„Die Familie ist ein Vaterland, das der Mensch in seinem Herzen trägt.“
– Ahmet Hamdi Tanpınar
Die sich verschlechternde Familienstruktur in der Türkei ist in den letzten Jahren im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen ein häufig diskutiertes Thema. Die Heirats- und Scheidungsraten in der Türkei und weltweit gehören zu den wichtigsten Indikatoren des gesellschaftlichen Gefüges. Das bedeutendste Ereignis, das die Familie verändert hat, ist die Industrielle Revolution und der darauf folgende Prozess. Die Familie ist das Fundament der Gesellschaft. Eine Familie, die auf einem gesunden Fundament steht, bedeutet eine Gesellschaft, die auf einer soliden Basis ruht. In diesem Zusammenhang ist eine gesunde und effektive Kommunikation innerhalb der Familie unerlässlich. Eine solche Kommunikation ist entscheidend für das Wohlbefinden und die Stabilität der Individuen sowie der gesamten Gesellschaft.
Prof. Dr. Erol Göka schreibt in seinem Buch Über Familie und Liebe:
„Die Menschheit durchlebt eine große moralische und spirituelle Krise“, sagt er. „Die Grundlagen unserer geschlechtlichen Identitäten haben schon vor langer Zeit schwere Erschütterungen erfahren. Und nicht nur das – man spricht inzwischen sogar davon, dass Kinder ihre Geschlechtsidentität selbst wählen könnten. Mit allen zwischenmenschlichen Beziehungen verändert sich auch die ‚Familie‘. In der Soziologie wird die Familie meist unter der Überschrift ‚gesellschaftliche Institutionen‘ behandelt und als ‚kleinste Einheit der Gesellschaft‘ bezeichnet. Es gibt zahlreiche Klassifizierungen von Familientypen. Auch wenn wir nicht genügend Informationen darüber haben, wie die ersten Familien ausgesehen haben, geben uns die Untersuchungen von Leakey und seinen Kollegen zumindest das Recht zu der Annahme, dass es schon vor 1,6 Millionen Jahren familienähnliche Strukturen gegeben haben muss. Die Familie ist im Laufe der Geschichte eine der grundlegenden Existenzformen des Menschen. Es gibt keine Gesellschaft ohne Familie – unterschiedliche Gesellschaften haben unterschiedliche Familientypen. Das bedeutet, dass es eine gesellschaftliche Realität der ‚familiären Bindungen‘ gibt, die vom Propheten (Frieden sei mit ihm) nicht beseitigt, sondern im Gegenteil bekräftigt und unterstützt wurde. Dass die Familie der Ort ist, an dem die Reproduktion der Art, also der Fortbestand des Geschlechts, gewährleistet wird, ist die zweite Funktion, die wir in jeder Gesellschaft im Laufe der Geschichte beobachten können. Der Mensch kommt in einem Zustand völliger Hilflosigkeit zur Welt. Es ist unmöglich, dass er allein überlebt; er ist völlig auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen. Eine weitere grundlegende Funktion der Familie im Hinblick auf die Fortpflanzung ist es, die Kinder zu erziehen und sie gemäß den gesellschaftlichen Normen heranwachsen zu lassen. Heute wird oft gesagt, dass die Familie in Gefahr ist – und wir teilen diese Ansicht. In der techno-medialen Welt, in der wir heute leben, ist nicht nur von der ‚Auflösung der Familie‘ die Rede, sondern auch vom Ende der Ideologien und der großen Erzählungen. In dieser Welt, in der sich das Selbstbild des Menschen, seine Art, sich selbst wahrzunehmen und die Elemente, aus denen sich seine Identität zusammensetzt, in einem unglaublichen Wandel befinden – kann da das soziale Leben und das Verständnis von Familie unverändert bleiben? Natürlich nicht: Familiäre Bindungen lösen sich auf, Intimität, Liebe und Erotik verändern ihre Formen. Soziologische Studien zeigen, dass sich die Rollenverteilung innerhalb der Familie im letzten Jahrhundert deutlich verändert hat. Diese Veränderungen stehen in engem Zusammenhang mit der gestiegenen sozialen Stellung der Frau, ihrer Bildung und wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Kinder wachsen heute fast vollständig außerhalb des familiären Rahmens auf. Die gemeinsame Zeit zu Hause wird vor dem Fernseher verbracht, es wird nicht einmal mehr gemeinsam gegessen. Jeder ist in seinem eigenen Zimmer, vor seinem eigenen Computer – wir haben nicht einmal mehr ein gemeinsames Telefon. Denker sehen in all diesen Veränderungen vor allem den Verlust der Autorität, die früher durch den Vater verkörpert wurde. Die Bedeutung der Eltern nimmt stetig ab. Auch wenn die Ehe in der heutigen Welt vielleicht noch weit verbreitet ist, geschieht dies parallel zu den steigenden Scheidungsraten – und die Ehe ist längst nicht mehr das entscheidende Merkmal einer Partnerschaft. Wenn wir Familie, Liebe und Moral bewahren und weiterentwickeln wollen, müssen wir zunächst diese neue Welt sehr gut verstehen. Erst erkennen, dann kritisieren – sowohl sie als auch uns selbst. Natürlich muss die Lösung der Probleme und die Wiederbelebung der Familie auf dem Grundsatz „Zuerst Moral und Spiritualität“ beruhen.“
Einer der wichtigsten Faktoren, der unsere Familienstruktur verändert hat, ist die Modernisierung und die sogenannte „Urbanisierung“.
