Hinweis:
Dieser Artikel wurde erstmals 2004 in der Zeitschrift Yarın veröffentlicht. Akçura ist – ähnlich wie Tevfik Fikret und Abdullah Cevdet – eine Gestalt, die in einer Zeit großer Niederlagen dem „Gavur“ (dem Westen) das Steuer überließ, sich vom islamischen Selbstverständnis distanzierte und, wie es heute modern geworden ist, einen säkularen, ja beinahe islamallergischen Typus verkörpert.
Während der konstitutionellen Periode blieb er am Rande, da er bei den Jungtürken – insbesondere bei Enver Pascha – keinen Rückhalt fand. Nach dem Vertrag von Lausanne, als das republikanische, anglo-frankophone Regime etabliert wurde, versuchte Akçura, mit einer Definition des „Türken“, die den westlichen Vorstellungen gefiel, Anschluss an den Kemalismus zu finden, erhielt jedoch letztlich nicht die erhoffte Anerkennung. So hat der Türkismus Akçuras – also die Bedeutung, die er dem Begriff Türke verlieh – einen Inhalt angenommen, der sich weit von dem entfernt hat, was er 1904 schrieb.
Doch da es in diesem Artikel nicht um ideologische Inhalte, sondern um eine strategische Richtungs- und Weichenstellung geht, hielten wir es für lohnend, einen offenen Brief zu verfassen.
Wir legen Ihnen diesen kritischen Beitrag, den wir zum hundertjährigen Jubiläum von Üç Tarz-ı Siyaset erneut veröffentlichen, mit diesem Hinweis vor.
(Ahmet Özcan)
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Namık Kemal
Wenn das Volk erniedrigt wird, glaub nicht, dass sein Ruhm verblasst;
Ein Edelstein verliert durch den Sturz zu Boden nichts an seinem Wert.
Die Helfer der Tyrannen sind die wahrhaft Gemeinen auf Erden;
Wie Hunde finden sie Vergnügen im Dienst an gewissenlosen Jägern.
Mag das Schicksal alle Mittel der Pein zusammenführen –
Wenn ich wanke im Dienst des Volkes, sei ich ehrlos genannt.
O Freiheit, wie zauberhaft bist du doch!
Wir wurden Gefangene deiner Liebe –
doch haben wir uns befreit aus der Knechtschaft.
Sehr geehrter Yusuf Akçura,
Ich frage mich: Ist es ein Jahrhundert her — oder sind es neunundneunzig Jahre? Was ist das Geheimnis dafür, dass Ihr 1904 in der ägyptischen Zeitschrift Türk erschienener Aufsatz bis heute seine Aktualität bewahrt? Liegt es am Inhalt, an den gestellten Fragen, an der von Ihnen angedeuteten „neuen Richtung“? Der französische Philosoph G. Delauze schreibt in Was ist Philosophie?, dass die Philosophie des antiken Griechenlands mit dem Schöpfen von Begriffen begann; damals nämlich wurden auf griechischen Tafeln Dinge „bezeichnet“, die in Ägypten, Mesopotamien, Iran oder Indien längst bekannt waren. So verortet sich Denken über Begriffe und die Philosophie, also das „Denken des Ungedachten“, entsteht. Hat Ihr Aufsatz Üç Tarz-ı Siyaset seine Bedeutung deshalb behalten, weil er erstmals dem Bekannten einen Namen gegeben hat?
Osmanismus, Islamismus und Turkismus … dass Sie neben den ersten beiden erstmals auch Türkülüğ (Türkentum) als Alternative ins Spiel brachten, ist natürlich bedeutsam. Doch die Art und Weise, wie Sie diese Fragen angehen — nüchtern, objektiv und unter realistischer Abwägung jeder Option — war in unserer Denktradition damals etwas Neues. Dafür gebührt Ihnen Anerkennung: Üç Tarz-ı Siyaset ist nicht nur für seine Entstehungszeit bedeutsam, sondern stellt eine „theoretische Technik“ dar, die auch heute noch Bedeutung hat: Welche Wahlmöglichkeiten existieren? Was sind Vor- und Nachteile, Realisierungschancen, Schwierigkeiten und Risiken? Kurz und prägnant — natürlich für Fachkundige — diskutiert Ihr Text diese Fragen. Vielleicht hat mich genau diese „technische“ Gesprächsweise so angesprochen, weil wir sie lange verloren haben.
