In der Küstenstadt Gabès leben die Einwohner im Schatten der Phosphatindustrie. Während die Verschmutzung zunimmt und die staatliche Repression zurückkehrt, belebt eine neue Generation den Kampf ums Überleben erneut.
Der Bus, der von Tunis in Richtung Süden fährt, durchquert kleine Dörfer und grüne Felder – viele davon erstrecken sich bis zum unsichtbaren Mittelmeer. Etwa 400 Kilometer südlich der Hauptstadt färbt sich die Luft beim Eintritt nach Gabès plötzlich gelb. Durch die geöffneten Fenster dringt ein fauliger, schwefelhaltiger Geruch, und das Atmen wird allmählich schwerer.
Während meiner Feldforschungswochen in Gabès in den Jahren 2021 und 2022 war der „Industriekomplex“, eine Reihe von Fabriken, die Phosphate aus dem Landesinneren aufbereiten, allgegenwärtig – wie ein Gespenst. Dieses Gespenst tauchte in den Geschichten auf, die Familien über sich selbst erzählten, in den staatlichen Versprechen von Arbeit, die sich in systematische Arbeitslosigkeit verwandelten, in den Gesprächen älterer Menschen, die sich an ihre Kindheit erinnerten – an den Garten Eden der verlorenen Oase von Gabès, wo sie frische Früchte aßen. Es war das Gespenst, das an den Esstischen verweilte, an denen alle wussten, dass der Fisch vergiftet war. Heute ist dieses Gespenst in die Körper der Menschen eingezogen – als unaufhörlicher Husten und Krebs.
Am 14. Oktober 2025 betrat dieses Gespenst die Mittelschule des Viertels Chatt Essalem, als zahlreiche Schüler plötzlich unter schwerer Atemnot litten und das Gebäude evakuiert werden musste. Die Schule, die direkt neben dem Industriekomplex liegt, war stark erhöhten Emissionswerten ausgesetzt. Nachdem viele Kinder ins Krankenhaus eingeliefert worden waren, gingen ihre Familien – und bald darauf auch viele andere Bewohner von Gabès – am 15. Oktober auf die Straße. Ihr Slogan war eindeutig: „Die Menschen wollen atmen.“ Ihre Forderung: die Schließung der umweltverschmutzenden Fabriken.
Die Fabriken stehen seit Langem im Zentrum der Geschichte von Gabès. 1972 errichtete der tunesische Staat eine Phosphataufbereitungsanlage zur Herstellung von Phosphorsäure – einem Hauptbestandteil chemischer Düngemittel. 1977 kam eine Zementfabrik hinzu, und in den folgenden Jahrzehnten wurde die Küste weiter industrialisiert. Mit dem Ausbau des Industriekomplexes wuchs auch die gesundheitliche Belastung der Bevölkerung: Atemwegserkrankungen, chronische Leiden und ökologische Verwüstung nahmen zu.
Seit den 1970er Jahren rechtfertigt der tunesische Staat diesen Prozess mit dem Narrativ der „Entwicklung“. Der Einwohner Habib Chaairat erinnert sich an den Besuch des damaligen Premierministers Hédi Nouira, der den lokalen Bauern, denen das Land entzogen wurde, versprach: „Ihr werdet reich sein, ihr werdet große Häuser und Luxusautos haben.“ Das Schicksal von Gabès ist Teil eines größeren Musters, in dem der Staat den ländlichen Bevölkerungen – denen er ein würdiges Leben abspricht – eine erzwungene Modernität aufzwingt. Nach der gleichen Logik wurden in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit auch in Bizerte und Sfax Ölraffinerien errichtet.
Die Phosphatindustrie Tunesiens verkompliziert zudem die klare Trennung zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. Der Bergbau begann Anfang des 20. Jahrhunderts unter französischer Herrschaft, und Tunesien lieferte einst 30 % der weltweiten Phosphatproduktion. Doch in den Minen arbeiteten nicht nur Tunesier – als Italien das benachbarte Libyen kolonialisierte, kamen billige Arbeitskräfte aus Sardinien und Sizilien. Heute gehört die Tunisian Indian Fertilizers Company (TIFERT) zu den führenden Düngemittelherstellern des Landes; sie bezieht ihre Rohstoffe vom Tunisian Chemical Group (GCT) in Gabès und exportiert sie an die Gujarat State Fertilizers and Chemicals Ltd. in Indien – zufällig im selben Bundesstaat, aus dem ich selbst stamme.
Heute hat Gabès die schmutzigste Luft in Tunesien. Die giftige Atmosphäre erstickt nicht nur die Menschen, sondern auch die einst reiche Flora und Fauna, die die Region zu einer der wenigen Küstenoasen der Welt gemacht hatte. Die Phosphogips-Abfälle, die der Industriekomplex ins Meer leitet, haben das Meeresleben ausgelöscht und damit auch die Lebensgrundlagen zerstört. Die Strände sind zu Friedhöfen für tote Schildkröten, Krebse und Quallen geworden, und die Abgase haben die Obst- und Dattelpalmen verbrannt, die einst der Oase Leben einhauchten.
