedensabkommens garantiert nicht automatisch dauerhaften Frieden. Verzögerungen bei der Umsetzung von Landreformen und ländlichen Entwicklungsprojekten führten zu neuen Konfliktrisiken. Einige FARC-Fraktionen weigerten sich unter dem Namen „Dissidencia“ die Waffen niederzulegen, und in verschiedenen Regionen kam es zu erneuter Gewalt. Dies verdeutlicht, wie Lücken in der praktischen Umsetzung den Frieden schwächen können.

Belfast: Das Karfreitagsabkommen

Das 1998 unterzeichnete Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der IRA, Großbritannien und der Republik Irland und gilt als eines der erfolgreichsten Beispiele moderner Friedensprozesse. Zwei zentrale Faktoren stärkten diesen Prozess:

  • Gegenseitige Garantien: Sowohl London als auch Dublin unterzeichneten das Abkommen und traten als Garanten des Friedens auf. Dies schuf gegenseitiges Vertrauen zwischen den Konfliktparteien in Nordirland.

  • Gesellschaftliches Referendum: Das Abkommen wurde der Bevölkerung Nordirlands zur Abstimmung vorgelegt und mit überwältigender Mehrheit angenommen. Der Frieden wurde so nicht nur zum Ergebnis politischer Eliten, sondern auch zum Ausdruck des Volkswillens.

Das Karfreitagsabkommen beendete den bewaffneten Konflikt weitgehend und legte den Grundstein für eine neue politische Ordnung. Durch das Machtteilungsmodell wurde die politische Repräsentation sowohl der katholischen als auch der protestantischen Gemeinschaft gesichert. Zudem waren die Reform der Polizei, die Stärkung von Menschenrechtsmechanismen und wirtschaftliche Förderprogramme integrale Bestandteile des Abkommens.

Obwohl in Nordirland bis heute gelegentlich politische Blockaden und gesellschaftliche Spannungen auftreten, markiert das Abkommen von 1998 einen historischen Wendepunkt hin zu einem „nachhaltigen Frieden“.

Der aktuelle Friedensprozess der Türkei mit der PKK: Status, Defizite und Notwendigkeiten

Der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK ist seit über vier Jahrzehnten eine der zentralen Herausforderungen für die Innenpolitik und den gesellschaftlichen Frieden. Nach dem Scheitern des Lösungsprozesses zwischen 2013 und 2015 rückten sicherheitsfokussierte Politiken in den Vordergrund, und Friedensinitiativen wurden über Jahre hinweg auf Eis gelegt. Mit Stand 2025 zeichnen sich jedoch neue Entwicklungen ab, die einen markanten Wendepunkt im Verlauf des Prozesses darstellen.

Aktueller Stand

Anfang 2025 rief MHP-Chef Devlet Bahçeli zur Waffenabgabe auf, woraufhin Abdullah Öcalan erklärte, die Waffen zu verbrennen und die Auflösung der Organisation anzustreben. Im Mai wurde auf dem Kongress der PKK beschlossen, den bewaffneten Kampf zu beenden. Diese Entwicklungen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus, dass der jahrzehntelange Konflikt zu einem Ende kommen könnte.

Im türkischen Parlament wurde das „Komitee für nationale Solidarität, Brüderlichkeit und Demokratie“ eingerichtet, um dem Prozess institutionelle Struktur zu verleihen. Die Einbindung verschiedener politischer Parteien stärkt die Legitimität der Friedensbemühungen. Auch die Abnahme von Konflikten in der irakischen Autonomen Region Kurdistan und in Syrien erhöht die Erwartungen an regionale Stabilität.

Defizite

Trotz dieser Fortschritte bleibt der Friedensprozess fragil. Zunächst wurden nicht genügend Maßnahmen zur Herstellung gesellschaftlichen Vertrauens ergriffen. Trotz der Aufrufe zur Entwaffnung dauern Operationen gegen Personen und Institutionen mit PKK-Bezug an, was die Umsetzung des Waffenstillstands vor Ort schwächt.

Zivilgesellschaftliche Organisationen, die Wissenschaft, Frauen- und Jugendorganisationen sind bisher nicht ausreichend in den Prozess eingebunden. Fehlende demokratische Reformen, Mängel in der Verfassung, unzureichender Schutz kultureller Rechte sowie die Nichtverknüpfung regionaler Entwicklungsprojekte mit Friedenspolitiken schwächen die gesellschaftliche Verankerung. Zudem erschwert die mangelnde Transparenz des Prozesses das Vertrauen der Öffentlichkeit.

Erforderlichkeiten für einen nachhaltigen Friedensprozess

Für dauerhaften Frieden ist es unerlässlich, über rein sicherheitszentrierte Politiken hinauszugehen. Zunächst müssen transparente und unabhängige Mechanismen zur Entwaffnung und zur Integration von Organisationsmitgliedern in die Gesellschaft geschaffen werden. Internationale Beobachter sollten in den Prozess eingebunden werden, angepasst an die sozialen Dynamiken der Türkei.