Erlaube mir noch eine Anmerkung zu Ihrer Biographie: In Kazan in eine wohlhabende Familie hineingeboren, nach dem Tod Ihres Vaters nach Istanbul gezogen, während der Offiziersschule Kontakt zu den Jungtürken gehabt und ins Exil geschickt, in Frankreich politische Geschichte studiert und später Übernahme der Fabriken Ihres Onkels in Kazan — und doch, wie Sie selbst sagen, konnten Sie nicht damit leben, „dass einige viel gewinnen, während andere viel verlieren müssen“, sodass Sie 1908 nach der Proklamation der Verfassung ein idealistischeres Leben wählten und nach Istanbul zurückkehrten. Diese Lebensgeschichte — die für viele Ihrer Zeitgenossen durchaus typisch erscheinen mochte — wirkt auf mich heute, zumindest im Rahmen dieses Briefwechsels, sehr eindrucksvoll. Denn auch jene, die Ihre türkisch-nationalen Ideen teilen, betrachten Idealismus heute nicht mehr als „rentabel“, „profitabel“ oder auch nur „realistisch“. Nichts ohne weltlichen Nutzen begeistert die Menschen mehr. Vielleicht haben sie recht — die Geschichte wird ja von Idealisten geplant und von Realisten geerntet; jeder wählt seinen Weg im Wissen darum.
Sehr geehrter Herr Akçura,
Bevor ich auf den Inhalt Ihres Aufsatzes eingehe, muss ich noch einen Punkt ansprechen: Leider stehen wir auch nach Ihnen im Wesentlichen immer noch am selben Ort. Wir haben unsere Art der Politik nicht gewählt. Wir verharren permanent an einer Weggabelung. Wir besitzen ein bescheidenes Stück Land auf dieser Erde und halten es mit Zähnen und Klauen, damit man es uns nicht entreißt — so warten wir. Tage verstreichen, Zeit wird überbrückt, und außer dieser kleinen Schonfrist unternehmen wir kaum ernsthafte Handlungen. Missverstehen Sie mich nicht: Wir sind nicht sonderlich ruhig oder glücklich. Aus relativ leichten Problemen haben wir Trennungen und Konflikte von ungewöhnlicher Schärfe erzeugt; wir ringen miteinander. Wir haben all unsere boshaften Neigungen nach oben gespült, all unsere guten Tugenden mit Füßen getreten. Wir hassen uns selbst, kriechen einander zu Willen bloß, um bei anderen gut anzukommen. Berühre man uns, zerspringen wir; berühre man uns, verlieren wir noch mehr; berühre man uns, werden wir weinen …
Wie viele gute Söhne haben wir für vergebliche Kämpfe hingegeben, wissen Sie. Wie viele Tapfere haben wir falschen Götzen geopfert … Nun töten sie unsere Kinder ohne Kampf; sie opfern ihre Seele, ihre Persönlichkeit, ihre Hoffnung — und wir nehmen es hin. Wir sagen uns: Ach, wäre es doch wie früher, wenigstens würden sie für eine Sache leben und, wenn auch unecht, kämpfend sterben. So ginge ihr Verlust leichter zu ertragen …
Fast fünfzig Jahre verharren wir so, Herr Akçura. Ohne Kompass, ohne Richtung, gleichgültig dem Leben ergeben. Woran wir uns binden, daran verharren wir. Der Staat ist bei den Westlern „gefangen“, und wir sind dem Staat als „Geisel“ verfallen. Mal stellen wir uns, mal ergeben wir uns. In jedem Fall leben wir in einem Netz aus Geiselverhältnissen. Für Geld geben wir unsere Persönlichkeit preis, um Macht unsere religiösen Überzeugungen, für Aufstieg unsere Seelen. Sie werden es nicht glauben: In der Geschichte unserer Sache wissen wir nicht einmal genau, was wir den Engländern neben unserer Religion noch verpfändet haben, um Staat und Boden zu retten. Die, die es wissen, schlagen uns bei jeder Gelegenheit mit sinnlosen Vorwänden. „Schweigt, sitzt, redet nicht, denkt nicht, begehrt nicht“, sagen sie uns.
