Erdoğan und der neue Lösungsprozess

Erdoğans jüngste Reden und konkrete Schritte zeigen, dass der Wille zur Lösung nicht nur ein „Rhetorikspiel“, sondern zugleich eine „Strategie“ für die Zukunft des Landes ist. Die heute zu stellende Frage lautet daher: „Wird die Türkei diesmal in der Lage sein, die Lösung im gemeinsamen Konsens zu tragen?“ Die Einrichtung eines Parlamentsausschusses (TBMM-Kommission) deutet weitgehend darauf hin, dass diese Frage positiv beantwortet werden kann.
September 3, 2025
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Die Schritte, die in der demokratischen Entwicklung der Türkei nach 2003 unternommen wurden, markieren insbesondere im Kontext der Kurdenfrage einen bedeutenden Bruch. Die Reformwelle, die mit den Anpassungspaketen der Europäischen Union begann, die Neuerungen im Bereich der Sprach- und Kulturrechte sowie die Regelungen, die den Raum für demokratische Politik erweiterten, spiegelten sowohl den Zeitgeist als auch die Demokratisierungsperspektive der AKP wider. Unter der politischen Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan waren diese Schritte nicht nur Ausdruck einer außenpolitischen Vision, sondern auch ein Zeichen des Willens zur Herstellung inneren Friedens.

Die kritischste Initiative jener Zeit war zweifellos zunächst die „Öffnung“ und anschließend der sogenannte „Lösungsprozess“. Das vorrangige Motiv dieses Prozesses bestand darin, die Waffen zum Schweigen zu bringen und der Politik den Vorrang zu geben. Allerdings entsprach die Herangehensweise der PKK nicht den Erwartungen der Türkei. Gestützt auf das Selbstvertrauen, das sie aus der territorialen Kontrolle während des syrischen Bürgerkriegs gewonnen hatte, verzichtete die Organisation auf einen Waffenstillstand. Wenn Sie sich an diese Tage erinnern, wurden unter Anweisung der Organisation in zahlreichen Städten Autonomiegebiete ausgerufen – ein Versuch, parallele Machtstrukturen zu etablieren. Es wurden Gräben ausgehoben, um „befreite Städte“ zu schaffen, und die Strategie des „ländlich basierten städtischen Guerillakriegs“ der PKK wurde umgesetzt. Dies waren die entscheidenden Entwicklungen, die den Geist des Lösungsprozesses vergifteten.

Trotz all dessen wurde die Rolle der Organisation beim Scheitern des Prozesses kaum thematisiert. Autonomieerklärungen, Stadtgefechte und Kontakte zu ausländischen Geheimdiensten wurden ignoriert, während Erdoğan zum Sündenbock gemacht wurde. Ohne konkrete Gründe für das Scheitern des Prozesses darzulegen, dominierte ein einseitiger Schuldvorwurf im In- und Ausland. Dies schuf eine dauerhafte Wahrnehmung, die Erdoğans Aufrichtigkeit in der Kurdenfrage infrage stellte.

Auch in den aktuell wieder diskutierten Lösungsdebatten wird dieselbe Frage gestellt: „Will Erdoğan wirklich eine Lösung oder nicht?“

Erdoğans Signale zum neuen Prozess

In den letzten Jahren, in einer Zeit wachsender Sicherheitsrisiken für die Türkei durch regionale und globale Entwicklungen, darunter die von Israel unter US- und EU-Unterstützung durchgeführten Besetzungen und Völkermorde, gewinnt die innere Einheit der Türkei an strategischer Bedeutung. Eine Reihe von Reden und konzeptuellen Rahmen, die Erdoğan nach August 2024 gehalten hat, unterstreichen diese Realität deutlich.

In seiner Rede in Ahlat im August 2024 sprach Erdoğan globale Risiken an und vermittelte zugleich eine Botschaft der Einheit: „Wir, die Weggefährten, Mitstreiter und Schicksalsgenossen des Jahrtausends, schreiten nun gemeinsam in die Zukunft. Jeder soll wissen: Wir sind 85 Millionen, wir sind eins, wir sind ein Herz.“ Dieser Satz zeigt, dass Erdoğan den Lösungsprozess als gesellschaftliche Mobilisierung betrachtet – nicht nur als „Terrorfrage“, sondern auch als strategisches Sicherheits- und Solidaritätsproblem der Gesellschaft.

