Ein Blick auf die Sudan-Krise

Die Krise im Sudan ist nicht nur ein innerer politischer Zusammenbruch, sondern zugleich ein Schauplatz regionaler Rivalitäten. Die USA spielten im Rahmen des Friedensabkommens von 2005 eine aktive Rolle, verringerten jedoch ihr Engagement nach der Unabhängigkeit Südsudans. China verfolgte im Kontext seiner Energiepolitik eine neutrale Haltung und pflegte Beziehungen sowohl zu Khartum als auch zu Juba. Im Gegensatz dazu bauten die Golfstaaten, insbesondere die Vereinigten Arabischen Emirate, über den Goldhandel des Sudan wirtschaftliche Verbindungen zu den RSF auf. Diese Verbindungen stärkten die finanzielle Autonomie der RSF und trugen so indirekt zur Aufrechterhaltung des Bürgerkriegs bei.
November 1, 2025
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Der Sudan liegt im Herzen des afrikanischen Kontinents und stellt eines der markantesten Beispiele für die historische, kulturelle und wirtschaftliche Übergangszone zwischen der arabischen Welt und dem subsaharischen Afrika dar. Diese geografische Hybridität bildet zugleich die Grundlage für die anhaltende Fragilität des Landes im Verlauf seiner Geschichte. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956 konnte der Sudan aufgrund kolonialer Erbschaften – regionaler Ungleichheit, identitärer Spaltungen und einer zentralisierten Verwaltungstradition – keine stabile institutionelle Einheit aufbauen.

Der heutige Bürgerkrieg im Sudan stellt eine neue Phase dieser historischen Kontinuität dar. Der 2023 ausgebrochene Konflikt zwischen der sudanesischen Armee (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) ist nicht nur Ausdruck eines Machtkampfes, sondern die direkte Folge des institutionellen Zerfalls, der mit der Abspaltung Südsudans im Jahr 2011 begann. Diese Abspaltung entzog dem Staat seine wirtschaftliche Grundlage, schwächte die zentrale Autorität und verfestigte die Rivalität zwischen den Sicherheitsorganen dauerhaft.

Das Beispiel des Sudan verdeutlicht drei grundlegende strukturelle Probleme, mit denen viele postkoloniale Staaten konfrontiert sind:
(1) eine Identitäts- und Repräsentationskrise,
(2) Ressourcenabhängigkeit und wirtschaftliche Verwundbarkeit,
(3) die politische Dominanz des Sicherheitssektors.
Der vorliegende Text verfolgt das Ziel, den Weg in die aktuelle Krise im Lichte dieser Aspekte zu beleuchten.

Historische Grundlagen und Wurzeln der Spaltung

Die ethnisch-religiöse Vielfalt des Sudan ist das Ergebnis bewusster kolonialer Politik. Unter britischer Herrschaft wurden der Norden und der Süden des Landes getrennt verwaltet: Während der Norden stärker in den arabisch-islamischen Kulturraum integriert wurde, öffnete der Süden sich durch christliche Missionare dem Westen. Diese duale Struktur machte eine nationale Integration nach der Unabhängigkeit nahezu unmöglich.

Ende der 1950er Jahre führte der Versuch der arabisch geprägten Eliten des Nordens, einen islamzentrierten Nationalstaat zu errichten, zur Marginalisierung der afrikanischstämmigen Bevölkerungsgruppen im Süden. Der 1955 ausgebrochene erste Bürgerkrieg war im Kern die Folge dieser ungleichen Repräsentation. Das Abkommen von Addis Abeba (1972) brachte zwar eine vorübergehende Autonomie, doch die Entscheidung von Präsident Dschafar Nimeiri im Jahr 1983, die Scharia landesweit einzuführen und die Autonomie des Südens aufzuheben, entfachte den zweiten Bürgerkrieg.

In dieser Phase erhielt der Konflikt eine neue Dimension, die ihn von klassischen ethnischen Auseinandersetzungen unterschied: den Kampf um wirtschaftliche Ressourcen. Die Entdeckung der Erdölvorkommen im Süden machte die Region für die Regierung in Khartum zu einer strategischen und finanziellen Priorität. Der Konflikt entwickelte sich so zu einem „ressourcenbasierten Identitätskrieg“. Zwischen 1983 und 2005 kamen über zwei Millionen Menschen ums Leben, und die gesellschaftliche Legitimität des sudanesischen Staates wurde nachhaltig untergraben.