Wir haben unseren Weg nicht verfehlt, wir haben nur keinen Weg gewählt, Herr Akçura. Wir haben nach wie vor keine Richtungspolitik. Aber wir haben Wahlmöglichkeiten.
Anfang des 20. Jahrhunderts, als Sultan Abdülhamids Herrschaft den Zerfall hinauszögerte, stand die Tagesordnung zwischen dem Bewahren des Vorhandenen (Osmanismus), dem Einschlagen eines neuen Weges (İslamismus und Turkismus). Waren wir denn nicht ohnehin Osmanen, Muslime und Türken? Natürlich gab es Kritik an Ihnen mit dem Einwand „Wir waren doch so.“ Aber damals — so glaube ich — verstanden viele nicht, in welchem Sinne Sie diese „Optionen“ meinten.
Das müssen wir zuerst klären. Diese „tarz-ı siyaset“ werden als Außenpolitik diskutiert, als jene Politik, die das Dasein und das Fortbestehen des Staates sicherstellen soll. Niemand, weder Sie noch andere in Ihrer Debatte, hatte die Absicht, die religiöse oder ethnische Herkunft der Beteiligten in Frage zu stellen. Ich erwähne das, weil wir seit Ihrer Zeit viel von jener „theoretischen Technik“ eingebüßt haben: Unsere Fähigkeit, Äpfel von Birnen zu unterscheiden, ist verkümmert. Deshalb vermengen wir etwa eine Politik, die dem Erhalt von Existenz und Bestand dient, mit deren Verneinung. Wenn wir die Politik des „İslamcılık“ aufgeben, drohen wir, auch unsere Muslimität aufzugeben; wenn wir vom Türkçülük ablassen, versuchen wir, die türkische Identität auf „außer-türkische“ Merkmale zu bauen. Seit wir die Osmanlılık verworfen haben, schimpfen wir auf alles Osmanische. Dabei sind wir — ob wir wollen oder nicht — „Osmanen“, „Muslime“ und „Türken“. Für den durchschnittlichen Westeuropäer sind wir, was immer wir tun, Nachfolger des Osmanischen Reichs; selbst der überzeugteste Atheist von uns gilt als „Muslim“, unser Kurd, Albaner oder Tschetschene gilt als „Türk“ — so sind wir eben. Diese drei Eigenschaften sind sozusagen unser „WASP“: grundlegend und außerhalb der Debatte. Wenn wir von Existenz, Fortbestand, Staat, Nation und Heimat sprechen, so meinen wir stets das „verborgene Wir“, das diesen Kategorien zugrunde liegt. Unsere Muslimität steht in Gegensatz zum Christentum, unser Türkentum im Gegensatz zum „Gavur“-sein, unsere Osmanlılık im Gegensatz zum Europäer-Sein. Doch da wir unfähig sind, uns auszurichten — vielleicht weil wir die Technik des Auswählens verloren haben —, haben wir es geschafft, Muslimsein gegen Westlichkeit, Türksein gegen Kurdtum, Osmanlılık gegen die republikanische Periode auszuspielen und zu konfligieren. Das Ergebnis: Wir haben weder eine ausgewogene Westpolitik noch eine konsistente Modernisierungspolitik hervorgebracht; unsere muslimische, türkische, kurdische und andere Teilidentitäten sind verwundet worden.