Die aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft, lokaler Verwaltungen und unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen am Friedensprozess ist unabdingbar. Demokratische Reformen müssen vertrauensbildende Maßnahmen in Bezug auf Meinungsfreiheit, politische Repräsentation und kulturelle Rechte enthalten. Regionale Entwicklungsprojekte sollten direkt mit dem Friedensprozess verknüpft werden, um wirtschaftliche Ungleichheiten zu reduzieren und den sozialen Wohlstand zu steigern.

Transparenz und Rechenschaftspflicht müssen in jeder Phase des Prozesses gewährleistet werden, und Mechanismen für Versöhnung und Gerechtigkeit sollten eingerichtet werden, um vergangene Benachteiligungen zu adressieren.

„Dissidencia“: Herausforderungen der Entwaffnung und Integration

Der Begriff „Dissidencia“ beschreibt im Kontext aufgelöster bewaffneter Gruppen die internen Spaltungen, Brüche und Widerstände. Im Fall der PKK stellt die Spannung zwischen Entwaffnenden und Widerständlern nicht nur ein internes Organisationsproblem dar, sondern testet auch die Fähigkeit der Gesellschaft, Frieden zu verankern, und misst die Widerstandsfähigkeit des sozialen Gefüges.

Zentrale Maßnahme ist die Balance zwischen Gerechtigkeit und Mitgefühl. Rechtliche Verantwortlichkeiten der Entwaffnenden dürfen nicht ignoriert werden. Ein rein strafender Ansatz würde jedoch eine Rückkehr zur Radikalisierung begünstigen. Stattdessen sollte ein Ansatz der restaurativen Gerechtigkeit verfolgt werden, der Individuen die Konfrontation mit begangenen Taten ermöglicht und gleichzeitig Mechanismen schafft, die eine Wiederanbindung an die Gesellschaft erleichtern. Dies stärkt das Zugehörigkeitsgefühl und unterstützt die Etablierung einer nachhaltigen Friedenskultur.

Ein weiterer notwendiger Schritt ist die sozioökonomische Integration. Bildungsangebote, Beschäftigungsmöglichkeiten und psychosoziale Unterstützungsprogramme sind entscheidend, damit ehemalige Kämpfer ein neues Leben aufbauen können. Das Fehlen solcher Unterstützungen könnte „Dissidencia“ fördern und ehemalige Kämpfer in soziale Ausgrenzung oder erneute Gewalt treiben. Ebenso ist die Einrichtung von Mechanismen für gesellschaftlichen Dialog und Zeugenschaft von Bedeutung, da die Erfahrungsberichte der Entwaffnenden nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglichen, sondern auch die Entwicklung einer gemeinsamen Friedenssprache für die Zukunft fördern.

Die Integrationsprozesse müssen inklusiv gestaltet sein. Spezielle Programme für Frauen, Jugendliche und ehemalige Mitglieder verschiedener Identitäten sichern die Gleichberechtigung und verhindern die Entstehung einer „sekundären Dissidencia“.

Vermeidung von Fehltritten

Kollektive Bestrafung und Stigmatisierung können dazu führen, dass Entwaffnete als „potenzielle Bedrohung“ wahrgenommen werden, wodurch gesellschaftliche Vorurteile verstärkt und Rückfälle in Gewalt begünstigt werden. Ebenso gefährlich ist es, Widerstand leistende Gruppen lediglich als „marginal“ abzutun; dies kann neue Konfliktformen provozieren.

Die Fokussierung allein auf sicherheitspolitische Maßnahmen ist ebenfalls problematisch. Militärische und polizeiliche Maßnahmen mögen kurzfristige Stabilität schaffen, untergraben jedoch die Entwicklung einer Friedenskultur und den Geist des Prozesses. Wenn die Unterstützungsangebote für Entwaffnete die Gerechtigkeit für die Opfer überschattet, droht eine tiefe gesellschaftliche Gerechtigkeitskrise. Restaurative Gerechtigkeitsmechanismen übernehmen hier eine ausgleichende Rolle, indem sie die Stimmen der Opfer als zentrale Elemente des Friedens integrieren.

Fazit

Der Prozess der „Dissidencia“ ist nicht nur ein Indikator für individuelle Transformation, sondern auch für gesellschaftlichen Wiederaufbau. Sein Erfolg hängt nicht von einer sicherheitszentrierten Perspektive ab, sondern von den Prinzipien Gerechtigkeit, Mitgefühl, Inklusivität und Transparenz. Im Fall der PKK kann die Integration der Entwaffnenden und Widerständler nur unter Beachtung dieser Prinzipien die Grundlage für einen dauerhaften Frieden legen.

