Der Komfort der Politiklosigkeit: Die nackte Wahrheit der politikfreien Zeit ohne Terror

Dass die PKK die Waffen niederlegt, wird zunächst als eine positive Entwicklung wahrgenommen werden – im Hinblick auf die Verringerung von Sicherheitsrisiken und die Stärkung des gesellschaftlichen Friedens. Zweifellos wird dies an sich schon eine große Veränderung darstellen. Doch diese Entwicklung birgt auch das Potenzial, einen großen Teil der Politik in der Türkei „nackt“ und „unvorbereitet“ dastehen zu lassen. Denn die Politik basiert in weiten Teilen auf Reflexen, die durch den Konflikt entstanden sind. Sie stützt sich nicht auf Inhalte, sondern auf Positionen, nicht auf Visionen, sondern auf Gegensätze.
Juli 9, 2025
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In der Türkei wird die Politik seit vielen Jahren auf einer Grundlage geführt, die Identität betont und dadurch zu Polarisierung führt. Wahlkampagnen, die bei jeder Wahlperiode durch sicherheitszentrierte Rhetorik geprägt sind, verstärken diese Polarisierung zusätzlich. Eines der wirksamsten Themen im Zentrum dieser Polarisierung ist zweifellos die Frage des „Terrors“. Die bewaffnete Präsenz der PKK hat nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch hinsichtlich der politischen Strukturierung zu einem der prägendsten Phänomene der Türkei gehört und die Art des politischen Handelns wesentlich beeinflusst.

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Verzerrungen, die diese Situation hervorbringt, seit Langem übersehen werden. Politische Parteien – insbesondere die im Zentrum positionierten Akteure – haben dank des durch den bewaffneten Terror geschaffenen Klimas eine bequeme, komfortable und inhaltlich schwache Politik bevorzugt. Diese komfortable Politikform hat sich nicht nur auf die Regierungspartei, sondern auch auf die zentristischen Oppositionsparteien ausgewirkt. Ein wenig Rhetorik, ein wenig Pathos – das genügte.

Doch was passiert, wenn die PKK tatsächlich vollständig die Waffen niederlegt?

Das Verschwinden der gewohnten politischen Reflexe, der polarisierenden Sprache und der sicherheitsbezogenen Tagesordnung wird sowohl eine Neugestaltung der Politik als auch der gesellschaftlichen Wahrnehmung erforderlich machen. Der Waffenverzicht der PKK wird zunächst als positive Entwicklung im Hinblick auf die Verringerung der Sicherheitsrisiken und die Stärkung des gesellschaftlichen Friedens wahrgenommen werden. Selbstverständlich stellt dies für sich genommen bereits einen großen Wandel dar. Doch dieser Wandel birgt auch das Potenzial, einen Großteil der Politik in der Türkei „nackt“ und „unvorbereitet“ zurückzulassen. Denn die Politik stützt sich in hohem Maße auf durch Konflikte erzeugte Reflexe. Sie orientiert sich nicht am Inhalt, sondern an der Position, nicht an Visionen, sondern an Gegensätzen.

Der politische Komfort im Schatten des Terrors

Wir wissen, dass die politischen Positionen in der Türkei seit Langem entlang der Achse „wir“ und „die anderen“ bestimmt werden. Die PKK wurde in diesem Gefüge sowohl für die Regierung als auch für die Opposition zu einem funktionalen Element. Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wurde, war dieses Modell für die Parteien von Nutzen – bis es in den Anfangsjahren der AKP durch deren Erfahrungen aufgebrochen wurde. Einerseits wurde zwischen Terror und kurdischer Frage unterschieden, und ein allgemeines Demokratisierungsperspektive wurde entwickelt, das die gesamte Gesellschaft einschließlich der Kurden ansprach. Andererseits wurde der von der Organisation ausgeübte Terror bekämpft. Es wurden eigenständige politische Haltungen entwickelt, die auch ernstzunehmende positive Ergebnisse brachten.

