Der Sudan erlebt aufgrund des im April 2023 ausgebrochenen und seit über zwei Jahren andauernden Bürgerkriegs eine der verheerendsten Phasen seiner Geschichte. Die Kämpfe zwischen den Sudanese Armed Forces (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) haben zehntausende Menschen das Leben gekostet, Millionen Zivilisten vertrieben und in großen Teilen des Landes den Staatsapparat zum Einsturz gebracht. Hunger, Krankheit und die Zerstörung der Infrastruktur haben das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt – eine Katastrophe, die leider bis heute unvermindert anhält.
Angesichts der entstandenen Verwüstung hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach seiner Rückkehr aus dem Oman die Position der Türkei zu den Entwicklungen im Sudan in einem humanitären und diplomatischen Rahmen erläutert. Angesichts der humanitären Tragödie im Sudan beschrieb Erdoğan Ankaras Ansatz im Sinne strategischer Planung und humanitärer Diplomatie mit folgenden Worten:
„Ohne Plan ist es unmöglich zu handeln. Erst der Plan, dann das Projekt. Das werden wir tun. Schließlich ist der Sudan ein Land, das jederzeit mit der helfenden Hand der Türkei rechnet. Jeder Schmerz, jedes Massaker und jede Tragödie dort zerreißt unser Herz. Zudem gibt es Erwartungen an uns. Als Antwort darauf prüfen wir gemeinsam mit unseren Freunden, welche Art von Unterstützung wir leisten können, und setzen unsere Bemühungen fort. Leider haben in den letzten zwei Jahren tausende Menschen im Sudan ihr Leben verloren. Millionen wurden vertrieben und ins Exil gezwungen. Kinder kämpfen gegen Hunger und Krankheiten. Wir hoffen, dass der Konflikt im Sudan beigelegt und das Blutvergießen unter Brüdern beendet wird. Das Geschehen verletzt zudem das menschliche Gewissen. Wir glauben, dass dieser Konflikt so schnell wie möglich beendet und die Probleme durch Dialog gelöst werden müssen. Wir sind uns bewusst, dass diese Aufgabe schwer ist. Als Türkei können wir nicht tatenlos zusehen. Wir werden unsere diplomatischen Bemühungen fortsetzen, um Frieden und Sicherheit im Sudan zu gewährleisten. Das sudanesische Volk kann sicher sein, dass die Türkei an seiner Seite steht.“
Erdoğans Betonung von „Plan und Projekt“ ist nicht bloß Rhetorik, sondern verweist auf eine geplante, strukturierte Diplomatie. Diese Aussage zeigt, dass die Entwicklungen im Sudan nicht mit hastigen Reaktionen, sondern im Rahmen einer konkreten strategischen Planung angegangen werden sollen.
Hintergrund der Sudan-Krise und die Positionen
Der Bürgerkrieg im Sudan entwickelte sich im Zuge des Übergangsprozesses, der nach dem Sturz des Regimes von Omar al-Baschir im Jahr 2019 begann. In der Übergangsphase arbeiteten SAF und RSF zunächst zusammen mit zivilen Kräften in der provisorischen Regierung. Doch als zentrale Themen wie der Übergang zu einer zivilen Regierung, die Reform des Sicherheitssektors, die Ressourcenverteilung und tief verankerte strukturelle Probleme unlösbar erschienen, eskalierte die Lage in einen bewaffneten Konflikt. Die strukturellen Probleme lassen sich wie folgt zusammenfassen: eine dominierende Putschtradition, militarisierte politische Strukturen, institutionalisierte Diskriminierungen, das Verständnis von Vielfalt als Bedrohung, die Tradition des Staates, Milizen einzusetzen, sowie geografische und administrative Fragmentierung.
Heute ist der Sudan de facto zwischen zwei Autoritäten „geteilt“. Die Armee kontrolliert den Norden und Osten, während die RSF die Region Darfur im Westen sowie Teile des Südens kontrolliert. Die Hauptstadt Khartum und ihre Umgebung stehen zwar unter SAF-Kontrolle, bleiben jedoch weiterhin Kampfzone. Der Krieg läuft so tief gespalten ab, dass es längst nicht mehr nur ein militärischer Kampf ist, sondern ein Konflikt, der die Identität des Landes, die Zukunft des Staates und die geopolitische Balance am Horn von Afrika neu definiert. Daher ist der Konflikt nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen SAF und RSF. Mittlerweile kämpfen zwei große bewaffnete Allianzen gegeneinander: eine aus 18 Gruppierungen, die sich um die SAF geschart haben, und eine aus 19 Gruppierungen, die die RSF unterstützen.
