Die Last des Weißen Mannes

Im Namen des Kampfes gegen den Terror den Islam und die Muslime zu dämonisieren, spielt extremistischen Gewalttätern in die Hände und entfremdet jene Muslime, die sich gegen Gewalt stellen.
Juli 31, 2025
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„Nicht alle Kulturen sind gleich.“ Als wir solche Aussagen zuletzt hörten, verwüsteten westliche Kolonialmächte im Namen der Zivilisation weite Teile der Welt – vom Nahen Osten über Afrika bis nach Australien. Heute kehrt dieses Narrativ zurück, diesmal im Eifer, neue Feindbilder zu schaffen, den Islam zu attackieren und Muslime zu dämonisieren.

Seit der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump forderte, „die Einreise von Muslimen in die USA vollständig und vorübergehend zu stoppen“, hat die anti-islamische Hysterie eine neue Dimension erreicht. Diskriminierende und rassistische Äußerungen sind zur Normalität geworden. Besonders muslimische Frauen sind vermehrt verbalen und physischen Angriffen ausgesetzt – ein drastischer Anstieg wurde nur wenige Tage nach dem Terroranschlag im kalifornischen San Bernardino verzeichnet. Die Islamophobie-Industrie ist erneut in Bewegung gesetzt worden.

Die Hysterie ist mittlerweile so weit verbreitet, dass amerikanische Journalist:innen nur wenige Minuten nach dem Anschlag von San Bernardino auf gezielte Falschmeldungen hereinfielen – etwa, dass der Täter „Tayyeep bin Ardogan“ heiße. Dieser frei erfundene Name, der in keiner arabischen oder sonstigen muslimischen Sprache Sinn ergibt, fand ohne jede Überprüfung seinen Weg in die Mainstream-Medien. Wenn es um den Islam geht, scheinen selbst grundlegende journalistische Standards ausgesetzt zu werden.

Die kleinen Trumps dieser Welt haben sich mit ihren eigenen Spielarten religiösen und kulturellen Rassismus’ diesem Wahnsinn angeschlossen. So schrieb etwa Australiens abgesetzter Premierminister und praktizierender Katholik Tony Abbott in einem Beitrag für die Zeitung Australian Telegraph, der Westen müsse seine „Überlegenheit gegenüber dem Islam erklären“, da laut ihm „nicht alle Kulturen gleich sind“. Abbott argumentierte weiter, dass ein Zusammenprall der Zivilisationen unvermeidbar sei, solange sich der Islam nicht grundlegend ändere.

Dass ein solch offen rassistischer und überheblicher Diskurs ausgerechnet aus einem Land wie Australien kommt, das sich selbst für seine Multikulturalität rühmt, ist zutiefst schockierend. Doch hinter Tony Abbotts absurden Aussagen verbirgt sich die schmerzhafte Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus. Anstatt sich selbst zu erhöhen, sollten Herr Abbott und seinesgleichen erst einmal die jahrzehntelange Kolonialisierung und Ausbeutung der Aborigines auf eigenem Boden aufarbeiten, bevor sie anderen Vorträge über Kultur, Ethik und Zivilisation halten.

Trumps und Abbotts Strategie ist es, in westlichen Gesellschaften apokalyptische Narrative zu entwerfen – von einem ultimativen Kampf zwischen dem vermeintlich absolut Guten und dem absolut Bösen –, indem sie die tiefsten Ängste gewöhnlicher Bürger:innen schüren. Ironischerweise spielen sie diese Rassismus-Karte in Ländern wie den USA, die selbst Nationen von Migrant:innen sind. Durch die Stigmatisierung bestimmter Gruppen wie der Muslime geben sie ihren Anhängern zu verstehen, dass Multikulturalität etwas Gefährliches sei – etwas, das es zu vermeiden gelte. Und doch behauptet Trump, all das geschehe, um „Amerika wieder großartig zu machen“. Entweder hat das Wort „großartig“ seine Bedeutung verloren – oder Trump seinen Verstand.

In Wahrheit geht es bei all dem weder um Identität noch um Sicherheit. Es geht um Machterhalt und Einflussgewinn. Schon im 19. Jahrhundert war die sogenannte „Zivilisierungsmission“, mit der westliche Kolonialmächte die „Last des weißen Mannes“ zu rechtfertigen versuchten, weit mehr als eine Frage von Identität oder Sicherheit. Sie war ein ideologisches Instrument, um den Imperialismus als legitim und sogar ehrenhaft erscheinen zu lassen. Vom afrikanischen Kontinent bis nach Indien gingen religiöser und kultureller Rassismus Hand in Hand mit wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Versklavung und Unterdrückung von Millionen Afrikaner:innen, Indigenen Amerikas und Aborigines war genauso Teil dieses Projekts wie der westliche Anspruch, sich selbst als neue Herren der Welt zu etablieren – auf Kosten der Ressourcen und der Würde der kolonisierten Völker.