Diese Verwirrung haben wir am stärksten bei der Verwestlichung erlebt, Herr Akçura. Letztlich war Verwestlichung als Sicherheits- und Staatsstrategie gedacht: so werden wie der Westen, um zu stärken und im Falle eines Angriffs mit ähnlichen Mitteln gewappnet zu sein. Doch wir haben diese Strategie bis zur Selbstvernichtung in Zivilisation, Religion und Identität getrieben. Die Alternative zur Verwestlichung wäre ‘Veröstlichung’ gewesen, die Antithese der Moderne eine vormoderne agrarische Zivilisation; die Alternative zu Europa wäre Amerika oder Russland — und wir mischten in diese Apfelentscheidungen beständig Birnen hinein. Wir machten unsere Religion in jeder Hinsicht zum Wettbewerbsgegenstand: mal war der Islam die Alternative zum Westen, mal war er der Gegenentwurf zur Moderne, zur Laizität, zur Demokratie, zur Republik … Statt den Islam als kritische Perspektive auf bestimmte Systeme zu deuten — nicht als simple „Alternative“ — haben wir ein ganzes Jahrhundert damit verbracht, ihn zu einem Müllplatz für allerlei Dogmen, Ritualismen und Unterwerfungsordnungen zu machen. Am Ende profitierten wir nicht, während England, Deutschland und Amerika, die das Instrument Religion als politisches Werkzeug seit den Zeiten missionarischer Praxis gut kannten, uns — und im Kalten Krieg besonders Russland — zu ihrem Vorteil nutzten. Gerade das, was Sie „İslamismus“ nannten und wovon Sie sagten, es könne mittelfristig und langfristig möglich werden (auch wenn es England erzürnt hätte), wurde von den Westmächten in der Praxis gefördert. Wir rangen in jener Zeit zwischen „Wie werden wir westlich und verlassen den Islam?“ und „Wie werden wir vom Westen unabhängig und wieder bessere Muslime?“ — ein Wettstreit, der uns zerrissen hat. Nach all diesen Erfahrungen bin ich unsicher, ob wir gelernt haben, dass die Abkehr vom Islam weder westlich macht noch schützt — im Gegenteil: Wir wurden sowohl in Augen der Gläubigen als „Kafir“ als auch gegenüber den Westlern oft nur als naive Opfer wahrgenommen. Haben wir wirklich verstanden, dass wahres besseres Muslimsein nicht durch bloße politische Orientierung, sondern durch die Treue zu Werten wie Gerechtigkeit, Beistand der Unterdrückten, Ablehnung von allem, was Menschen schadet, und durch moralische Aufrichtigkeit erreicht wird? Ich bin mir nicht sicher.
Offen gesagt, Herr Akçura, in diesen Fragen haben unsere einfachen Menschen – also das Volk – irgendwie ihren Weg gefunden; sie besitzen ein gewissermaßen vernünftigeres und wirklichkeitsnäheres Wahrnehmungsniveau.
Doch gerade unter jenen, die behaupten, diese Themen am besten zu verstehen – den Intellektuellen, Gelehrten, Denkereliten – herrscht Verwirrung.
Seit jeher lernen wir schon in der Oberschule die einfachsten Regeln der Logik: Kategorien, Urteile, Beweis und Widerlegung.
Aber bei den Gebildetsten unter uns findet man davon keine Spur.
Am Ende nennt unser Volk den Apfel Apfel, die Birne Birne – und lebt friedlicher.
Doch dank dieser Allwissenden mangelt es uns nie an künstlichen, kategorisch unvereinbaren Streitigkeiten: islamisch–laizistisch, alevitisch–sunnitisch, kurdisch–türkisch, EU-befürwortend–EU-ablehnend und viele weitere.
Ich will nicht missverstanden werden – ich beabsichtige weder Fehlinterpretationen noch Feindschaft gegen Intellektuelle oder Wissen.
Ich möchte lediglich andeuten, dass die Pathologie, die wir erleben, letztlich nicht gesellschaftlicher, sondern elitärer Natur ist – und daher heilbar, gerade weil sie sich nur auf der Ebene der Eliten abspielt.
Wäre auch nur einer der Konflikte, die wir in den letzten fünfzig Jahren erlebt haben, tatsächlich aus dem Volk hervorgegangen, dann gäbe es wohl kein Land namens Türkei mehr!