Frieden, Abspaltung und wirtschaftlicher Zusammenbruch

Das Umfassende Friedensabkommen (Comprehensive Peace Agreement, CPA) von 2005 wurde nach 22 Jahren Bürgerkrieg unter Vermittlung der internationalen Gemeinschaft unterzeichnet. Es sah eine sechsjährige Übergangsperiode vor, an deren Ende ein Referendum über die Selbstbestimmung stehen sollte, und regelte zugleich die Aufteilung der Erdöleinnahmen zwischen beiden Seiten. In diesem Rahmen fand das in Artikel 1(2) der UN-Charta verankerte Prinzip der Selbstbestimmung – das Recht der Völker, ihren politischen Status frei zu bestimmen – praktische Anwendung. Im Jahr 2011 erklärte Südsudan mit 98,83 % „Ja“-Stimmen seine Unabhängigkeit.

Diese Abspaltung führte für den Nordsudan jedoch zu einem ökonomischen Desaster. Der Verlust von rund 75 % der Erdöleinnahmen brachte den Staatshaushalt zum Einsturz. Die Regierung versuchte, das Defizit durch Goldabbau und Grenzhandel auszugleichen; doch diese Sektoren gerieten bald unter die Kontrolle bewaffneter Gruppen. Die wirtschaftliche Macht verlagerte sich vom Zentralstaat auf paramilitärische Strukturen. So entwickelte sich der Sudan zu einem Modell dessen, was als „Sicherheitskapitalismus“ bezeichnet wird – einem System, in dem militärische Akteure die Kontrolle über wirtschaftliche Ressourcen ausüben.

Das Regime von Omar al-Baschir errichtete in dieser Phase ein Patronagesystem, das auf den Sicherheitsapparaten beruhte, um seine politische Legitimität zu sichern. Die offizielle Umwandlung der Dschandschawid-Milizen in die Rapid Support Forces (RSF) im Jahr 2013 beendete faktisch das staatliche Gewaltmonopol. Die RSF erlangten rasch ökonomische und militärische Autonomie, wodurch ein inneres Machtgleichgewicht entstand, das den Staat von innen heraus zersetzte.

Von der Abspaltung zum Bürgerkrieg

Nach 2011 befand sich der Sudan nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer institutionellen Krise. Während die öffentlichen Institutionen verfielen, entwickelte sich der Sicherheitssektor zum eigentlichen Machtzentrum des Landes. Der Sudan wurde zunehmend zu einer Föderation von Sicherheitsnetzwerken, die staatsähnliche Strukturen übernahmen.

Ende 2018 wandelte sich die Wirtschaftskrise in landesweite Proteste. Der Sturz von Omar al-Baschir im Jahr 2019 weckte Hoffnung auf einen politischen Neuanfang – eine Hoffnung, die sich jedoch schnell zerschlug. Eine zivile Regierung konnte nicht etabliert werden; stattdessen bildeten die Armee (SAF) und die RSF einen Souveränen Übergangsrat, der jedoch kein institutionell gefestigtes Gebilde war, sondern lediglich einen temporären Machtkompromiss darstellte. Der Streit über die Integration der RSF in die Armee eskalierte schließlich 2023 zu einem offenen Krieg.

Dieser Krieg bedeutet den Selbstzerfall der sicherheitsbasierten Ökonomie, die der Sudan nach 2011 aufgebaut hatte. Die RSF schufen sich durch den Goldhandel und den grenzüberschreitenden Schmuggel eigene Finanzierungsquellen und entwickelten sich zu einem alternativen Machtzentrum neben dem Staat. Der aktuelle Konflikt stellt daher keinen klassischen Regimewechsel, sondern die Militarisierung der inneren Widersprüche des Regimes dar.

Die Präsenz der RSF in Darfur verleiht dem Krieg zudem eine ausgeprägte regionale Dimension. Die in Darfur seit 2003 gegen Zivilisten verübte Massen­gewalt wiederholt sich heute in Städten wie al-Faschir und Nyala. Diese Massaker sind nicht nur Ausdruck ethnischer Spannungen, sondern Teil einer auf ökonomischen Interessen beruhenden Kriegsstrategie, die den Konflikt in einer neuen Form fortsetzt.

Schweigen in den Medien

Bemerkenswert ist, dass die humanitäre Katastrophe im Sudan in der türkischen, arabischen und allgemein islamischen Medienlandschaft nur begrenzt Beachtung findet. Dieses Schweigen lässt sich auf drei strukturelle Faktoren zurückführen: geopolitische Prioritäten, eingeschränkten Informationszugang und Interessenkonflikte.

Erstens nimmt der Sudan in der geopolitischen Wahrnehmung der islamischen Welt eine Randposition ein. Krisen wie in Palästina, Syrien oder Jemen erhalten aufgrund identitärer Nähe weitaus größere mediale Aufmerksamkeit, während der Sudan als „innere Angelegenheit Afrikas“ betrachtet wird.

