Sehr geehrter Herr Donald M. Nicol*,
Wir, die „Hierigen“, sagen: „Geschichte wiederholt sich.“ Geschichte ist die endlose Wiederholung des Gleichen… die erneute Aufführung von Ähnlichem…
In „Hier“ schreitet die Zeit nicht voran, sie kreist. Die Zeit ist fruchtbar, gebärend. Doch Geburt und Tod, Anfang und Ende, Aufstieg und Fall sind nicht dialektische Gegensätze, sondern die beiden Seiten derselben Medaille.
Wo liegt „Hier“? Als eure englischen Vorfahren einfielen, war es das Osmanische Reich. Es war Byzanz. Sie nannten es Vorderasien und den Nahen Osten. „Hier“ ist genau dort…
Wir „Hierigen“ haben über die lange Zeit, ebenso wie viele unserer Fähigkeiten, auch unser Gedächtnis verloren. Man sagt, kollektives Gedächtnis lebt über Glauben, Bräuche und Institutionen – wir aber haben die Dynamiken unserer „Lebendigkeit“ rücksichtslos aufgegeben. Folglich können wir uns kaum an Ereignisse von vor acht Jahren erinnern, geschweige denn an solche von vor achthundert Jahren.
Herr Nicol,
Zunächst muss ich Ihnen zugestehen: Ihr Werk, objektiv und flüssig geschrieben, hat unser Gedächtnis geweckt, und ich habe großen Nutzen daraus gezogen. Besonders bemerkenswert ist Ihre Intuition, die man bei westlichen Forschern kaum findet.
Sie beginnen den Zerfall Byzanz’ mit dem Kreuzzug von 1204 und der Besetzung Konstantinopels durch die Lateiner, die 57 Jahre bis 1261 herrschen. Das Kreuzheer, ursprünglich unterwegs, um Jerusalem zurückzuerobern, kommt auf Einladung des byzantinischen Kaisers nach Konstantinopel. Der Glanz, die Architektur und der Reichtum der Stadt wecken den Appetit der ungebildeten Kreuzfahrer Europas. Und da sie seit der kirchlichen Spaltung auf Byzanz und die Orthodoxie herabblicken, wird es zu einer Invasion gegen sie.
Nicht-katholische Kirchen werden geplündert, Nonnen in Hagia Sophia missbraucht, Priester gefoltert und getötet, Lateinische Kleidung, Sprache und Bräuche erzwungen; Latein wird Amtssprache der Kirche, lateinische Musik, Hymnen und Instrumente gefördert. Die orthodoxe griechische Kultur wird attackiert. Mit dem Lateinismus werden auch griechische Sprache, Musik und Kleidung erniedrigt. Für 50–60 Jahre wird Lateinisierung zur offiziellen Ideologie des Oströmischen Reiches.
Interessanterweise übernehmen byzantinische Adlige und Bürokraten, die mit den Lateinern kooperieren, die Lateinisierung bald noch konsequenter als die Eindringlinge selbst. Der Staat Ostrom wird zum Vasallen des weströmischen und katholischen Reiches. Diese „Selbstkolonisierung“ dauert an, bis die Lateiner aufgrund von Erbstreitigkeiten und innerkirchlichen Konflikten in den 1260er Jahren Konstantinopel verlassen. Danach wendet sich Byzanz nach Osten, dem damals aufstrebenden islamischen Machtbereich.
Der Ausspruch eines byzantinischen Priesters: „Lieber den türkischen Turban sehen als die lateinische Kopfbedeckung“, fällt in diesem Kontext. Die Osmanen führen Expeditionen gegen die lateinischen Herrscher, die byzantinisches Eigentum und Land der griechischen Bauern geplündert hatten, und werden so zu Rettern der anatolischen Griechen, die freiwillig und massenhaft zum Islam übertreten. Osmanen handeln nicht gegen Byzanz, sondern kooperieren mit dem noch in Nikaia residierenden letzten byzantinischen Herrscherhaus, um die lateinischen Herrschaftsgebiete zu erobern. Historiker und Chronisten, die die Expansion des Osmanischen Beyliks in byzantinisches Territorium erklären wollen, übersehen oft dieses Detail.
Nach dem Schisma von 1054, der großen Trennung zwischen Ost- und Westkirche, wird deutlich, dass die widersprüchlichen und spannungsgeladenen Beziehungen Byzanz’ zum Westen nach der Invasion bis heute in uns nachwirken.
Der Westen bzw. die Lateiner umfassten die Händler-Piraten-Imperialisten des Mittelalters – Venezianer, Genuesen – sowie Franzosen, Flamen, Deutsche, Normannen, Lombarden und Katalanen, alle unter der Schirmherrschaft der römisch-katholischen Kirche. Die Differenz zwischen diesem lateinischen Westen und dem orthodoxen Byzanz war weit mehr als ein bloßer konfessioneller Unterschied.
Die Worte des byzantinischen Historikers Niketas Choniates von 1205 verdeutlichen dies: „Zwischen uns und den Lateinern klafft ein weiter Abgrund. Wir sind getrennte Pole. Keine gemeinsamen Gedanken. Sie sind arrogant, leiden an Überlegenheitswahn, verspotteten die Schlichtheit und Bescheidenheit unseres Handelns. Wir aber sehen ihre Arroganz und Frechheit wie Nasensekret, das ihnen die Nase in die Höhe hält…“