Die Behandlung der Rohingya-Muslime durch Indien ist kein politisches Versagen – sie ist eine Strategie zur Schaffung eines politischen Sündenbocks
Die regierende BJP zielt auf eine schutzlose Flüchtlingsgemeinschaft ab, um von ihrem Versagen in der Innen- und Außenpolitik abzulenken.
Mitte Mai blickte die Welt entsetzt auf Indien: Behörden nahmen landesweit etwa 40 Rohingya-Flüchtlinge fest – gefesselt, mit verbundenen Augen und laut Berichten misshandelt und sexuell belästigt. Anschließend sollen Offiziere der indischen Marine diese Menschen mit nichts als Schwimmwesten ins offene Meer vor Myanmar gestoßen haben.
Unter den gewaltsam ins Wasser gestoßenen befanden sich Kinder, Frauen, ältere Menschen – sogar ein Krebspatient. Diese Flüchtlinge wurden gezwungen, zurück in das Land zu schwimmen, das ihrer Gemeinschaft eines der schlimmsten Genozide des 21. Jahrhunderts angetan hatte – ein Land, das sie vor fast einem Jahrzehnt auf der Suche nach Sicherheit verlassen hatten, in dem sie nun aber auch in Indien erneut Verfolgung erleben.
Dieses schreckliche Ereignis ist kein Einzelfall. Es ist Teil einer systematischen Kampagne der indischen Regierung, die mehrheitlich muslimischen Rohingya zu kriminalisieren, zu entmenschlichen und abzuschieben. Die brutale Vorgehensweise gegen diese seit dem Massaker von 2017 in Myanmar weitgehend staatenlose Gemeinschaft spiegelt die breiteren Ziele der hindu-nationalistischen Agenda der Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Narendra Modi wider. Was wir hier sehen, ist kein politisches Versagen – es ist eine bewusste Strategie, verletzliche Flüchtlingsgruppen als politische Sündenböcke zu instrumentalisieren.
Die beispiellose Grausamkeit der jüngsten Abschiebungen hat internationale Aufmerksamkeit erregt und zu scharfer Kritik geführt. Darunter war auch Tom Andrews, der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation in Myanmar. Er bezeichnete Indiens Vorgehen als „unmenschlich“, „grausam“ und „entsetzlich“. Doch bislang wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.
Indiens Umgang mit den Rohingya missachtet seit Langem internationale Normen und grundlegende humanitäre Prinzipien. Für die rund 40.000 Rohingya-Flüchtlinge, die über mehrere indische Bundesstaaten verteilt leben, ist der Alltag geprägt von Festnahmen, Zerstörung von Unterkünften, stigmatisierender Rhetorik und illegalen Abschiebungen.
Die Verfolgung der Rohingya durch die BJP ist untrennbar mit ihrem breiteren Projekt verbunden, die 200 Millionen Muslime in Indien politisch zu marginalisieren. Durch Hassrede, Inhaftierungen, Vertreibungen und nun auch durch gewaltsame Abschiebungen werden die Rohingya instrumentalisiert, um Mehrheitsängste zu schüren, Wahlen zu gewinnen und das Regierungsversagen zu verschleiern.
Das Ereignis im Mai ist das eindrücklichste Beispiel für diese Entwicklung. In den Wochen zuvor hatte ein Terroranschlag in Pahalgam im Bundesstaat Kaschmir, bei dem 25 Touristen ums Leben kamen, eine Welle muslimfeindlicher Hetze und Gewalt in ganz Indien ausgelöst. Während die Modi-Regierung Pakistan für den Anschlag verantwortlich machte, nutzten führende BJP-Politiker das Ereignis, um vom eigenen Versagen im Bereich der Geheimdienste abzulenken, indem sie den Islam diffamierten und alle Muslime – ob indische Staatsbürger oder Geflüchtete – als Feinde des Staates brandmarkten.
Im Namen der „Rache“ starteten hindu-nationalistische Gruppen eine Angriffswelle gegen Muslime. Ein überlebender Rohingya berichtete gegenüber der indischen Nachrichtenplattform Scroll, dass er und andere von Offizieren der indischen Marine geschlagen wurden. Man habe sie beschuldigt, mit dem Anschlag in Pahalgam in Verbindung zu stehen und „Hindus getötet“ zu haben, bevor man sie ins Meer warf. Dies war eine der grausamsten Konsequenzen der staatlich unterstützten Strategie, Sündenböcke zu schaffen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Rohingya in den politischen Machtkampf der BJP hineingezogen werden. Im Jahr 2024, während sich die BJP auf nationale und regionale Wahlen vorbereitete und versuchte, die Wählerschaft zu spalten, dokumentierte das Center for the Study of Organized Hate allein in diesem Jahr 118 gezielte Hassreden gegen Rohingya. Das entspricht über 10 % der insgesamt 1.165 erfassten Hassreden.
Die Rohingya wurden als Bedrohung für die Lebensgrundlagen der hinduistischen Bevölkerung dargestellt – man warf ihnen vor, deren Arbeitsplätze, Land, Eigentum und sogar Frauen zu „stehlen“.