Internationale Einflüsse und interne Dynamiken

Im Friedensprozess Kolumbiens übernahmen Länder wie Norwegen und Kuba die Rolle von Garanten, wodurch die Legitimität und Kontinuität der Verhandlungen auf internationaler Ebene abgesichert wurde. In der Türkei hingegen wurde ein derartiger internationaler Garantemechanismus bislang nie etabliert; die Friedensbemühungen verliefen weitgehend im Schatten innerpolitischer Machtverhältnisse. Auch im 2025 wieder aufgenommenen Friedensprozess zeigt sich ein ähnliches Bild: Der Erfolg oder Misserfolg hängt direkt von den innenpolitischen Dynamiken, den strategischen Positionen von Regierungs- und Oppositionsparteien sowie von der gesellschaftlichen Bereitschaft ab, den Frieden aktiv zu unterstützen.

Vor diesem Hintergrund eröffnen sich für die Türkei bedeutende Chancen. Erstens stärkt die Entscheidung der PKK zur Entwaffnung die Sicherheitslage im Land und schafft damit Spielräume für wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung. Gleichzeitig verbessert dieser Schritt das Image der Türkei als friedlicher Akteur in der regionalen Diplomatie und begünstigt konstruktive Beziehungen zu Irak, Syrien und Europa. Auf gesellschaftlicher Ebene kann das Ende des Konflikts die Fähigkeit unterschiedlicher Identitäten, koexistieren zu können, stärken und die Grundlage für eine neue politische Partizipationskultur legen.

Gleichzeitig birgt der Prozess erhebliche Risiken. Das Fehlen internationaler Garanten überlässt die Vertrauensbildung weitgehend gegenseitigen Bekundungen guten Willens, wodurch der Prozess verwundbar bleibt. Kurzfristige innenpolitische Interessen können Friedensschritte instrumentalisieren, während die Dissidencia – also die Entstehung abweichender oder bewaffneter Gruppen – die Sicherheit kontinuierlich gefährden kann. Probleme in der Wahrnehmung von Gerechtigkeit, das Zurückdrängen der Stimmen von Opfern oder ein Mangel an Transparenz könnten ebenfalls die gesellschaftliche Unterstützung für den Friedensprozess schwächen.

Hier bietet das Beispiel Nordirlands wertvolle Lektionen: Im Friedensprozess mit der IRA übernahmen internationale Akteure (z. B. USA und EU) eine aktive Vermittlerrolle, schufen Mechanismen zur Reduzierung von Sicherheitsproblemen und gewährleisteten die Einbindung der Gesellschaft, insbesondere der Opfergruppen, was zur Stabilität und Nachhaltigkeit des Friedens beitrug.

Der 2025 wiederaufgenommene Friedensprozess stellt für die Türkei eine historische Chance dar, ist jedoch gleichzeitig von ernsthaften Bedrohungen umgeben. Sein Erfolg hängt nicht nur von der Entschlossenheit der politischen Führung ab, sondern erfordert auch die Stärkung der gesellschaftlichen Beteiligung, eine erhöhte Transparenz und umfassende Maßnahmen zur Vertrauensbildung.

Gesellschaftlicher Vertrag

Diese drei Erfahrungen zeigen uns eines deutlich: Frieden ist nicht nur der Moment, in dem die Waffen schweigen; er ist ein langer, schwieriger und schmerzhafter Prozess gesellschaftlicher Transformation. Wenn diese Transformation nicht durch gesellschaftliche Teilhabe unterstützt wird, ist es nahezu unvermeidlich, dass die Waffen wieder sprechen. In Kolumbien stellte das Fehlen von „ländlicher Entwicklung“, in der Türkei das Fehlen von „gesellschaftlicher Partizipation“ die deutlichsten Schwachstellen dar, die die Nachhaltigkeit des Friedens bedrohten.

Frieden zu schaffen bedeutet mehr, als ein am Verhandlungstisch unterzeichnetes Protokoll zu erlassen; er ist ein gesellschaftlicher Vertrag, der auf der Straße, im Dorf, in der Schule, an der Universität, in Gewerkschaften und im Parlament ausgehandelt und gelebt wird. Ein Friedensprozess, der nicht alle gesellschaftlichen Gruppen einbezieht und nur von politischen Eliten gesteuert wird, gleicht einer totgeborenen Geburt. Denn das Fehlen von Partizipation erstickt den Frieden bereits vor seiner Entstehung; jede Initiative, bei der die Stimme, das Leid und die Forderungen der Bevölkerung nicht einbezogen werden, mag kurzfristig Hoffnung geben, schafft aber langfristig wieder die Grundlage für Konflikte.

Die Beispiele Kolumbiens, Nordirlands und der Türkei hinterlassen eine klare Lektion: Frieden ist ein Prozess, der über Verhandlungen zwischen Staat und Organisation hinausgeht und durch den gemeinsamen Willen der gesamten Gesellschaft getragen werden muss. Wenn dieser Wille und diese Teilhabe fehlen, mag der Name „Frieden“ bestehen, doch seine Seele ist längst verloren.