Zweitens erschweren der Zusammenbruch der Kommunikationsinfrastruktur und die Einschränkungen der Pressefreiheit die Verbreitung verifizierbarer Informationen aus dem Land. Drittens führen die wirtschaftlichen Verflechtungen der Golfstaaten – insbesondere der Vereinigten Arabischen Emirate – mit den Rapid Support Forces (RSF) zu einer indirekten Form der Selbstzensur in den Medien.

Darüber hinaus ist auch das Konzept der „Nachrichtenmüdigkeit“ (news fatigue) im Fall Sudan zutreffend. Die Dauerhaftigkeit langwieriger Krisen verringert das Publikumsinteresse und senkt den Nachrichtenwert für Medienhäuser. Infolgedessen wurde die humanitäre Katastrophe im Sudan von der internationalen Presse in die Kategorie der „stillen Krisen“ gedrängt. Laut UN-Daten waren bis 2025 über 11 Millionen Menschen vertrieben, doch das internationale Echo blieb begrenzt.

Regionale Dimension und äußere Abhängigkeit des Staates

Die Krise im Sudan ist nicht nur ein innerer politischer Zusammenbruch, sondern zugleich ein Feld regionaler Rivalität. Die USA spielten im Friedensprozess von 2005 eine aktive Rolle, reduzierten ihr Engagement jedoch nach der Unabhängigkeit Südsudans deutlich. China verfolgte im Rahmen seiner Energiepolitik eine neutrale Haltung und pflegte seine Beziehungen sowohl zu Khartum als auch zu Juba.

Im Gegensatz dazu bauten die Golfstaaten, insbesondere die Vereinigten Arabischen Emirate, über den Goldhandel wirtschaftliche Beziehungen zu den RSF auf. Diese Verflechtungen stärkten die finanzielle Autonomie der RSF und trugen so indirekt zur Aufrechterhaltung des Bürgerkriegs bei. Zudem zwangen Fragen der Wasserverteilung im Nilbecken sowie das äthiopische GERD-Staudammprojekt (Grand Ethiopian Renaissance Dam) den Sudan dazu, seine Außenpolitik neu entlang der Achsen von Energie- und Wassersicherheit auszurichten.

Unter diesen Bedingungen ist der Sudan längst kein klassischer „Bürgerkriegsstaat“ mehr, sondern ein fragiles Knotenpunktland innerhalb der regionalen Sicherheitsarchitektur.

Schlussfolgerung

Der Sudan stellt zwar eines der wenigen Beispiele dar, in denen Staatsgrenzen in der postsouveränen Ära völkerrechtlich verändert wurden, doch brachte die Abspaltung keine dauerhafte Befriedung, sondern eine anhaltende Auflösung mit sich. Die Unabhängigkeit Südsudans entzog dem Norden seine wirtschaftliche Basis, die anschließend von paramilitärischen Strukturen ausgefüllt wurde.

Der Aufstieg der RSF ist das Ergebnis des Kontrollverlusts des Staates über seine Sicherheitsapparate und der fortschreitenden Militarisierung der Wirtschaft. Der Bürgerkrieg von 2023 markiert den Endpunkt einer langjährigen institutionellen Erosion.

Das Beispiel Sudan liegt an der Schnittstelle von postkolonialem Staatsversagen, Ressourcenabhängigkeit und medialer Gleichgültigkeit. Diese Krise ist nicht nur ein lokales Sicherheitsproblem, sondern zugleich ein Prüfstein für die Gerechtigkeit, Repräsentation und Interventionsfähigkeit des internationalen Systems.

Der Wiederaufbau des Sudan kann nur gelingen, wenn Ressourcen gerecht verteilt, eine inklusive nationale Identität geschaffen und das Engagement der internationalen Gemeinschaft sichtbar wird. Andernfalls droht der Sudan, zur „unsichtbaren Tragödie der Moderne“ zu werden.

Muhammed Ali Acar

Muhammed Ali Acar hat das Studium der Arabischen Sprache und Literatur an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie der Universität Ankara abgeschlossen. Im akademischen Jahr 2013-2014 nahm er im Rahmen des Erasmus-Programms an Kursen im Bereich Arabistik und Islamwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster teil. Als MEB-Stipendiat schloss er 2022 seinen Master in Politikwissenschaft an der Universität Jordanien ab. Derzeit setzt er dort seine Doktorandenausbildung fort. Er spricht fließend Arabisch und beherrscht Englisch und Deutsch auf mittlerem Niveau.

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