Seit einem Jahrhundert wird darüber gestritten: Was ist das Erbe des Osmanischen Reiches, und wie prägt es die Gegenwart? Diese Frage ist nicht nur akademisch – sie betrifft regionale Interessen, globale Machtverhältnisse und die Ängste, die unter dem diplomatischen Tisch verborgen liegen. Netanjahus „wird nicht zurückkehren“ ist mehr als Rhetorik. Es ist eine Warnung – gerichtet an die Türkei, die dabei ist, wieder ein regionales Zentrum zu werden, die unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen unter einem Dach vereinen will, die das tausendjährige Band der Brüderlichkeit erneuert.
Denn Netanjahu weiß: Je mehr es der Türkei gelingt, den Terror aus ihrem Land zu vertreiben, Türk:innen, Kurd:innen und Araber:innen – durch tausend Intrigen entzweit – wieder Schulter an Schulter zu vereinen, den Geist von Jerusalem, den Mut von Malazgirt, den Widerstand von Çanakkale zu beleben – desto mehr verändert sich das Schicksal der Region. Und dieser Wandel entzieht vielen kleinen Machtspielen die Grundlage, entlarvt künstliche Grenzen als bedeutungslos.
Just in den Tagen, in denen Netanjahus Worte widerhallten, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf der 32. Konsultations- und Bewertungstagung seiner Partei Sätze, die in das Gedächtnis des Volkes und in die Bücher der Geschichte eingehen werden:
„Heute ist ein neuer Tag. Heute ist eine neue Seite in der Geschichte aufgeschlagen worden. Heute stehen die Tore der großen, starken Türkei, des türkischen Jahrhunderts, weit offen.“
Vielleicht weiß Netanjahu es nicht: Das Osmanische Reich war ein Imperium, ja – aber dahinter stand etwas Tieferes: der Geist, der es zusammenhielt. In diesem Land sieht niemand das Osmanische Reich bloß als politische Struktur. Es war der Geist der Brüderlichkeit, der sich aus Salah ad-Dins Eroberung Jerusalems, aus der fruchtbaren Ebene von Malazgirt, aus den zerstörten Höfen Andalusiens herabsenkte.
Der große türkische Denker Cemil Meriç sagte einst:
„Geschichte ist in Wahrheit das Gedächtnis eines Volkes. Ein Volk, das sein Gedächtnis verliert, verliert sich selbst.“
Was Netanjahu mit „wird nicht zurückkehren“ meint, ist genau dieses Gedächtnis. Doch dieses Volk hat unzählige mongolische Invasionen, Kreuzzüge und Besetzungen überstanden – es hat vielleicht seine Erde verloren, aber niemals seine Erinnerung. Denn dieses Volk weiß: Der Körper mag fallen – aber der Geist steht immer wieder auf.
Heute ist das Gebet eines alten Palästinensers im Hof der Al-Aqsa-Moschee nicht anders als die erhobenen Hände eines Bauern im Morgengrauen eines Bergdorfs bei Erzurum. So wie Türken, Kurden und Araber einst Schulter an Schulter in Salah ad-Dins Armee kämpften, so schweißt sich heute diese Region wieder zu einer Kette zusammen.
Netanjahus größte Angst ist genau das: Dass sich die Kette der Brüderlichkeit von Jerusalem bis Istanbul, von Aleppo bis Sarajevo wieder schließt.
Wenn Erdoğan in seiner historischen Rede vom „Jerusalem-Bündnis“ sprach, dann versprach er vielleicht keine neue Karte – aber er rief einen Geist wach, der die künstlichen Grenzen alter Karten überwindet. Und wenn sich Seelen erst einmal verbinden, können weder Panzer noch Kanonen diese Einheit zerstören.
Der Wiederaufstieg eines Volkes geschieht nicht nur durch glorreiche Siege – sondern auch durch die ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern. Präsident Erdoğans Worte von einem „terrorfreien Türkei“ sind Ausdruck dieser Selbstreflexion.
Die Schande des Gefängnisses von Diyarbakır, die Kälte der weißen Toros-Wagen, der Schatten der ungeklärten Morde – all das raubte zahllosen Kindern den Schlaf, zerriss viele Mütterherzen.
Es gibt keinen edleren Akt als den, wenn ein Volk seine eigenen Fehler eingesteht. Als Erdoğan sagte: „Wir haben den Preis unserer Fehler gemeinsam bezahlt“, verkündete er damit das Ende einer Epoche. Denn ein Volk, das seinen inneren Frieden nicht findet, kann weder wirtschaftlich wachsen noch gehört werden. Während die Türkei aus der Asche des Terrors neu ersteht, schwört sie nicht nur den Terroristen den Kampf an – sondern auch den Brunnen der Zwietracht, die sie nährten.
Geschichte ist für uns nicht nur Wissen; sie ist eine große Schule der Politik.
Malazgirt war nicht nur eine Schlacht auf dem Feld, sondern ein Bund der Brüderlichkeit, der die Tore Anatoliens öffnete. Die Eroberung Jerusalems unter Salahaddin war ein gemeinsamer Sieg der türkischen, kurdischen und arabischen Armeen. Die Verse, die in die Mauern Istanbuls eingraviert sind, waren das Geheimnis, das das Verständnis dieser Nation von Eroberung von der westlichen Besatzung unterschied.