Doch man vergaß, dass das wichtigste Merkmal Ankaras – also des etablierten alten Systems – darin besteht, politische Strömungen, Parteien und Politiker, die mit Unterschieden existieren wollen, umzuwandeln und zu homogenisieren. Von allen Parteien wird erwartet, dass sie statt echter Politik eine Sprache und Haltung wählen, die in das bestehende komfortable Feld passen. Diese bequeme Politikform zeigt sich nicht nur durch inhaltliche Schwächen, sondern auch durch die Schwächung institutioneller Reflexe. Die Forschungsabteilungen, politischen Produktionsmechanismen und intellektuellen Kader der Parteien werden dadurch inaktiv. Wenn man diese Eigenschaft Ankaras nicht ernst nimmt, wird deutlich, dass Parteien mit unterschiedlichen Weltanschauungen auf eine ähnliche Linie gezogen werden und sich anstelle echter Politik für sichere, aber oberflächliche Positionen entscheiden. Für diese Situation lassen sich viele Rechtfertigungen finden.

Ankara nutzt diese Fähigkeit seit Langem über die Gleichung der Terroraktivitäten. Die von der Organisation ausgeübten Terrorakte sind ein funktionales Grundmotiv. Folglich bedeutet Politik im Schatten des Terrors nicht, Strategien zu entwickeln, Lösungen für Probleme zu finden oder den gesellschaftlichen Frieden zu stärken, sondern eine auf Krisenmanagement fokussierte Arbeitsweise. Dies führt nicht zu einer produktiven, sondern zu einer unfruchtbaren politischen Sphäre. Dabei bedeutet echte Politik nicht nur, Wahlen zu gewinnen, sondern auch, in einer sich schnell verändernden Welt Ziele zu setzen, die die Gesellschaft transformieren können.

Doch Ankara konsolidiert sogar die gesellschaftliche Basis der Parteien entlang der erwähnten Gleichung. Statt Probleme zu übernehmen, sie auf die Tagesordnung zu setzen und Lösungen zu erarbeiten, wird ein politisches Zögern „erzwungen“. Auch wenn die Einnahme von Positionen kurzfristig sicher erscheinen mag, kann diese Präferenz langfristig die Fähigkeit aller Parteien zur inhaltlichen Produktion schwächen. Das scheinbar sichere Feld ist zugleich auch ein Feld der „Verantwortungslosigkeit“. Die meisten Parteien empfinden keine Notwendigkeit, eine umfassende, überzeugende und detaillierte Vision für die grundlegenden Probleme des Landes zu präsentieren. Diese Situation wird auch über die Terroraktivitäten und entsprechende Prioritäten legitimiert. Die Atmosphäre, in der Waffen sprechen, erzeugt einen gemeinsamen Druck auf die Politik. Das führt dazu, dass sich die Parteien nicht auf die Lösung, sondern auf das Schweigen und das Beziehen von Positionen beschränken.

Die Leere, die durch eine Entwaffnung offengelegt wird

Ein möglicher Waffenverzicht der PKK würde sowohl das Ende der von mir erwähnten politischen Gleichung in Ankara – also des alten etablierten Systems – bedeuten als auch das Ende der komfortablen Politik. Denn dann wäre die Zeit vorbei, in der man über Terroraktivitäten Wähler konsolidieren und Politik betreiben konnte. Politiker müssten sich durch Lösungsvorschläge, wirtschaftliche und soziale Projekte sowie kulturelle Inklusivität profilieren. In einem solchen Szenario würde Politik nicht nur authentischer, sondern auch schwieriger werden. Die Ära der Politiker, die nichts außer auswendig gelernter Rhetorik beherrschen, würde enden. Es würden nicht mehr künstliche Persönlichkeiten aus Selbstoptimierungsseminaren im Vordergrund stehen, sondern authentische Akteure. Auch der politische Wettstreit selbst müsste auf einem echten Fundament geführt werden.