Der Missbrauch der Rohingya beschränkt sich jedoch nicht nur auf Worte. In von der BJP regierten Bundesstaaten kommt es regelmäßig zu koordinierten Razzien gegen Rohingya-Flüchtlinge; mitunter werden Hunderte gleichzeitig festgenommen. Landesweit werden Hunderte Rohingya unter unmenschlichen Bedingungen in Internierungslagern festgehalten. Einem Bericht zufolge sind etwa 50 % der Inhaftierten Frauen und Kinder. Aus diesen Lagern werden Geschichten berichtet von Menschen, die seit über einem Jahrzehnt festgehalten werden, von Tränengas gegen Fluchtversuche – und von einem Paar, das gezwungen wurde, sein verstorbenes Baby in Handschellen zu begraben.
Doch auch diejenigen außerhalb der Lager leben unter permanentem Druck. Indische Behörden zerstören regelmäßig provisorische Siedlungen, die Rohingya sich aufgebaut haben, und machen Hunderte Familien obdachlos. Einige berichten, ihre Unterkünfte seien ohne jede Vorwarnung in Brand gesteckt worden. Die Familien leben in ständiger Angst vor Polizeigewalt und Abschiebung – viele sehen sich gezwungen, sich zu verstecken oder sich auf gefährliche Fluchten in andere Länder zu begeben.
Besorgniserregend ist, dass die Abschiebungskampagne inzwischen auch juristische Rückendeckung erhalten hat. Anfang dieses Jahres wandten sich Rohingya-Antragsteller an den Obersten Gerichtshof Indiens und beriefen sich auf ihren Flüchtlingsstatus beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Sie forderten verfassungsmäßigen Schutz vor Abschiebung. Die indische Regierung hingegen argumentierte, dass Indien nicht Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention sei, und erklärte daher solche Schutzansprüche für ungültig.
Am 8. Mai entschied der Oberste Gerichtshof zugunsten der Regierung und urteilte, dass Rohingya nicht als Flüchtlinge, sondern lediglich als „Ausländer“ anzusehen seien. Richter Dipankar Datta ging sogar so weit zu sagen: „Sie haben kein Recht, sich hier niederzulassen.“
In einem Land ohne umfassendes Flüchtlingsgesetz und mit einem Staatsbürgerschaftsgesetz (CAA), das Muslime explizit vom beschleunigten Einbürgerungsverfahren ausschließt, beraubt dieses Urteil Rohingya-Flüchtlinge jeglicher rechtlichen Schutzmechanismen, jeglicher sicherer Zufluchtswege und jeglicher Möglichkeit, sich gegen einen feindlich gesinnten Staat zu verteidigen. Inmitten dieses rechtlichen Vakuums und eines zunehmend muslimfeindlichen Klimas ist das Urteil des Gerichts nicht nur unmenschlich, sondern stellt eine juristische Legitimierung der tragischen Kampagne der Modi-Regierung dar.
Der Oberste Gerichtshof Indiens sollte dieses jüngste Urteil dringend überdenken und die verfassungsmäßigen Schutzrechte aller in Indien lebenden Menschen unabhängig von ihrem Staatsbürgerschaftsstatus erneut bekräftigen. Er sollte sich dabei weiterhin auf das internationale Recht stützen, das in vielen früheren Urteilen als rechtliche Grundlage diente. Besonders wichtig ist es, selektive Anwendungen internationaler Standards zu vermeiden, die Indiens demokratische und pluralistische Werte untergraben würden.
Gleichzeitig muss auch die indische Regierung anerkennen, dass sie zwar nicht Unterzeichnerin der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist, jedoch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet hat. Diese bekräftigt ausdrücklich das Asylrecht sowie das Prinzip des Non-Refoulement – also das Verbot, Menschen in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen Verfolgung droht.
Premierminister Narendra Modi spricht oft vom Konzept vasudhaiva kutumbakam – „Die Welt ist eine Familie“. Diese Vision muss auch den Umgang mit schutzbedürftigen Gemeinschaften wie Flüchtlingen umfassen.
Internationale Menschenrechtsorganisationen, die US-Regierung, die Europäische Union und die globale Zivilgesellschaft müssen kontinuierlichen diplomatischen Druck auf die indische Regierung ausüben, um sie dazu zu zwingen, die rechtswidrigen Abschiebungen zu beenden, das Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz zurückzunehmen und ihre Verpflichtungen im Rahmen internationaler Flüchtlingsabkommen sowie des Menschenrechtsvölkerrechts zu erfüllen.
Es ist längst an der Zeit, eine weitere sich abzeichnende humanitäre Krise zu verhindern – in der sogenannten „größten Demokratie der Welt“ gegenüber der größten staatenlosen Bevölkerungsgruppe der Welt.
*Rasheed Ahmed ist Exekutivdirektor des Indian American Muslim Council. Die in diesem Kommentar geäußerten Ansichten spiegeln nicht notwendigerweise die institutionelle Haltung des Religion News Service wider.