In seiner Rede zum 30. August 2024, dem Tag des Sieges, betonte er die strategische Bedeutung nationaler Einheit und gesellschaftlicher Stabilität. Erdoğan unterstrich, dass die innere Einheit unverzichtbar sei, während die Türkei ihre großen Ziele verfolgt.

Die Eröffnungsrede des Parlaments am 1. Oktober 2024 drehte sich um Demokratisierung und innere Konsolidierung. Erdoğan vermittelte hier die Botschaft, dass „Demokratisierung und nationale Sicherheit kein Widerspruch sind“ und legte damit das intellektuelle Fundament für den neuen Prozess.

Diese Erklärungen zeigen, dass Erdoğan der Architekt des heute laufenden Prozesses ist und eine ernsthafte Haltung gegenüber der Lösung einnimmt. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Prozess nicht nur auf rhetorischer Ebene geführt wird, sondern auch durch institutionelle und politische Schritte gestützt wird.

Erste Schritte

Tatsächlich zeigte nach der Eröffnungsrede des Parlaments, dass sich ein neuer politischer Ton entwickelt, als MHP-Vorsitzender Devlet Bahçeli den Abgeordneten der DEM-Partei die Hand schüttelte. Bahçelis Aussage auf die Frage von Journalisten, „Die Reden unseres Präsidenten haben mich begeistert“, war ein deutliches Signal dafür, dass die Allianz der Parteien gemeinsam den Weg für den Prozess öffnete. Dass AKP-Generalsekretär Efkan Âlâ bei diesem Treffen anwesend war, verdeutlichte, dass die Partei auf institutioneller Ebene den Prozess unterstützt.

Darüber hinaus beschränkte sich Präsident Erdoğan nicht nur auf Rhetorik. Er setzte auch die kritischste Institution des Staates in Bewegung: Er beauftragte den Präsidenten des Nationalen Nachrichtendienstes, İbrahim Kalın, mit dem neuen Lösungsprozess und gab Anweisungen für die Durchführung der Gespräche. Dies war ein konkreter Schritt über die reine Absicht hinaus. Die darauf folgenden Kontakte, Verhandlungen und Anzeichen politischer Entspannung bilden die Chronologie des Prozesses.

Trotz dieses Bildes hält sich in der Öffentlichkeit noch immer die Wahrnehmung, „Erdoğan wolle eigentlich keine Lösung, er gewinne nur Zeit“. Betrachtet man jedoch Erdoğans Reden, die Aktionen seiner politischen Partner und die institutionellen Schritte, wird die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität deutlich. Die Infragestellung seiner Aufrichtigkeit beruht größtenteils auf politischen Positionen und ideologischen Vorurteilen. Diese Vorurteile sind so stark, dass manche nicht einmal hören wollen, dass Erdoğan den Prozess als „unser größtes Werk“ bezeichnet.

Starke Führung und die Lösung

Die Geschichte zeigt, dass bei tiefgreifenden gesellschaftlichen Konflikten meist starke Führer entscheidend sind. Beispiele wie Nelson Mandela in Südafrika, Gerry Adams von Sinn Féin in Irland, Tony Blair in Großbritannien oder Juan Manuel Santos in Kolumbien verdeutlichen, dass Lösungen Mut, Entschlossenheit und die Bereitschaft zu politischen Risiken erfordern. Schwache Regierungen, fragile Koalitionen oder temporäre Bündnisse sind oft nicht in der Lage, solche Schritte zu gehen.