Der arabischstämmige Denker Abdallah Laroui sagt:
„Früher schrieben wir als Ideologen und Soziologen den Gesellschaften vor, wie sie leben und was sie tun sollten.
Heute versuchen wir, die Gesellschaften zu verstehen, um daraus zu erkennen, was wir tun müssen.“
Das bedeutet, wir müssen endlich aufhören, weiterhin den Preis für die künstlichen Agenden jener Eliten zu bezahlen, die vom Volk abgetrennt leben und doch versuchen, es zu formen.
Herr Akçura,
wenn Sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts die „drei Arten der Politik“ (Üç Tarz-ı Siyaset) analysieren, kritisieren Sie zuerst den Osmanismus.
Nach Ihrer Auffassung bedeutete die osmanistische Politik der Tanzimat-Epoche: „eine Nation nach amerikanischem Muster zu schaffen, um die alten Grenzen zu bewahren.“
Sie schreiben, dass diese Politik in der Zeit Mahmud II. entstanden, durch Ali und Fuad Pascha umgesetzt wurde und sich auf das französische Nationsverständnis der Revolution sowie die politische Unterstützung Napoleons III. stützte.
Nach dem Sieg Preußens im Französisch-Preußischen Krieg (1870–71) gewann jedoch das deutsche, rassenbasierte Nationskonzept an Gewicht, und das französische Modell verlor seine politische Wirkung.
Sie bezeichnen die Ermordung Mithat Paschas als das historische Ende des Osmanismus.
Ab diesem Zeitpunkt, schreiben Sie, trat – eigentlich schon unter Abdülaziz begonnen und von Abdülhamid II. in die Tat umgesetzt – die zweite politische Richtung auf: der Islamismus.
Diese Strategie, die auf die politische Unterstützung Wilhelms II. und auf die Schwächung des englischen Einflusses zielte, wurde auch von den ursprünglich osmanisch denkenden Jungosmanen übernommen.
Sie betonen, dass diese Politik die Feindseligkeit Europas gegenüber den Türken verstärkte und zugleich die nichtmuslimischen Elemente im Innern zur Trennung ermutigte.
Sie fügen jedoch hinzu, dass der Islamismus langfristig dennoch eine realisierbare und reale Politik sei.
Drittens analysieren Sie den Turkismus, den Sie noch als „eine Idee“ bezeichnen, und stellen fest, dass er mit der wachsenden Beziehung zu Deutschland aufkam.
Sie erklären, dass Ihre persönliche Neigung – auch wenn sie Russland erzürnen könnte – auf der Seite des Turkismus steht.
Schließlich beenden Sie Ihren Artikel mit der Feststellung, dass man sich zwischen Islamismus und Turkismus entscheiden müsse.
Aus dieser von Ihnen gezeichneten Tafel ergibt sich, dass das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert England als verdeckte Bedrohung betrachtete und daher zunächst durch den Osmanismus Frankreich näher trat;
als sich jedoch Frankreich im Kampf gegen das aufsteigende Deutschland England annäherte, verlagerte sich die osmanische Außenpolitik auf die deutsche Achse – gegen beide.
Russland, der ewige Feind, konnte demnach nur durch Deutschland ausgeglichen werden.
Unter diesen Umständen wird die strategische Bedeutung des Islamismus und Turkismus während des Ersten und Zweiten Weltkriegs noch deutlicher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, wie bekannt, gingen die „Eigentumsrechte“ beider Politiken auf die USA über, und ihr Ziel richtete sich nun gegen Russland.
Dass diese von Ihnen 1904 als praktikabel angesehenen Politiken durch das Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) ein letztes Mal versucht und erfolglos beendet wurden, muss ich kaum erwähnen.
Die große Aktionsperiode des Teşkilat-ı Mahsusa, die darin bestand, die britischen Kolonien durch muslimische Aufstände in Brand zu setzen, endete mit dem Verrat des Scherifen von Mekka.
Als das bolschewistische Russland 1921 ein Abkommen mit England schloss, beendete dies auch Enver Paschas Versuch, Turan aufzuwiegeln.