Enes Battal Keskin schreibt in seiner Arbeit Urbanisierung und Wandel der Familie:
„Urbanisierung ist zugleich ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess, der die Organisationsweise des städtischen Lebens beschreibt. In diesem Zusammenhang beeinflusst die Urbanisierung auch die Familie als gesellschaftliche Institution und führt zu Veränderungen. In der Türkei, die in den 1950er Jahren mit der Industrialisierung begann, war die Urbanisierung nicht primär die Folge eines industriellen Arbeitskräftebedarfs, sondern vielmehr eine Konsequenz der Abwanderung aus ländlichen Gebieten in die städtischen Zentren. Die durch die Urbanisierung hervorgerufenen Veränderungen sind zugleich Teil des Modernisierungsprozesses. Mit der Modernisierung und Urbanisierung hat sich die Ehe, die früher als wirtschaftlich begründete Partnerschaft und als wichtiger Weg zur Erlangung gesellschaftlicher Stellung galt, zunehmend zu einer Verbindung gewandelt, die von individuellen Wünschen und Begierden geprägt ist. Da Wünsche und Begierden subjektiv und relativ sind, gefährden sie bei mangelnder Übereinstimmung oder Nichterfüllung die Ehebeziehung und führen häufig zur Scheidung. Neben Individualisierung und Beliebigkeit tragen auch zunehmende rechtliche Möglichkeiten, sich wandelnde moralische und kulturelle Werte sowie die gesellschaftliche Akzeptanz von Scheidung wesentlich zum Anstieg der Scheidungszahlen bei. In den letzten zwanzig Jahren haben die in den USA und Großbritannien gestiegenen Scheidungsraten zu einer moralischen Panik geführt.“
Die mit der Modernisierung einhergehende Industrialisierung, technologische Entwicklung und Urbanisierung haben den Übergang von der Großfamilie zur Kernfamilie beschleunigt. Dabei kam es zu tiefgreifenden Veränderungen in Bezug auf die Bedeutung der Familie, ihre Gründung, die innerfamiliären Beziehungen sowie die Rollen von Mann, Frau und Kind. Der Wandel in Industriegesellschaften hat die Funktionen der Familie abgeschwächt, die familiären Bindungen gelockert, die gegenseitige Verantwortung der Ehepartner verändert und das Prinzip von Unterstützung und Solidarität durch eine auf persönliche Interessen basierende Struktur ersetzt. Was wir im Namen der Modernisierung am meisten verloren haben, ist die Wärme eines familiären Umfelds.
In der Kernfamilie herrscht zwischen den Ehepartnern ein Machtkampf. Der Anstieg der Scheidungen ist ein Indikator für das veränderte Machtverhältnis zwischen Mann und Frau. Mit dem Bedeutungswandel des Symbols „Liebe“ suchen Ehepartner in der Ehe zunehmend emotionale Erfüllung. Dabei können unrealistische Erwartungen entstehen. Da Ehepartner oft nicht erkennen, dass ihre Erwartungen nicht realistisch sind, kommt es zur Scheidung. Mit der Zunahme von Scheidungen verlieren diese sowohl ihre negative Konnotation als auch ihre gesellschaftliche Schwere und werden zunehmend als Möglichkeit zur persönlichen Erneuerung und zum Neubeginn gesehen.
Laut der Studie zu Scheidungsgründen in der Türkei sind die häufigsten Scheidungsgründe: Einmischung des nahen Umfelds in die Ehe (40 %), emotionale Probleme in der Beziehung (38 %), Untreue (35 %), wirtschaftliche Probleme (34 %) und Gewalt (34 %). Auch die Gewohnheiten des Ex-Partners oder der eigenen Person (31 %), der Lebensstil (25 %) oder unterschiedliche Wertevorstellungen (20 %) sind nicht zu unterschätzende Ursachen für eine Scheidung. Darüber hinaus spielen auch das Sexualleben (20 %), Arbeitsleben/Arbeitslosigkeit (15 %) und unzureichendes Kennenlernen des Partners vor der Ehe (14 %) eine Rolle.
In der Türkei haben die Scheidungsraten in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich zugenommen. Diese Entwicklung zeigt sowohl die zunehmende Fragilität der Institution Familie als auch einen Rückgang der Bereitschaft, eine neue Familie zu gründen.