Ein weiterer komplexer Faktor ist die regionale Einflussnahme. Die am Konflikt beteiligten Länder verfolgen unterschiedliche Agenden, die den Konflikt zusätzlich verschärfen. Manche verfolgen Sicherheitsinteressen, andere wirtschaftliche Vorteile oder wollen Einflusszonen ausbauen. Damit wird die Krise im Sudan nicht nur zu einem lokalen, sondern zu einem geopolitischen Machtkampf. Vor diesem Hintergrund ist Erdoğans Erklärung wichtig, um Ankaras Position zu verstehen: Die Türkei folgt einer Linie, die weder Partei ergreift noch eigene Machtziele verfolgt, sondern auf Dialog und Frieden setzt. Dass in Erdoğans Aussage ausschließlich vom „Frieden des sudanesischen Volkes“ die Rede ist, verdeutlicht diesen Unterschied. Daraus lässt sich ableiten, dass Ankara nicht Einfluss ausüben, sondern Frieden schaffen möchte.
Erdoğans Worte, „Jedes Leid, jedes Massaker, jede Tragödie im Sudan schmerzt uns, und das sudanesische Volk kann sich sicher sein, dass wir an seiner Seite stehen“, sind bedeutend. Sie zeigen, dass die Türkei nicht nur ein diplomatischer Akteur ist, sondern auch moralische Verantwortung übernimmt. Eine solche Haltung ist in Konfliktregionen sowohl ethisch als auch strategisch relevant.
Natürlich ist eine solche Herangehensweise vor Ort schwer umzusetzen. Der Konflikt zwischen SAF und RSF ist weniger ein klassischer Bürgerkrieg als vielmehr ein Nullsummenkrieg, in dem zwei große Bündnisse versuchen, einander vollständig auszuschalten. Die bisherigen Verhandlungen zeigen, dass die Idee einer Rückkehr zum politischen Übergangsprozess noch nicht gereift ist. Beide Seiten glauben weiterhin, den Krieg gewinnen zu können, um stärker an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Diese unrealistische Haltung erschwert Vermittlungsversuche erheblich.
Gerade diese Situation eröffnet Ankara jedoch die Chance, als neutraler, aber einflussreicher Akteur hervorzutreten. Denn Erdoğans Erklärung zeigt, dass die Türkei nicht den Sieg einer der Parteien, sondern den Aufbau eines dauerhaften Friedens priorisiert. Ebenso deutet seine Betonung „erst der Plan, dann das Projekt“ darauf hin, dass der türkische Ansatz im Sudan nicht nur diplomatisch ist, sondern auch eine operative Strategie umfasst, die sowohl humanitäre Hilfe als auch staatlichen Wiederaufbau einschließt.
Geplante Diplomatie: Eine Dreistufen-Friedensagenda
Erdoğans Aussage „erst der Plan, dann das Projekt“ könnte die Grundlage des türkischen Ansatzes für den Sudan bilden. Dieser Plan könnte sich an einer dreistufigen Friedensagenda orientieren:
1. Erste Phase: Humanitärer Waffenstillstand und vertrauensbildende Maßnahmen.
Dieser Schritt umfasst den Schutz von Zivilisten und die ungehinderte Versorgung aller Sudanesinnen und Sudanesen mit humanitärer Hilfe. Institutionen wie AFAD, TİKA und der Rote Halbmond verfügen über starke Strukturen, die Ankaras Wirken vor Ort unterstützen können. Die humanitäre Hilfe bildet gleichzeitig die erste Stufe des diplomatischen Vertrauensaufbaus.
2. Zweite Phase: Politische Übergangsverhandlungen.
Die Türkei kann in Abstimmung mit den Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union, IGAD und den relevanten Staaten politische Verhandlungen über eine Übergangsregierung und einen Wahlprozess unterstützen. Dabei sollte Ankara weniger als „Vermittler“ auftreten, sondern als „Ermöglicher“, der zu beiden Seiten Vertrauen hat. Dieses Vertrauen ist entscheidend, um den Verhandlungstisch aufrechtzuerhalten.