Wir haben den Schock und die Wut dieser beiden Enttäuschungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts auf staatlicher Ebene bis heute nicht völlig überwunden.
Mustafa Kemal formte – als Ergebnis dieser Ernüchterung – die Republik auf einem realistischeren Fundament, innerhalb unserer heutigen Grenzen und auf einem neuen Weg.
Islam und Türkentum wurden aus der Außenpolitik herausgelöst, in einem völlig anderen Zusammenhang neu interpretiert und in die neue Republik „eingebettet“.
Zugleich wurden Maßnahmen getroffen, um zu verhindern, dass sie wieder Teil der gegen uns gerichteten Strategien des Auslandes werden – sie wurden also „vorläufig“ aufgegeben.
Schließlich wurden alle drei Arten der Politik – Osmanismus, Islamismus und Turkismus – zwar einzeln überwunden, jedoch innerhalb der neuen Grenzen und des neuen Regimes neu gedeutet und zum Bindemittel der neuen Nation gemacht.
Als schließlich auch diese letzten Linien unseres großen, tragischen Rückzugs verschwanden, blieb uns nur noch eine andere, auf Sicherheit beruhende Politik: die Verwestlichung.
Diese Politik, die in den ersten zehn Jahren der Republik die Funktion der „Sammlung“ übernahm, verwandelte sich in den folgenden Jahrzehnten in eine neue Form des Tanzimat – eine Politik des Identitäts- und Zivilisationswechsels, die unsere inneren Dynamiken schwächte.
Am Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir:
Die Verwestlichung ist nicht beendet, weil wir einen neuen Weg eingeschlagen hätten, sondern weil sie ihre logische Grenze erreicht hat – ihr Ziel, ihren „Zweck“, erfüllt hat.
War sie erfolgreich? Natürlich nicht.
Denn ein Apfel kann keine Birne werden.
So ist die Verwestlichung leise verschwunden, hinterließ aber neue Widersprüche und Probleme.
Von einer einheitlichen Verwestlichung kann man heute nicht mehr sprechen – wohl aber von Modernisierung, europäischer Integration (EU) oder amerikanisch geprägter sicherheitspolitischer Abhängigkeit.
Diese Varianten des „Westlichseins“ werden uns noch begleiten.
Das ist entscheidend:
Mit dem Ende der Verwestlichung ist auch der künstliche Ersatz früherer politischer Richtungen verschwunden – und wir stehen wieder an demselben Punkt wie vor hundert Jahren.
Als Volk, als Staat, als Nation müssen wir uns erneut fragen:
Was wird unsere politische Strategie sein?
Wie gestalten wir die ökonomisch-politische Ordnung, die dazu passt?
Was ist unser Weg, unsere Richtung, unsere Linie?
Wohin – und warum – werden wir gehen?
Die Frage steht wieder vor uns.
Und sie wartet auf eine Antwort.
Sehr geehrter Herr Akçura,
An dem neuen Scheideweg, an dem wir uns heute befinden, scheint es – ganz wie in Ihrer Zeit – im Wesentlichen wieder drei Optionen zu geben:
1) Der Nationalismus:
Diese Option gleicht im Kern dem Osmanismus Ihrer Epoche: Sie besteht darin, das Bestehende zu bewahren und auf jede neue oder alternative Möglichkeit mit bloßer Reaktion zu antworten. Gegenwärtig tritt sie in zwei Fraktionen auf: als links-kemalistische und als türkistische.
Die links-kemalistische Fraktion zeigt sich nach außen als antiglobalistisch, nach innen jedoch als dogmatisch und totalitär; sie stellt im Grunde eine Art Kult des Status quo dar. Da sie mit dem offiziellen Panzer staatlicher Autorität ausgerüstet ist und mit weiten Teilen der Gesellschaft inkompatibel bleibt, verhält sie sich mitunter aggressiv und verschließt sich jeglicher Überzeugungs- oder Dialogbemühung – ein Verteidigungsideologem ohne Substanz.