Auch wenn es eine positive Entwicklung ist, dass Frauen im Berufsleben stärker vertreten sind, erforderte dies eine Neudefinition der familiären Rollenverteilung. Wird dieses Gleichgewicht nicht hergestellt, können Konflikte entstehen. Je stärker sich die Gesellschaft auf das Individuum konzentriert, desto mehr tritt das „Ich“-Gefühl an die Stelle des „Wir“-Gefühls – was familiäre Bindungen schwächen kann.
Die steigenden Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheiten erhöhen den familiären Stress, was zu Scheidungen und familiären Spannungen führen kann. Besonders in Großstädten erschweren die hohen Wohnkosten jungen Menschen das Heiraten, das Heiratsalter steigt oder es nimmt die Tendenz zu, ohne Trauschein zusammenzuleben.
Dass Familienmitglieder in Bildschirme vertieft sind, reduziert die direkte, persönliche Kommunikation. Über soziale Medien idealisierte Lebensdarstellungen führen zudem zu unrealistischen Erwartungen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen schwächt die Abhängigkeit von Handy und Tablet die familiären Beziehungen. Soziale Medien und digitale Plattformen erleichtern Untreue und den Bruch von Privatsphäre, was wiederum das Vertrauen innerhalb der Familie untergräbt.
Das traditionelle autoritäre Elternmodell wurde durch freiere Erziehungsstile ersetzt; dies führt mitunter dazu, dass Kinder keine Grenzen mehr anerkennen. Wird keine gesunde Bindung zu den Kindern aufgebaut, wenden sich diese stärker sozialen Medien oder dem Freundeskreis zu.
Die Zunahme von Scheidungen in der Türkei hat vielfältige gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und psychologische Ursachen. Dieses Phänomen hat nicht nur individuelle, sondern auch soziologische Dimensionen. Während frühere Generationen innerhalb der Familie eine hemmende Rolle gegenüber einer Scheidung einnahmen, ist dieser Druck heutzutage deutlich geringer. Der Anstieg der Scheidungsraten und der Rückgang der Eheschließungen führen zu einem weiteren Absinken der Geburtenrate. Mit dem Rückgang der jungen Bevölkerung altert die Gesellschaft – eine Entwicklung, die das soziale Sicherungssystem belasten kann. Kinder, die eine Scheidung miterleben, sind oft mit Traumata, einem gestörten Selbstwertgefühl, Verhaltensproblemen und schulischen Misserfolgen konfrontiert.
Alleinerziehende Familien werden zunehmen und als „normaler“ angesehen werden. Parallel zur steigenden Scheidungsrate wird das Zusammenleben ohne Trauschein noch weiter verbreitet sein. Beziehungen mit oder ohne Kinder – oder gar Ehen ohne Kinderwunsch – könnten den klassischen Familienbegriff zunehmend verändern. Es wird unumgänglich, familienunterstützende Sozialpolitiken auszubauen, etwa durch Familienberatung, Elternbildung und finanzielle Hilfen.
Der Anstieg der Scheidungsraten ist ein vielschichtiges Phänomen, das nicht nur die Beziehung zweier Menschen betrifft, sondern auch die gesamte Gesellschaft beeinflusst. Setzt sich dieser Trend fort, lässt sich sagen, dass sich die Familienstruktur in der Türkei weiter individualisieren, die Kinderzahl abnehmen und traditionelle Normen zunehmend durch flexiblere Strukturen ersetzt werden.
In Ländern mit hohen Scheidungsraten sind in der Regel Faktoren wie die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen, die Einfachheit des Scheidungsverfahrens und die gesellschaftliche Akzeptanz ausschlaggebend. In Ländern mit niedrigen Scheidungsraten hingegen stehen häufig traditionelle Familienstrukturen, religiöse und kulturelle Normen sowie die soziale Stigmatisierung von Scheidungen im Vordergrund. Diese Daten zeigen, dass die Dynamik von Ehe und Scheidung nicht nur durch individuelle Entscheidungen, sondern auch durch gesellschaftliche Strukturen und politische Rahmenbedingungen geprägt ist.
Zu den persönlichen Fehlern, die zur Auflösung von Familien führen, zählen: mangelnde Kommunikation, Egoismus, unkontrollierte Wut, Misstrauen und Eifersucht, Untreue, das Zulassen übermäßiger Einmischung durch Familienangehörige, Süchte (wie Alkohol- oder Drogenkonsum), mangelnde Zuneigung und Aufmerksamkeit sowie das ständige Aufschieben von Problemen. In solchen Situationen wählen viele Menschen den vermeintlich einfacheren Weg – die Scheidung – anstatt nach Lösungen zu suchen. Dabei ist es durchaus möglich, eine Trennung zu verhindern…
Indem man zuhört, offen spricht, ohne zu beleidigen oder herabzuwürdigen, mit Liebe und Respekt handelt, Empathie zeigt, Rollen und Verantwortungen teilt, geduldig und nachsichtig ist, geistige Werte wahrt, die Paarbeziehung nicht nur auf das Elternsein reduziert und das Familienleben nicht für die Kinder, sondern mit den Kindern gestaltet – auf diese Weise können wir den Zerfall unserer Familie verhindern.