In der Türkei kursieren in regelmäßigen Abständen sensationsheischende Falschmeldungen wie „Putin ist zum Islam übergetreten“, die oft mit Verschwörungstheorien gespickt sind. Solche Behauptungen müssen im Zusammenhang mit Schlagzeilen wie „250.000 Gläubige beten in Moskaus Moscheen das Festgebet“ gelesen werden.
Auch Putins berühmte Aussage aus dem Jahr 2010, die er etwa ein Jahrzehnt später relativierte, indem er erklärte, sie sei „geografisch gemeint gewesen“, lässt sich in diesem Kontext einordnen:
„Wir sind östliche Christen: Orthodoxe. Einige Wissenschaftler sagen, dass viele Prinzipien der östlichen Christen dem Islam näherstehen als dem Katholizismus. Zu den Katholiken haben wir eine größere Distanz.“
Als Putin 2011 im gleichen Ton wie Muammar al-Gaddafi erklärte, dass die NATO-Intervention in Libyen einem „Kreuzzug“ gleiche, war dies – aus Perspektive außerhalb Russlands – ein strategisches Signal in Richtung der islamischen Welt, insbesondere an die ehemaligen sowjetischen Bündnispartner. In der Türkei wurde dies wiederum von jenen, die den Mythos des „muslimischen Putin“ nähren, als weiterer Beweis betrachtet.
Doch das eigentliche größere Bild für Russland liegt anderswo: Die heutige muslimische Bevölkerung innerhalb Russlands besitzt – auch angesichts potenzieller großer Migrationsbewegungen aus dem „nahen Ausland“ – das Potenzial, in den kommenden Jahrzehnten aus einer Minderheit zu einem der konstituierenden Bestandteile des „neuen Russland“ zu werden.
In der Leitkolumne der Nesawissimaja Gaseta vom 10. Juni wird Russlands offizieller „Islam-Reflex“ unter der Frage analysiert: „Warum geraten orthodoxe und islamische Vertreter aneinander?“
„Muslimische Armee“ und Dialogkultur – Warum geraten orthodoxe und muslimische Vertreter in Streit?
Der Fall von Skhiigumen Gavriil (Vinogradov-Lakerbaja) zeigt, wie sich der Ton in den Beziehungen zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und den muslimischen Gemeinschaften Russlands in den letzten zehn Jahren verändert hat. Gavriil war Leiter der Sotschi-Filiale des Walaam-Klosters, wurde jedoch Ende Mai nach einer Predigt seines Amtes enthoben. Interessanterweise fiel sein Rücktritt zeitlich mit der Reaktion muslimischer Vertreter auf seine Worte zusammen – auch wenn die religiösen Autoritäten des Walaam-Klosters dies als Zufall darstellen.
Und was ist mit der interreligiösen Harmonie? Kaum jemand erinnert sich heute daran, dass ein einflussreicher Vertreter des Moskauer Patriarchats vor zehn Jahren vorgeschlagen hatte, das Kalifat mit dem „Heiligen Russland“ und der Sowjetunion zu vereinen – oder dass ein anderer erklärte, er fürchte in Europa eher den Verlust des Glaubens an Gott als den Einfluss des Islam. Orthodoxe Missionare in Russland lobten damals Muslime als vorbildlich gläubig und forderten Christen auf, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Heute jedoch wird genau dieser Glaube zunehmend als Bedrohung für die russische Identität angesehen.
Genau dieser Gedanke fand sich auch in der Predigt des Skhiigumen kurz vor dem Opferfest wieder. Der Mönch aus Sotschi behauptete, eine „muslimische Armee“ stehe bereit, „auf Befehl der Mullahs die Moskauer zu töten“. Zudem erklärte er den Islam zu einer „falschen Religion“. Obwohl dies nur ein Nebenpunkt seiner von Verschwörungstheorien durchdrungenen Hauptbotschaft war, sorgten seine Worte in muslimischen Kreisen für große Empörung.
Im Namen der Muslime wurde Skhiigumen Gavriil scharf von Apti Alautdinow, dem stellvertretenden Generalstabschef der Streitkräfte der Russischen Föderation, kritisiert. Dessen Worte wiederum verärgerten die orthodoxe Aktivistengruppe „Sorok Sorokow“. Diese betrachteten die scharfen Äußerungen des Generals nicht nur als persönliche Beleidigung gegenüber Gavriil, sondern als Herabwürdigung eines heiligen Amtes. Die Bewegung forderte die Bestrafung General Alautdinows und die Wiedereinsetzung des Mönchs in sein Amt.
Später entschuldigte sich Alautdinow bei Gavriil und erklärte, er habe lediglich unrecht gehandelt, weil er eine ältere Person verletzt habe. Diese Art der Entschuldigung reichte den Aktivisten nicht aus. Sie forderten eine öffentliche Entschuldigung des Generals gegenüber der gesamten „orthodoxen Gemeinschaft“.
Zu den offiziellen Stimmen aus dem Moskauer Patriarchat, die sich zur Situation äußerten, gehörte auch Erzbischof Savva (Tutunov), der die missionarischen Aktivitäten der Russisch-Orthodoxen Kirche leitet. Er bezeichnete die Aussagen des Mönchs als „in der Regel unsinnig“, teilte jedoch dessen Sichtweise in Bezug auf die „Richtigkeit“ bzw. „Unrichtigkeit“ von Religionen.
Tutunov kritisierte Alautdinows „synkretistische Darstellung“ der Beziehungen zwischen Islam und Christentum und warf dem General vor, „die historische und kulturelle Vorrangstellung der Orthodoxie für unser Vaterland“ infrage stellen zu wollen.
Vor diesem Hintergrund tauchte noch eine weitere Meldung auf: In den sozialen Medien wurde ein Video verbreitet, das offenbar einen muslimischen Soldaten zeigt, wie er in der aus ukrainischer Kontrolle zurückeroberten Stadt Suzdal in der Region Kursk eine Handgranate auf ein Gebäude neben einer Kirche wirft.
Die Anzeichen einer spezifisch eurasischen Krise, die sich bereits seit einigen Jahren in den Haltungen mancher Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche abzeichneten, treten nun offen zutage. Die über Jahre hinweg verfolgte staatliche Politik, die auf der unverrückbaren Solidaritätslinie des Interreligiösen Rates Russlands beruhte, scheint zu erodieren. Das Konzept gemeinsamer spiritueller Werte traditioneller Religionen beginnt unter dem Druck zunehmend konfrontativer Debatten zu zerbrechen.
Die jüngsten „Abrechnungen“ zwischen Religionen spiegeln eine breitere gesellschaftliche Veränderung im Stil des Meinungsaustauschs wider: Die Fähigkeit, dem anderen zuzuhören, ist offensichtlich verloren gegangen. Intoleranz und Härte nehmen zu. Die Erosion der Debattenkultur wirkt sich immer stärker auf den besonders sensiblen Bereich der interreligiösen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aus.