3. Dritte Phase: Wiederaufbau, Staatsaufbau und Entwicklung.
Der Konflikt im Sudan ist weder neu noch zufällig entstanden. Er hat sowohl historische Wurzeln als auch strukturelle Ursachen. Ein dauerhafter Frieden erfordert daher nicht nur militärische oder politische Entscheidungen, sondern einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Bevölkerung kämpft buchstäblich zwischen Krieg und existenzieller Not ums Überleben. Eine Lösung ist nur möglich, wenn institutionelle Probleme behoben, wirtschaftliche Entwicklung gesichert, ein funktionierender Staatsaufbau gewährleistet und soziale Stabilität gestärkt werden. Die Türkei – ebenso wie andere beteiligte Länder, sofern sie ihre Eigeninteressen zurückstellen – verfügt über die Kapazität dazu. Ankara könnte damit nicht nur diplomatisch, sondern auch praktisch zu einem Architekten des Friedens werden.
Diese dreistufige Herangehensweise könnte die konkrete Umsetzung von Erdoğans „Plan“-Vermächtnis darstellen. Entscheidend ist, neben Waffenstillstand und humanitärer Hilfe auch die Ursachen des Konflikts, die strukturellen Probleme und die Bedingungen für nachhaltigen Frieden zu adressieren. Ebenso wichtig ist ein Lösungsrahmen, der alle relevanten sudanesischen Akteure einschließt. Andernfalls könnte sich der Konflikt in neue Krisen verwandeln und ein dauerhafter Frieden unerreichbar bleiben.
Moralische Diplomatie und Strategische Tiefe
Es ist offensichtlich, dass Ankaras Ansatz gegenüber dem Sudan über das klassische Diplomatieverständnis hinausgeht. In diesem Ansatz ist Diplomatie nicht nur Ausdruck von Interessen, sondern auch von moralischer Verantwortung. Die in Erdoğans Rhetorik deutlich erkennbare „Sprache des Gewissens“ verleiht der türkischen Außenpolitik einen humanitären Rahmen. In einer Zeit, in der globale Großmächte in Konfliktgebieten meist von machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen geleitet handeln, verschafft Ankaras gewissensorientierter Ansatz der Türkei einen strategischen Vorteil. Damit tritt Ankara sowohl in Bezug auf humanitäre Legitimität als auch auf diplomatische Glaubwürdigkeit hervor – als Vertreter von Gerechtigkeit, humanen Werten und Dialog.
Klar ist: Der anhaltende Bürgerkrieg im Sudan ist nicht nur eine Tragödie eines einzelnen Landes, sondern eine, die das Gewissen der gesamten Menschheit auf die Probe stellt. Tausende Zivilisten verlieren ihr Leben, Millionen werden vertrieben, und dennoch bleibt die internationale Gemeinschaft häufig in eigennützigen Kalkülen gefangen – ein großes Problem. Dass Ankara deutlich macht, keine Agenda außer der „Herstellung des Friedens“ zu verfolgen, stellt eine alternative Perspektive gegenüber der interessengeleiteten Natur des globalen Systems dar. Präsident Erdoğans Worte „Das sudanesische Volk kann sicher sein, dass die Türkei an seiner Seite steht“ fassen diese Vision prägnant zusammen. Mit dieser Aussage betont Erdoğan, dass die Türkei keine interessengetriebene, sondern eine humanitäre Außenpolitik verfolgt und Verantwortung für die Sicherung des Friedens im Sudan übernimmt.
Diese Worte sind jedoch nicht nur eine diplomatische Botschaft, sondern zugleich ein politisches Manifest des globalen Gewissens. Die Rolle, die die Türkei im Sudan und in ähnlichen Krisenregionen übernehmen kann, wäre nicht bloß ein diplomatischer Erfolg, sondern auch ein Beitrag zur Verteidigung der menschlichen Würde. Denn angesichts des Leids des sudanesischen Volkes wird deutlich, dass echter Frieden nicht nur im Schweigen der Waffen besteht, sondern auch darin, dass das Gewissen der Menschheit wieder zu Wort kommt. Ankara sollte die Verantwortung übernehmen, diese Stimme zu sein, und die notwendigen Schritte für die Menschen im Sudan einleiten.