Die türkistische Fraktion hingegen versucht, ihre Abhängigkeiten und Gewohnheiten aus der Zeit des Kalten Krieges neu zu beleben. Sie scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sie mit all ihren bekannten Thesen und ihrem intellektuellen Niveau – von der Behauptung, die Sumerer seien Ur-Türken, bis hin zu den plumpen „Kart-Kurt“-Narrativen – zu den eigentlichen Hindernissen eines echten Nationalisierungs- und Nationbildungsprozesses gehört.
Außenpolitisch trägt sie – ganz wie in Ihrer Epoche – ein Avrasyacılık-Narrativ (eurasisches Konzept) vor, das im Grunde als eine von den amerikanisch-britischen Achsenmächten instrumentalisierte Ideologie in Mittelasien verstanden werden kann, als eine Art Stellvertreterdoktrin des Turanismus.
Der Nationalismus stellt somit, in beiden Fraktionen, weniger eine positive Alternative dar als vielmehr ein Sammelbecken gefährlicher Abenteuer, Subunternehmungen und Konfliktdynamiken – sowohl im Inneren als auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
Darüber hinaus ist sein ständiger Streit mit der Religion oder der Ethnizität ein Zeichen dafür, dass er weder wirklich national noch wirklich eurasisch ist – und seine Sicht auf Eurasien, die aus atlantischer Perspektive erfolgt, lässt an seiner Authentizität zweifeln.
Diese Option ist daher weniger eine der möglichen Alternativen unseres Landes als vielmehr ein paratoner, ein Blitzableiter, der die echten Alternativen blockiert und neutralisiert.
Ich glaube, Herr Akçura, von diesem Weg führt nur eine einzige Straße weiter – und sie endet im Faschismus.
2) Europäismus:
Diese politische Richtung trägt zwar den Anspruch in sich, die Türkei in die Europäische Union zu führen, doch je unwahrscheinlicher ein solcher Beitritt wird, desto deutlicher offenbart sie sich als eine operative Option mit wechselnden Missionen und Bedeutungen. Innerhalb dieses Lagers lassen sich drei Fraktionen erkennen:
Die erste agiert mit der Mission einer Lobby Europas in der Türkei; sie versteht sich als Mittlerin europäischer Interessen und Werte – oftmals mehr als Übermittlerin denn als eigenständige Akteurin.
Die zweite Fraktion bewegt sich innerhalb der Achse USA–Großbritannien–Israel und bildet einen indirekten Bestandteil des Projekts, die EU zu schwächen oder, falls dies misslingen sollte, sie zu umzingeln. Diese Gruppe, die sich „Pro-EU“ gibt, ist in Wahrheit die militanteste und skrupelloseste Fraktion des Europäismus.
Die dritte besteht aus jenen, die außerhalb dieser strategischen Kalküle stehen und sich – wohl in naiver Hoffnung – von der EU-Mitgliedschaft Befreiung von der Militär- und Zivilbürokratie sowie von den großen Konzernen erhoffen: eine Mischung aus gutgläubigen Liberalen, Linken und kurdischen Befürwortern, die glauben, mit dem Beitritt würden Menschenrechte und Wohlstand automatisch einkehren.
Der Europäismus ist für uns keine ernsthafte Alternative – und dennoch wird er fast als die einzige ernstzunehmende Möglichkeit präsentiert. Er ist zugleich die lauteste und oberflächlichste Variante des politischen Diskurses, dessen Wesen letztlich darin besteht, die Türkei zu beschäftigen, Zeit zu verlieren, anderen zu gefallen und Gesetze im Parlament zu ändern.
Ich bin der Überzeugung, Herr Akçura, dass selbst wenn Europa die Türkei eines Tages mit stehenden Ovationen empfangen und als Mitglied aufnehmen sollte, diese Haltung – der Europäismus – ein Maß an Würde- und Charakterlosigkeit voraussetzt, das ihn unhaltbar macht.
In Wahrheit ist der Europäismus nichts anderes als eine neue Form des Tanzimatismus, also jener Reformgesinnung, die sich in Anpassung und Unterordnung erschöpft. Und von diesem Weg, Herr Akçura, führt wohl nichts anderes als eine neue Phase der Auflösung und Entfremdung.
