Christlicher Zionismus, Antisemitismus & christlicher Realismus

Sich auf Gottes Verheißung an Abraham zu verlassen, dass diejenigen gesegnet werden, die seine Nachkommen segnen, mag für viele spirituell erfüllender sein. Selbst Kritiker, die bestreiten, dass diese Verheißung auf das moderne Israel zutrifft, können nicht leugnen, dass Länder, in denen Juden sicher leben, weit besser gedeihen als Nationen, die Juden verfolgen. Nationen und Ideologien, die Juden quälen, stehen dem höchsten Streben nach menschlicher Würde und Gerechtigkeit von Grund auf feindlich gegenüber. Gott kann solches Unrecht nicht segnen – darin sollten sich doch alle Christen einig sein.
Juni 29, 2025
image_print

Die jüngste religiöse Debatte zwischen Ted Cruz und Tucker Carlson über Israel offenbart tiefere Strömungen innerhalb der amerikanisch-christlichen Meinungslandschaft.

Carlson zeigt sich zunehmend weniger freundlich, wenn nicht gar feindlich gegenüber Israel. Cruz erinnerte daran, dass er in der Sonntagsschule gelernt habe, dass diejenigen gesegnet werden, die Israel segnen – gestützt auf Gottes Verheißung an Abraham. Das veranlasste den skeptischen Carlson zu der Frage, wie Cruz „Israel“ überhaupt definiere.

Cruz’ Haltung stimmt mit dem christlichen Dispensationalismus überein, ist aber nicht von ihm abhängig. Der Dispensationalismus ist eine im 19. Jahrhundert in Großbritannien entstandene theologische Strömung, die Israels zentrale Rolle in den letzten Tagen vor der Wiederkunft Christi betont. Diese Sichtweise ist maßgeblich in den Left Behind-Romanen und -Filmen präsent. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der Dispensationalismus unter amerikanischen Christen an Popularität, da viele die Gründung des modernen Israel als Erfüllung biblischer Prophetie ansahen. Von den 1970er-Jahren bis in die frühen 2000er deuteten evangelikale Stimmen wie Pat Robertson (über seinen Fernsehsender) das Zeitgeschehen durch eine prophetisch-dispensationalistische Brille. Der Dispensationalismus formte mehrere Generationen christlicher Zionisten, für die die Unterstützung Israels ein spirituelles und politisches Anliegen war.

In den letzten Jahren allerdings befindet sich der Dispensationalismus auf dem Rückzug. Jüngere Evangelikale neigen ihm weniger zu und zeigen daher auch politisch weniger Interesse an Israel. Was wird das entstehende Vakuum füllen?

Natürlich ist der Dispensationalismus nicht verschwunden. Viele Evangelikale, vor allem ältere, hängen ihm weiterhin an. Auch Charismatiker und Pfingstler sind stark davon geprägt.

Doch die von Cruz geäußerte Sichtweise – dass Freunde Israels mit einem dauerhaften göttlichen Segen rechnen können – steht auch unabhängig vom Dispensationalismus für sich.

Dennoch war der Dispensationalismus über etwa 80 Jahre hinweg eine entscheidende, wenn auch nicht alleinige Säule der christlich-amerikanischen Unterstützung für Israel. Was nun?

Tuckers Perspektive verweist auf eine neue, weniger wohlwollende, wenn nicht feindliche Haltung gegenüber Israel unter Christen. Viele Vertreter der postliberalen „Neuen Rechten“ lehnen internationale Bündnisse und außenpolitisches Engagement der USA ab – einschließlich der Unterstützung Israels. Besonders ablehnend stehen sie US-Militäreinsätzen im Nahen Osten gegenüber, die sie – etwa im Fall des Irakkriegs – als katastrophal betrachten. Sie fordern, dass Amerika sich auf sich selbst konzentriert. Manche kritisieren US-Angriffe auf den Iran, die ihrer Auffassung nach auf israelischen Druck hin erfolgt seien und die USA in immer tiefere Verstrickungen zögen.

Viele, die sich als christliche Nationalisten verstehen, vertreten diese Sichtweise – insbesondere, wenn sie keine Charismatiker oder Pfingstler sind. Hyper-Calvinisten, die sich eine „christliche Nation“ in Form eines Bekenntnisstaates wünschen, behaupten, dass Juden in Gottes Heilsplan keine Rolle mehr spielen – außer als Ziel evangelistischer Bemühungen. Für sie gibt es keinen geistlichen Grund, Israel zu unterstützen. Einige von ihnen zeigen in ihrer Ablehnung des christlichen Zionismus sogar offen oder latent antisemitische Tendenzen.

Der Autor von The Case for Christian Nationalism, dem wohl bedeutendsten Werk, das für einen christlichen Bekenntnisstaat argumentiert, twitterte kürzlich: „2 % der Bevölkerung fordern 100 % der Kriege.“ Offensichtlich machte Stephen Wolfe damit amerikanische Juden für die außenpolitischen Konflikte der USA verantwortlich.

