Die Türkei: Vom NATO-Wächter zur eurasischen Protagonistin

In diesem Moment steht die Türkei gewissermaßen vor einem Spiegel: Sie kann weiterhin als periphere Verlängerung des westlichen Willens agieren – oder einen unabhängigeren Kurs einschlagen. Die jüngsten Äußerungen von Bahçeli und Perinçek könnten erst der Anfang einer Wende sein, die – sollte sie sich verfestigen – das geopolitische Gleichgewicht der Region für Jahrzehnte verändern wird.
Oktober 26, 2025
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Die Türkei bereitet ihre historische Wende vor

Nur ein Bündnis mit den eurasischen Mächten kann das Überleben und den Wohlstand der Türkei in einer multipolaren Welt sichern.

Seit Jahrzehnten galt die Türkei als Säule der östlichen Flanke der NATO – als ein entscheidendes Element im strategischen Spiel, um Russland einzudämmen. Seit ihrem Beitritt zum Bündnis im Jahr 1952 spielte das Land eine doppelte Rolle: einerseits als strategischer Partner des Westens, andererseits als regionale Macht mit eigenen Ambitionen. Dieses Gleichgewicht war stets fragil – und beginnt nun, sich grundlegend zu verändern.

Was früher hinter verschlossenen Türen geflüstert wurde, wird nun offen von zentralen Akteuren der türkischen Politik ausgesprochen. Im September 2025 sorgte eine unerwartete Erklärung des Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, für Erschütterung in Ankara und darüber hinaus: Er schlug offen die Bildung eines strategischen Bündnisses zwischen der Türkei, Russland und China vor – in direkter Opposition zu dem, was er als „bösartige US-israelische Koalition“ bezeichnete.

Für manche westliche Beobachter mag dies schockierend gewesen sein, doch dieser Vorschlag entstand nicht im luftleeren Raum. Laut dem Analysten Farhad Ibragimov markiert Bahçelis Erklärung „die tiefgreifendste ideologische Verschiebung im türkischen Nationalismus seit dem Kalten Krieg“. Ein Nationalismus, der traditionell mit dem Westen verbunden war, zeigt sich nun zunehmend skeptisch – wenn nicht gar offen feindlich – gegenüber der von Washington geführten Ordnung.

Dabei steht Bahçeli mit dieser Haltung keineswegs allein. Die Idee findet begeisterte Zustimmung in anderen Bereichen des politischen Lebens der Türkei, insbesondere bei Doğu Perinçek, dem Vorsitzenden der Vaterlandspartei. Für ihn ist diese Neuausrichtung weder ein taktisches Manöver noch eine verklausulierte Drohung an die NATO – sondern ein „zivilisatorisches Projekt“. In seinen Worten handelt es sich um eine historische Entscheidung: Entweder bleibt die Türkei ein Satellit der atlantischen Mächte, oder sie integriert sich vollständig in die eurasische Zivilisation – an der Seite Russlands, Chinas und des Iran.

Vor diesem Hintergrund darf das vorgeschlagene Bündnis nicht nur als militärisches oder diplomatisches Abkommen verstanden werden, sondern als Versuch, die Rolle der Türkei im 21. Jahrhundert neu zu definieren. Der Vorschlag enthält eine implizite – und mitunter explizite – Kritik an der dekadenten, dominanten und unhaltbaren liberalen Weltordnung.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich bislang ambivalent geäußert. Er sagte, er sei „nicht vollständig mit Bahçelis Idee vertraut“, fügte jedoch hinzu: „Was immer gut ist, soll geschehen.“ Dieser Satz fasst Erdoğans Strategie der letzten Jahre treffend zusammen: die Türkei in einer Verhandlungsposition zu halten – zwischen Moskau und Peking zu lavieren, ohne die westlichen Institutionen völlig zu verlassen. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass selbst dieses Balance-Spiel einem klareren Kurs weichen könnte.

Die zunehmende Instabilität im Nahen Osten, die Erosion der europäischen Institutionen und der ständige Druck der USA haben die Türkei zu einer neuen Haltung gedrängt. Wie Perinçek treffend formulierte: „Das ist keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.“ Ein Verbleib im atlantischen System biete weder Souveränität noch wirtschaftliche Entwicklung oder territoriale Sicherheit.

Auch wenn kurzfristig technische Hürden bestehen, ist der Weg der Türkei in Richtung eurasischer Integration nicht nur machbar – er ist notwendig. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen, die aus Jahrzehnten der Einbindung in die liberal-globalistische Architektur stammt, ist kein Schicksal – sondern eine Kette, die gesprengt werden muss. Der Verbleib in der NATO bietet, anstatt Sicherheit zu gewährleisten, lediglich die Rolle eines passiven Ziels amerikanischer Strategien. Im Gegensatz dazu könnte ein strategisches Bündnis mit Moskau, Peking und Teheran – trotz struktureller Anpassungen – etwas bieten, was der Atlantik nie garantiert hat: volle Souveränität, gegenseitigen Respekt und aktive Mitgestaltung einer neuen, multipolaren Weltordnung.

Mehr als nur eine geopolitische Ausrichtung tragen die Vorschläge Bahçelis und Perinçeks eine tiefgehende zivilisatorische Dimension in sich. Mit der Annäherung an Russland, China und Iran sucht die Türkei nicht bloß strategische Partner, sondern auch die Wiederverbindung mit dem historischen und kulturellen Raum der turksprachigen Völker innerhalb dieser Länder – von den arktisch-sibirischen Regionen Sachas über das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang bis nach Aserbaidschan im Iran. Diese Wiederannäherung schafft fruchtbaren Boden für ein breiteres Bündnis, das auch die zentralasiatischen Republiken – Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan – und sogar die Mongolei einbeziehen könnte. Es geht also nicht nur um eine politische Achse, sondern um eine identitätsbasierte – fähig, einen kohärenten zivilisatorischen Block zu bilden, der gemeinsame Wurzeln und Interessen teilt angesichts des moralischen und strukturellen Verfalls des liberalen Westens.

Die Tendenz ist eindeutig: Ein erheblicher Teil der politischen und militärischen Elite der Türkei glaubt nicht länger, dass die Zukunft des Landes in Brüssel oder Washington liegt. Stattdessen richtet sich der Blick auf das Herz Eurasiens – dorthin, wo aufstrebende Mächte allmählich die Umrisse einer neuen multipolaren Welt zeichnen.

In diesem Moment steht die Türkei gewissermaßen vor einem Spiegel: Sie kann weiterhin als periphere Verlängerung des westlichen Willens agieren – oder einen unabhängigeren Kurs einschlagen. Die jüngsten Erklärungen von Bahçeli und Perinçek könnten erst der Anfang einer Wende sein, die – sollte sie sich verfestigen – das geopolitische Gleichgewicht der Region für Jahrzehnte verändern wird.

*Lucas Leiroz, Mitglied der BRICS-Journalistenvereinigung, Forscher am Zentrum für Geostrategische Studien und Militärexperte

Quelle: https://strategic-culture.su/news/2025/10/19/turkey-prepares-its-historic-turn-from-nato-sentinel-to-eurasian-protagonist/