Der sogenannte Waffenstillstand in Gaza war keineswegs das tatsächliche Ende der Feindseligkeiten, sondern eine strategische und zynische Veränderung in Israels Genozid- und Zerstörungskampagne.
Am 10. Oktober, dem ersten Tag des verkündeten Waffenstillstands, vollzog Israel einen taktischen Wandel: von wahllosen Luftangriffen hin zu einer gezielten, ingenieurtechnisch geplanten Zerstörung von Wohnhäusern und lebenswichtiger Infrastruktur. Satellitenbilder sowie nahezu stündlich veröffentlichte Medien- und Feldberichte bestätigten diesen systematischen Kurswechsel.
Während sich die direkten Kampftruppen scheinbar in das angrenzende Gebiet „Gaza-Umfeld“ zurückzogen, rückte eine neue israelische Speerspitze östlich der sogenannten Gelben Linie vor – und beseitigte dort systematisch jede verbliebene Spur von Leben, Verwurzelung und Zivilisation nach dem israelischen Genozid. Zwischen dem 10. Oktober und dem 2. November zerstörte Israel mithilfe spezieller militärischer Ingenieurseinheiten 1.500 Gebäude.
Die Waffenstillstandsvereinbarung teilte Gaza in zwei Hälften: Den westlich der Gelben Linie gelegenen Teil, in dem die Überlebenden des israelischen Genozids eingesperrt sind, und das größere östliche Gebiet, in dem die israelische Armee weiterhin aktiv militärisch präsent ist und ihre Operationen ohne Konsequenzen fortsetzt.
Hätte Israel tatsächlich beabsichtigt, dieses Gebiet gemäß der vereinbarten zweiten Phase des Waffenstillstands zu räumen, würde es die systematische und strukturelle Zerstörung dieser ohnehin verwüsteten Region nicht aktiv weiterführen. Es ist offensichtlich, dass Israels Absichten weit hinterhältiger sind: Das Gebiet soll dauerhaft unbewohnbar gemacht werden.
Neben der Einebnung der Infrastruktur führt Israel weiterhin unablässige Luft- und Seeangriffe durch, die besonders Rafah und Chan Yunis brutal treffen. Später – und noch intensiver – begann Israel auch jene Zonen anzugreifen, die theoretisch unter Kontrolle der Palästinenser in Gaza stehen sollten.
Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium in Gaza wurden seit Beginn des sogenannten Waffenstillstands 260 Palästinenser getötet und 632 verletzt.
In der Praxis bedeutet dieser Waffenstillstand einen einseitigen Waffenstillstand, in dem Israel seinen erbarmungslosen, niedrigintensiven Krieg gegen Gaza ununterbrochen fortsetzen kann, während den Palästinensern systematisch das Recht auf Gegenwehr und Selbstverteidigung entzogen wird. So ist Gaza gezwungen, den gleichen tragischen Kreislauf seiner gewaltvollen Geschichte erneut zu durchleben: eine schutzlose, verarmte Region, gefangen unter dem Druck israelischer Militärstrategien, die jenseits der Grenzen des Völkerrechts agieren.
Bevor Israel 1948 auf den Ruinen des historischen Palästina gegründet wurde, wurden die Grenzen Gazas nicht durch militärische Erwägungen festgelegt. Die Region Gaza – eine der ältesten zivilisatorischen Landschaften der Welt – war stets Teil eines größeren geografischen und sozioökonomischen Raums.
Bevor die Briten diesem Gebiet zwischen 1920 und 1948 den Namen „Gaza-Gebiet“ gaben, betrachteten die Osmanen es als Unterbezirk (Kaza) innerhalb des größeren Jerusalemer Mutasarrıflıks (des eigenständigen Jerusalemer Bezirks).
Doch selbst diese britische Bezeichnung isolierte Gaza nicht vom restlichen palästinensischen Raum, denn die Grenzen des neuen Bezirks reichten im Norden bis Al-Majdal (dem heutigen Aschkelon), im Osten bis Bir al-Saba’a (Be’er Scheva / Birüssebi) und im Süden bis zur Rafah-Linie an der ägyptischen Grenze.