3) Eurasismus:
Wenn man die heutigen politischen Koordinaten betrachtet, scheint diese Richtung – der Eurasismus – die realistischste der drei Optionen zu sein. Ihre Entstehung verdankt sie weniger einem inneren geistigen Wandel, sondern vielmehr einer geopolitischen Notwendigkeit.
Die Vorstellung eines eurasischen Raumes – von Lissabon bis Wladiwostok, von Istanbul bis Schanghai – ist nicht neu. Neu ist jedoch, dass sich die Türkei nach einem Jahrhundert der Westbindung gezwungen sieht, diesen Raum als Alternative wahrzunehmen, nicht als exotische Idee.
Im Gegensatz zum Europäismus, der sich auf Illusionen stützt, und zum Islamismus, der in moralischer Rhetorik erstarrt, wurzelt der Eurasismus in Realpolitik. Seine Grundlage ist die Einsicht, dass Macht nicht moralisch, sondern geographisch definiert wird.
Allerdings bleibt der türkische Eurasismus eine schwache, zerbrechliche Bewegung – ohne festen intellektuellen Kern, ohne klare gesellschaftliche Basis. Seine Träger sind ehemalige Ulusalcılar, post-sowjetische Romantiker, und eine Handvoll realistischer Bürokraten, die in der neuen Weltordnung eine Chance wittern, zwischen Moskau und Peking zu manövrieren.
Doch auch hier, Herr Akçura, besteht die Gefahr, dass diese Richtung – anstatt zu einer eigenständigen strategischen Haltung zu werden – bloß ein Reflex bleibt, ein anti-westliches Trotzverhalten ohne innere Kohärenz.
Wenn der Eurasismus ein tragfähiger Weg werden soll, dann darf er nicht nur aus Ablehnung entstehen, sondern aus einer bewussten Neudefinition dessen, wer wir sind und wohin wir gehören. Andernfalls bleibt er ein Gegenschatten des Westens – nicht seine Alternative.
Hundert Jahre sind vergangen, Herr Akçura.
Wir drehen uns immer noch im selben Kreis, auf derselben Achse von Abhängigkeit und Illusion. Das, was Sie als „drei politische Richtungen“ beschrieben haben, ist wiedergekehrt – nur in neuen Gewändern, mit neuen Parolen, aber mit derselben geistigen Müdigkeit.
Heute stehen wir erneut vor denselben Fragen:
Sollen wir uns dem Westen anschließen und seine Lasten tragen?
Sollen wir uns auf den Islam berufen und dabei in romantischer Nostalgie verharren?
Oder sollen wir uns dem eurasischen Raum zuwenden, ohne zu wissen, ob dieser Raum uns aufnimmt oder verschlingt?
Der Preis für die Bindung an den Westen könnte diesmal höher sein.
Denn der Westen selbst ist nicht mehr derselbe – er verliert seine moralische Autorität, seine wirtschaftliche Stabilität, seine innere Einheit.
Und während Europa mit Identitätskrisen und Energiearmut kämpft, verliert die Türkei mit jeder „Integration“ ein Stück ihrer eigenen Realität.
Vielleicht, Herr Akçura, liegt die eigentliche Aufgabe heute nicht darin, eine dieser Richtungen zu wählen, sondern eine neue Sprache zu finden – jenseits der importierten Kategorien, jenseits der ewigen Reaktionen.
Eine Sprache, die weder „Westbindung“ noch „Orientalismus“ ist;
eine Sprache, die nicht fragt, wohin wir gehören, sondern was wir sein wollen.
Wenn das gelingt,
dann wird Ihr „Üç Tarz-ı Siyaset“ – statt ein Text vergangener Ohnmacht zu bleiben –
zu einer Landkarte der Befreiung.
*Üç Tarz-ı Siyaset (Drei Arten der Politik), Yusuf Akçura, Türk Tarih Kurumu Basımevi, Ankara, 1976.
Quelle: Açık Mektuplar (Offene Briefe), Ahmet Özcan, Yarın Verlag, Istanbul, 2008.