Und Çanakkale… Çanakkale ist das Aufleben des Bodens gegen die modernen Waffen von Engländern, Franzosen, Zionisten und Anzacs. Es ist ein Wille, bei dem Mehmed aus Diyarbakır und Hasan aus Edirne in derselben Schützengraben liegen, Araber, Lazen und Georgier Schulter an Schulter stehen und die Flotte des Imperialismus im Bosporus versenken.
Netanjahu kennt diesen Willen genau. Deshalb titelt die israelische Zeitung Hayom: „Erstmals seit dem Osmanischen Reich strebt die Türkei nach regionaler Vorherrschaft.“ Denn wann immer diese Region mit ihrer eigenen Brüderlichkeit Frieden schließt, geraten die Weltmächte ins Wanken. Die Schlagzeile von Hayom spiegelt das Unterbewusstsein der israelischen Politik wider. Denn eine Türkei, die ihren inneren Frieden hergestellt, den Terror von ihrem Boden verbannt und 86 Millionen Menschen zu Brüdern gemacht hat, wächst nicht nur innerhalb ihrer Grenzen, sondern trägt Hoffnung bis nach Damaskus, Bagdad, Jerusalem und Sarajevo.
Der stille Pakt eines Volkes
Zwischen all diesen Worten, Schlagzeilen und Erklärungen bleibt Folgendes: In diesem Land schließt ein Volk – mit seinen Türken, Kurden, Arabern, Aleviten, Sunniten, Rechten und Linken – einen stillen Pakt: „Wir werden uns nicht den Rücken zukehren.“ Denn der innere Friede eines Volkes geht dem Willen des Staates zur Expansion voraus. Jede Intrige, die diesen Pakt zu brechen versucht, wird zwischen den Zahnrädern der Geschichte zermalmt.
Wie Präsident Erdoğan sagte:
„Die Türkei wird durch Brüderlichkeit wachsen, durch Demokratie stärker werden. Die Türkei wird in Stabilität und Sicherheit in die Zukunft schreiten.“
Wer diesen Weg aufhalten will – sei es Netanjahu oder eine andere Macht –, sollte wissen: Das Osmanische Reich wird vielleicht nicht zurückkehren. Aber der Geist, der das Osmanische Reich am Leben erhielt – die Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, das Teilen und die Solidarität, die diese große Zivilisation der Welt lehrte – lebt im Blut dieses Volkes weiter.
Und eines Tages wird dieser Geist weder Osmanisch noch Seldschukisch genannt werden…
Dieser Geist wird „Türkei“ heißen.
Deshalb ist die Vision von Präsident Erdoğan, das „Türkenjahrhundert“, kein nostalgisches Lied. Heute schöpfen die verwaisten und unterdrückten Völker vor allem im arabischen Raum – angefangen bei Gaza –, die in den kolonialen Landkarten Afrikas gefangenen Nationen und die vergessenen Dörfer auf dem Balkan Hoffnung aus diesem Aufbruch. Denn dieser Aufbruch heißt weder Invasion noch imperialer Traum. Er ist ein Ruf zum Aufstehen einer Zivilisation der Gerechtigkeit.
Unsere Nationaldichter Mehmet Akifs zähe, aber standhafte Verse hallen in den Ohren:
„Ohne Zwietracht kann kein Feind in ein Volk eindringen;
Wenn die Herzen geschlossen schlagen, kann keine Kanone sie zerbrechen.“
Heute ist das Händeschütteln von AKP, MHP und DEM der Klang dieses gemeinsamen Herzschlags im Herzen des Volkes. Ein Volk, das den Samen des Zwists aus dem Boden der Brüderlichkeit ausreißt und ein neues „Jerusalem-Bündnis“ aus sich selbst baut. So sehr Netanjahu auch sagt „wird nicht zurückkehren“, können diese Worte weder die Erinnerung der Kurden an Salahaddin, noch das Herz der Türken an Fatih, noch das Gebet der Araber an Khalid ibn al-Walid auslöschen.
Netanjahu sagte: „Das Osmanische Reich wird nicht zurückkehren.“
Mag sein. Für uns zählt nicht, ob ein Imperium zurückkehrt, sondern ob ein Volk aus eigenem Willen wieder aufsteht. Die Geschichte hat immer gezeigt: Auf diesem Land kehrt Hoffnung nie zurück; sie schreitet immer voran.
Das Osmanische Reich, das du als „nicht zurückkehrend“ bezeichnest, mag eine Landkarte sein; doch die Gerechtigkeit, die an Jerusalems Tor geschrieben steht, die Brüderlichkeit, die in Malazgirts Herz eingraviert ist, der Volkswille, der in Çanakkales Schützengräben wie ein Geschoss geschmiedet wurde, sind keine Karte. Karten sterben – Geister nicht.
Und wir klopfen jeden Morgen an die Tür eines neuen Zeitalters: Es heißt das „Türkenjahrhundert“.