Doch die Tunesier sind keine passiven Zeugen ihres eigenen Erstickens. Im Januar 2008 startete die Gafsa Phosphate Company, einer der Hauptlieferanten der Gabès-Fabriken, eine Einstellungsrunde. Doch die Jobs gingen an Bewerber von außerhalb. Die Einheimischen, die sich betrogen fühlten, begannen Sitzstreiks – Proteste, die sich in den folgenden Monaten ausbreiteten und schließlich die landesweiten Aufstände auslösten, die 2011 in der Revolution gipfelten. Der Slogan „Das Volk will den Sturz des Regimes“, der bald darauf in der gesamten arabischen Welt zu hören war, ertönte erstmals in diesen frühen Protesten im tunesischen Bergbaubecken.
Seitdem sind umweltbezogene soziale Bewegungen zu einem zentralen Bestandteil der Protestkultur im postrevolutionären Tunesien geworden. In der Stadt Agareb etwa blieb eine 2013 zur Schließung vorgesehene Mülldeponie weiterhin in Betrieb, was die Bewohner zu anhaltenden Protesten unter dem Motto „Wir sind keine Müllhalde“ veranlasste. Die Familien dort leiden unter denselben Problemen wie die in Gabès: giftige Luft, zunehmende Krebsraten, Olivenhaine, die zu illegalen Müllkippen geworden sind. Überall im Land kämpfen Menschen – in Städten wie auf dem Land – gegen verschmutztes Wasser, Abfallberge, industrielle Abwässer, Waldbrände und anhaltende Dürre. Seit dem Staatsstreich von Präsident Kais Saied im Jahr 2021 hat der Staat seine Repression gegen jegliche Form von Protest, einschließlich Umweltaktivismus, verschärft – und der Kampf ist gefährlicher geworden.
Gabès hat all das schon erlebt. Im Mai 2017 begannen mehrere Grundschüler, die in der Nähe der Fabriken lebten, zu husten und zu erbrechen – Symptome, die ihren Familien nur allzu vertraut waren. Nach massivem Druck der Bewohner kündigte die Regierung im Juni 2017 schließlich an, die am stärksten verschmutzenden Einheiten zu verlagern. Acht Jahre später stehen sie jedoch immer noch an Ort und Stelle. Viele Einwohner von Gabès sind wirtschaftlich von diesen Fabriken abhängig – das erschwert den Widerstand. Oft stehen diejenigen, die gegen die Verschmutzung kämpfen, denjenigen gegenüber, die um ihre Arbeitsplätze in einer alternativlosen Wirtschaft fürchten.
Heute scheint die Schließung der Fabriken ein nahezu unerreichbarer Traum. Angesichts der durch die Pandemie verschärften Wirtschaftskrise ordnete Präsident Saied eine massive Steigerung der Phosphatproduktion an – bis 2030 soll sie verfünffacht werden. In dieser neuen Phase des Krisenkapitalismus sollen die Fabriken nicht nur weiterbestehen, sondern wachsen – und damit die Körper der Gabès-Bewohner schneller und brutaler verzehren.
Die Menschen in Gabès wissen, was das bedeutet. Sie wissen, dass das Schlimmste nicht sie selbst, sondern ihre Kinder treffen wird. Dieses unerträgliche Wissen, dass sie in den Augen des Staates entbehrlich sind, trieb am 15. Oktober rund 3.500 Menschen auf die Straße. Der Staat bestätigte ihren geringen Wert auf brutale Weise: mit Tränengas, Verhaftungen und Gewalt. Doch der Widerstand lebt weiter. Während ich diese Zeilen schreibe, entstehen neue Strategien in Echtzeit – geteilt über WhatsApp, aufgezeichnet mit Smartphones. In einem populären Video jagen junge Männer mit Molotowcocktails Polizeifahrzeuge – ein Akt des Mutes in einem Gebiet, das der Staat nur als Opferzone betrachtet, und ein Zeichen dafür, dass das Leben hier weiterhin verteidigt wird.
Solche Akte des Widerstands haben Vorläufer. Seit den 1950er Jahren wird die Küste von Sfax, nördlich von Gabès, von Phosphatraffinerien beherrscht. In den 1980er Jahren waren die Strände so stark verschmutzt, dass sie für Menschen unzugänglich wurden. Durch den Druck der Zivilgesellschaft kam es zu Protesten, die schließlich 1992 zur Schließung einer der größten Verschmutzungsquellen führten. Es folgte das Taparura-Projekt, eine langfristige Initiative zur Sanierung von Land und Meer, zum Pflanzen von Bäumen und zur Schaffung öffentlicher Räume für die Bevölkerung. Als ich 2021 Sfax besuchte, war die zweitgrößte Verschmutzungseinheit endlich geschlossen, das verseuchte Gelände eingezäunt und bereit für die Sanierung.
Jeder dieser Schritte schien einst unmöglich – so wie heute die Schließung des Industriekomplexes von Gabès. Auch der Reinigungsprozess in Sfax war nicht frei von Widersprüchen: Der Staat versuchte, die sanierten Industriegebiete unter dem Deckmantel der „Modernisierung“ in Luxuswohnungen und Einkaufszentren umzuwandeln – ein typisches Beispiel für grünes Weißwaschen im postindustriellen Zeitalter. Doch der Widerstand hält an. Und ebenso der Wunsch zu atmen.
Quelle: https://africasacountry.com/2025/10/the-people-want-to-breathe/