Heute nutzen Rechtsextreme den Terror nicht, um ihn wirklich zu bekämpfen, sondern um ihre eigene Wählerbasis zu erweitern.
Laut einer aktuellen Studie haben in den USA weiße Suprematisten deutlich mehr Menschen getötet als sogenannte Dschihadisten. Die Zahl der Todesopfer durch häusliche Gewalt, Mord oder Bandenkriminalität übersteigt bei Weitem jene durch Terroranschläge – und viele dieser Verbrechen werden von weißen Christen begangen. Dennoch sind es Muslime, die systematisch stärker stigmatisiert werden als jede andere gesellschaftliche Gruppe. In vielerlei Hinsicht sind Muslime zu den neuen Juden des Westens geworden.

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Dämonisierung des Islam und der Muslime im Namen des „Kampfs gegen den Terror“ genau jenen gewaltbereiten Extremisten in die Hände spielt, die man angeblich bekämpfen will – und zugleich jene Muslime entfremdet, die sich gegen Gewalt stellen. Wenn wir rassistische und diskriminierende Narrative zum Mainstream werden lassen, leisten wir ausgerechnet den Extremisten Vorschub, die wir öffentlich verurteilen.

Wir müssen jede Form von gewalttätigem Extremismus und Terrorismus konsequent ablehnen – und dürfen nicht zulassen, dass kulturelle Argumente als Vorwand dienen, um Hass und Feindseligkeit weiter anzuheizen. Stattdessen sollten wir die Wurzeln des Terrors verstehen. Wie bereits erwähnt, braucht es einen zweigleisigen Ansatz: Einerseits müssen wir die Realitäten vor Ort ernsthaft angehen – etwa den Krieg in Syrien beenden oder die soziale Entfremdung und Online-Radikalisierung in Europa bekämpfen. Andererseits müssen wir für die Herzen und Köpfe der Menschen kämpfen – vor allem junger Menschen, die nicht weitere Kriege, rassistische Herabwürdigung oder islamfeindliche Stereotype brauchen, sondern Bildung, Respekt und Selbstwertgefühl.

Ein guter Anfang für diesen Kampf ist es, politischen Opportunisten – ob von rechts oder links – nicht länger zu gestatten, die Fakten zu verdrehen. Die eigentliche Last des heutigen „weißen Mannes“ besteht darin, zu zeigen, dass Figuren wie Trump, Abbott und ihre geistigen Verbündeten in einer vernünftigen und zivilisierten Welt keinen Platz haben.

Quelle: https://www.dailysabah.com/columns/ibrahim-kalin/2015/12/12/white-mans-burden

Prof. İbrahim Kalın

Prof. Dr. İbrahim Kalın: wurde 1971 in Istanbul geboren. Er absolvierte sein Studium an der Fakultät für Geschichte der Universität Istanbul. Seinen Masterabschluss erwarb er 1994 an der Internationalen Islamischen Universität Malaysia. 2002 promovierte er an der George Washington University und erhielt 2020 den Professorentitel an der İbn Haldun Universität. Er lehrte an verschiedenen Universitäten, darunter Georgetown, Bilkent und İbn Haldun. Zudem war er Mitglied des Kuratoriums der Internationalen Türkisch-Kasachischen Ahmet-Yesevi-Universität sowie der Türkisch-Japanischen Universität für Wissenschaft und Technologie. Im Jahr 2005 gründete er die Stiftung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaftsforschung (SETA) und übernahm deren Leitung. Seine zahlreichen Veröffentlichungen, darunter Artikel, Bücher und Konferenzbeiträge, wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und in internationalen akademischen Fachzeitschriften publiziert. Er hielt Vorträge auf zahlreichen Symposien, Kongressen, Konferenzen und Panels und beteiligte sich an Workshops. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten in den Bereichen türkische Außenpolitik, Politik, Philosophie und Geschichte trug er zur akademischen Literatur bei.

Seit 2009 bekleidete er nacheinander verschiedene hochrangige Regierungsämter: Berater des Premierministers für Außenpolitik, Gründer und Leiter des Koordinationsbüros für öffentliche Diplomatie, stellvertretender Staatssekretär des Ministeriums für Außenbeziehungen und öffentliche Diplomatie, stellvertretender Generalsekretär des Präsidialamtes für Strategie und internationale Beziehungen, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheits- und Außenpolitikrats des Präsidialamtes sowie Chefberater des Präsidenten für Sicherheits- und Außenpolitik.
Neben seinen administrativen Aufgaben war er ab 2014 als Sprecher des Präsidenten tätig – ein Amt, das er bis zu seiner Ernennung zum Leiter des Nationalen Nachrichtendienstes (MİT) innehatte. Seit Juni 2023 ist er Direktor des türkischen Geheimdienstes. Er spricht Englisch, Arabisch, Persisch und Französisch.

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