Unterstützend retweetete Wolfe ein weiterer Vertreter des hyperkalvinistischen Bekenntnisstaates und Social-Media-Influencer, Joel Webbon, der seine Sichtweise wie folgt erläuterte:

Politisch betrachtet, so Webbon, „glaube ich, dass Israel einen verheerend negativen Einfluss auf Amerika hatte. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder ihre Kriege führen, und ich möchte nicht, dass sie in unserer Politik Lobbyarbeit betreiben oder einen übergroßen Einfluss auf unsere Kultur ausüben.“

Und weiter:

Religiös betrachtet glaube er, „dass das Judentum antichristlich ist. Ich halte es für ein verderbliches Übel. Ich erkenne an, dass viele Juden säkular sind und das Judentum nicht praktizieren. Aber so wie viele Amerikaner heute nicht mehr bekennen, Christen zu sein, Amerika aber dennoch tief von christlichem Denken und Werten geprägt wurde, so wurde auch Israel tief geprägt von einer Religion, deren Fundament die vollständige Ablehnung Christi ist.“

Webbon fährt fort:

„Deshalb ist der Liberalismus – zumindest in seiner modernen Ausprägung des 20. Jahrhunderts – in weiten Teilen (wenn auch nicht vollständig) ein jüdisches Projekt. Der ‚Motor‘ des Liberalismus ist der Egalitarismus: das Streben, alle natürlichen Unterschiede zu nivellieren (zwischen Mann und Frau, Individuen und sogar Nationen). Ich glaube, dass der Liberalismus, insbesondere in seiner modernen Form, die möglicherweise größte Bedrohung für die Welt (insbesondere Amerika) und die Kirche darstellt. Und ich glaube, dass Israel einer seiner entschiedensten Verfechter und Verteidiger ist.“

Abschließend sagt Webbon:

„Ich wünsche mir, dass Amerika die geopolitischen Beziehungen zu Israel beendet. Ich glaube nicht, dass sie unser Verbündeter sind.“

Webbon veranstaltete im April seine jährliche „Right Response“-Konferenz, bei der auch der britischstämmige US-Kleriker Calvin Robinson sprach – ebenfalls ein prominenter Vertreter des postliberalen Internets. Auch Robinson äußert sich auf Twitter ähnlich kritisch über Israel, etwa mit der Aussage:

„Nennen Sie mir einen prominenten Politiker der Rechten, der sein eigenes Land an erste Stelle stellt – vor Israel. Und bevor die Zionisten ausrasten: Ich sage nicht, dass Israel kein ‚Recht‘ auf Existenz hat. Ich frage nur, ob irgendein anderes Land dieses Recht auch noch hat. Wo sind die echten Patrioten?“

Robinson dankte Tucker Carlson dafür, dass dieser in seinem Gespräch mit Cruz angeblich den christlichen Dispensationalismus „beerdigt“ habe. Ebenso lobte er Webbon dafür, dass dieser der These widersprach, das moderne Israel sei mit dem biblischen Israel identisch – unter Berufung auf Carlson und Candace Owens, eine weitere Online-Persönlichkeit mit stark anti-israelischen Ansichten.

Sowohl Robinson als auch Webbon posteten ein von Künstlicher Intelligenz generiertes Video von Donald Trump, in dem dieser erklärt, dass der „alte Bund“ mit der Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahr 70 n. Chr. geendet habe und die Kirche nun vollständig das Erbe von Gottes Fürsorge übernommen habe: „Wir müssen das alte Israel nicht länger stützen und ihm all unser Geld geben. Währenddessen töten sie Tausende von Menschen.“

Solche Positionen von christlichen Internet-Persönlichkeiten wie Wolfe, Webbon und Robinson, verstärkt durch Carlson und Owens, dürften weiter an Einfluss gewinnen, je mehr der alte christliche Dispensationalismus an Bedeutung verliert.

Alternative pro-israelische christliche Perspektiven müssen dieser Sichtweise entgegentreten. Eine mögliche Antwort bietet Reinhold Niebuhr, der protestantische Architekt des Christlichen Realismus im 20. Jahrhundert, der inmitten des Holocaust zum Zionisten wurde. Niebuhrs realistisches Weltbild betonte die gefallene menschliche Natur, die nicht nur von Eigeninteresse, sondern oft auch von Ressentiment und Bosheit geprägt sei. Er vertrat die Auffassung, dass das lange verfolgte jüdische Volk einen eigenen Staat brauche, weil

„die Voreingenommenheit der Mehrheit gegenüber Minderheiten, die von der dominanten Norm abweichen, ein beständiger Aspekt des kollektiven menschlichen Lebens ist. Ihre Wirkung kann gemildert, aber niemals vollständig beseitigt werden.“

1956 schrieb Reinhold Niebuhr:
„Der Staat Israel ist – bei allen seinen Begrenzungen – ein ermutigendes Wagnis in Sachen Nationenbildung. … Unabhängig von unseren politischen oder religiösen Positionen ist es nicht möglich, einem solchen Erfolg Bewunderung, Mitgefühl und Respekt zu verweigern.“

Niebuhr vermied spezifisch theologische Argumente zugunsten des modernen Israel. Stattdessen argumentierte er, dass die Juden ein eigenes Land brauchten und verdienten, dessen Erfolg ein Vorbild für andere Nationen sein könne. Solche praktischen moralischen Argumente, die sich nur im weiteren Sinne auf christliche Ethik und Gerechtigkeit stützen, reichen für andere Christen möglicherweise nicht aus.

Sich auf Gottes Verheißung an Abraham zu stützen, dass diejenigen gesegnet werden, die seine Nachkommen segnen, mag für viele spirituell befriedigender sein. Selbst Kritiker, die bestreiten, dass sich diese Verheißung auf das moderne Israel bezieht, können kaum leugnen, dass Länder, in denen Juden sicher leben können, weitaus mehr gedeihen als Nationen, die Juden verfolgen.

Nationen und Ideologien, die Juden drangsalieren, stehen den höchsten Idealen menschlicher Würde und Gerechtigkeit grundsätzlich feindlich gegenüber. Gott kann solches Unrecht nicht segnen – darin sollten sich alle Christen einig sein.

Quelle: https://juicyecumenism.com/2025/06/26/christian-zionism-antisemitism-christian-realism/