Deshalb ist es bedeutsam, dass starke Führungspersönlichkeiten wie Erdoğan und Bahçeli Initiative bei der Entwaffnung der PKK ergreifen. Das bedeutet nicht, dass Erdoğan keiner Kritik ausgesetzt ist. Im Gegenteil: Eine kritische Öffentlichkeit ist für einen gesunden und partizipativen Prozess unverzichtbar. Gleichzeitig erfordert es aber auch, der initiierenden Entschlossenheit Anerkennung zu zollen und die Willenskraft zum Start des Prozesses nicht zu unterschätzen. Denn historische Probleme eines Landes zu lösen, bedeutet nicht nur „gute Absichten“ zu haben, sondern auch stark zu sein und bereit zu sein, nötigenfalls einen Preis zu zahlen.

Ein Prozess jenseits der Aufrichtigkeitsdebatte

Seit Beginn der 2000er Jahre hat die Türkei in der Kurdenfrage mehrfach kritische Schwellen überschritten. Demokratisierungsschritte haben einerseits Lösungsbemühungen eröffnet, andererseits die Fragilität des Prozesses offenbart. Das Scheitern des ersten Lösungsprozesses beruhte weitgehend auf falschen taktischen Schritten der Organisation. Dass jedoch allein Erdoğan verantwortlich gemacht wurde, erzeugte ein verzerrtes Narrativ.

Heute stehen wir vor einem neuen Moment. Erdoğans Reden, Bahçelis Äußerungen, die institutionelle Initiative des Staates und die aufeinanderfolgenden Schritte zeigen, dass die Türkei für einen neuen Prozess vorbereitet ist. Es handelt sich also nicht um eine plötzlich entstandene Situation. Trotzdem hält sich in einigen Kreisen noch die Wahrnehmung, „Erdoğan wolle eigentlich keine Lösung“. Das zeigt, dass die Diskussion über persönliche Aufrichtigkeit den Prozess dominieren kann. Die heutige Notwendigkeit besteht darin, diese Debatte zu überwinden und sich auf gemeinsame Verantwortung zu konzentrieren. Entscheidend ist, dass Erdoğans Entschlossenheit, Schritte für die Lösung zu gehen, anerkannt wird – doch innerer Frieden und Demokratisierung erfordern gemeinsame Verantwortung.

Angesichts der Bedeutung des aktuellen Prozesses sollte die Energie und Zeit nicht auf abstrakte „Aufrichtigkeitsdebatten“ verwendet werden, sondern darauf, dem Prozess Schwung zu verleihen. Die genannten Maßnahmen zur Stärkung der politischen Entschlossenheit müssen umgesetzt werden, und dies ist die Verantwortung von uns allen. Auf eine Anweisung oder ein Signal zu warten, um Position zu beziehen, ist nicht der richtige Ansatz. Der richtige Schritt ist, zu fragen: „Dient diese Handlung unserem Volk und unserem Land?“ Ist die Antwort „ja“, sollte man aktiv am Prozess teilnehmen. Erinnern wir uns: Das Warten oder das Herabsetzen des Prozesses erzeugt, wie in der Vergangenheit, erneut Fragilität. Der richtige Ansatz besteht darin, Fehler zu kritisieren und gleichzeitig richtige Schritte zu unterstützen, den Prozess über politische Positionen hinaus als gesellschaftliches Thema zu betrachten.

Erdoğans jüngste Reden und die konkreten Schritte zeigen, dass der Wille zur Lösung nicht nur ein „Slogan“, sondern eine „Strategie“ für die Zukunft des Landes ist. Die heute zu stellende Frage lautet daher: „Kann die Türkei diesmal die Lösung mit gemeinsamem Verstand annehmen?“ Die Einrichtung des Parlamentsausschusses ist ein deutliches Zeichen dafür, dass diese Frage weitgehend positiv beantwortet wurde. Unsere Aufgabe ist es, diese Haltung weiterzuentwickeln und aufrechtzuerhalten.

Adnan Boynukara

Zwischen 1987 und 2009 arbeitete er als Ingenieur und Manager in verschiedenen Institutionen. Von 2009 bis 2015 war er als Hochberatender bei dem Ministerium für Justiz tätig. In der 25. und 26. Legislaturperiode war er als Abgeordneter der Provinz Adıyaman im türkischen Parlament (TBMM) tätig. Er hat Arbeiten in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Konfliktlösung und Friedensprozesse durchgeführt.

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