Nach den Waffenstillstandsabkommen von 1949, die die Grenzen nach der Nakba kodifizierten, begann das kollektive Leid – wie in den drastisch verkleinerten Grenzen Gazas sichtbar wurde – in voller Intensität. Das weitläufige Gaza-Gebiet wurde gnadenlos auf den Gazastreifen reduziert, der nur 1,3 % der Gesamtfläche des historischen Palästina ausmacht. Seine Bevölkerung explodierte durch mehr als 200.000 verzweifelte Flüchtlinge, die infolge der Nakba dorthin strömten. Diese Geflüchteten und ihre Nachkommen sind mittlerweile seit über 77 Jahren in diesem schmalen Landstreifen eingesperrt.
Als Israel Gaza im Juni 1967 dauerhaft besetzte, wurden die Gaza von Palästina und der arabischen Welt trennenden Grenzen zu einem festen und dauerhaften Bestandteil der Region. Kurz nach der Besetzung begann Israel, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser weiter einzuschränken und Gaza in mehrere Zonen aufzuteilen. Die Größe und Lage dieser inneren Grenzen wurde im Wesentlichen durch zwei Hauptziele bestimmt: die palästinensische Gesellschaft zu fragmentieren und gefügig zu machen sowie militärische „Pufferzonen“ um israelische Armeestützpunkte und illegale Siedlungen zu errichten.
Zwischen 1967 und Israels sogenanntem „Rückzug“ aus Gaza errichtete Israel 21 illegale Siedlungen sowie zahlreiche militärische Korridore und Kontrollpunkte: So wurde der Gazastreifen faktisch zweigeteilt, und etwa 40 % seines Territoriums wurden beschlagnahmt.
Nach der erneuten Stationierung behielt Israel seine absolute und einseitige Kontrolle über Gazas Grenzen, den Zugang zum Meer, den Luftraum und sogar über die Bevölkerungsregister. Zudem errichtete Israel innerhalb Gazas eine weitere schwer befestigte „Pufferzone“, die sich entlang der nördlichen und östlichen Grenzen schlängelte. In diesem Gebiet wurden Hunderte unbewaffnete Demonstrierende, die es wagten, sich der häufig als „Todeszone“ bezeichneten Grenzlinie zu nähern, kaltblütig getötet und Tausende verletzt.
Selbst das Meer vor Gaza wurde de facto verboten. Die Fischer wurden auf unmenschliche Weise in Zonen eingeschlossen, die manchmal nicht einmal drei Seemeilen breit waren, während sie gleichzeitig von der israelischen Marine eingekesselt wurden. Die Marine eröffnete routinemäßig das Feuer auf Fischer, versenkte ihre Boote und nahm die Besatzungen willkürlich fest.
Die neue Gelbe Linie von Gaza ist das jüngste und zugleich schwerwiegendste Beispiel einer langen Reihe harter und erbarmungsloser militärischer Grenzziehungen, die darauf abzielen, das Leben der Palästinenser unmöglich zu machen. Doch die aktuelle Linie ist noch schlimmer als ihre Vorgänger, weil sie die vertriebene Bevölkerung in einem völlig zerstörten Gebiet erstickt – einem Gebiet ohne funktionierende Krankenhäuser und in dem lebenswichtige Hilfe nur in winzigen Mengen eintrifft.
Für die Palästinenser, die über Generationen hinweg gegen Einkerkerung und Zersplitterung ankämpfen mussten, stellt diese neue Regelung die unerträgliche und unvermeidliche Folge einer über Generationen reichenden Enteignung dar.
Wenn Israel glaubt, diese neue Grenze Gazas als dauerhaften Status quo aufzwingen zu können, werden die kommenden Monate zeigen, wie verheerend falsch diese Annahme ist. Tel Aviv hat eine viel schlimmere und von Natur aus instabile Version der Gewaltspirale wiederhergestellt, die schon vor dem 7. Oktober und dem darauf folgenden Genozid existierte. Selbst jene, die nicht mit der tiefen und schmerzvollen Geschichte Gazas vertraut sind, müssen verstehen: Die Aufrechterhaltung der Gelben Linie von Gaza ist nichts anderes als eine gefährliche und blutige Illusion.
Quelle: https://znetwork.org/znetarticle/the-new-kill-zone-gazas-borders-after-the-ceasefire/