Darüber hinaus würden sich in einer Zeit ohne Waffen nicht nur die zentristischen Parteien, sondern alle politischen Gruppierungen einer neuen Herausforderung stellen müssen. In einer Umgebung ohne bewaffneten Konflikt müssten sich auch ideologische und identitätsbasierte Parteien neu definieren. Beispielsweise wäre auch die DEM-Partei oder neue mögliche politische Vertreter derselben Linie gezwungen, ihre politische Herangehensweise zu überdenken. Das beschriebene neue politische Klima würde identitätspolitischen Parteien die Möglichkeit eröffnen, ihren Anspruch auf demokratische Legitimität zu stärken. Diese Chance gilt nicht nur für parteinahe zur PKK stehende Gruppen, sondern auch für nationalistische, konservative oder säkular-identitätspolitische Akteure. Das Fehlen von Terror würde es notwendig machen, Identitäten neu zu definieren und Formen der politischen Repräsentation auf ziviler Basis zu transformieren.

Dabei handelt es sich nicht bloß um eine Frage der politischen Positionierung, sondern um einen Prozess der Neugestaltung von Identität und Sprache innerhalb einer demokratischen Politik. Es wird eine Phase eingeleitet, in der sich für alle Seiten das Echte vom Symbolischen und Oberflächlichen trennt. Dementsprechend werden nicht nur die zentristischen Parteien, sondern auch die ideologisch, ethnisch oder identitätsbasiert orientierten Akteure gezwungen sein, sich den neuen Anforderungen zu stellen.

Wir alle beobachten seit Langem, dass sich die zentristischen Parteien weitgehend von echter Politikproduktion entfernt haben. Diese Tendenz betrifft nicht nur die Regierungsparteien, sondern sämtliche seit Jahren relevanten Akteure im politischen Zentrum. Infolgedessen treten bei allen Parteien unterschiedliche Schwächen zutage: Parteien, die politische Bindungen über lokale Dienstleistungen, soziale Hilfen und traditionelle Werte aufbauen, aber in Bezug auf demokratischen Wandel, Freiheit und Multikulturalität schwach bleiben… Parteien, die urbane und säkulare Wählerschichten gut erreichen, aber es nicht schaffen, eine tiefgreifende wirtschaftliche Vision oder eine inklusive Identitätspolitik zu entwickeln… Diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Tatsächlich kann man sagen, dass ein wichtiger Grund für diese Entwicklung auch die Präferenz der Parteien für „Event-Politik“ statt echter politischer Auseinandersetzung ist.

Steriler Wähler und das Problem der Vision

Eine genauere Betrachtung der politischen Auseinandersetzungen im Land zeigt, dass auch das Wählerverhalten zunehmend steril geworden ist. Der sterile Wähler ist ein Profil, das seine politische Entscheidung weitgehend auf identitären Zugehörigkeiten aufbaut und symbolische Repräsentation über politische Inhalte stellt. Dies verringert den Druck auf die Parteien, Rechenschaft abzulegen oder sich politisch zu erneuern. Es verhindert, dass sich die Parteien selbst hinterfragen und Teil einer echten politischen Auseinandersetzung werden. In einem politischen Klima ohne Terror hingegen wird der Wähler beginnen, mehr von den Parteien zu verlangen: Bildungspolitik, Visionen für gleichberechtigte Staatsbürgerschaft, Pläne zur Überwindung regionaler Entwicklungsunterschiede, Demokratisierungsziele, Medienfreiheit, Meinungsfreiheit, Justizreform… kurzum: vollständige Demokratie.

In einem solchen Umfeld wird es nicht mehr reichen, Parteien nach dem Motto „Was machen sie für unsere Gemeinde?“ oder „Besuchen sie unsere Stadt?“ zu bewerten. Es wird ein politisches System notwendig, in dem gefragt wird: „Welche Vision hat diese Partei für das Land, was denkt sie über die Zukunft?“ Auch die politischen Parteien haben eine Verantwortung, die Gesellschaft zu transformieren – nicht nur die Bedürfnisse des Wählers zu erfüllen, sondern ihm auch eine gerechtere, freiere und gleichberechtigtere Zukunft vorzustellen. Genau das wird die größte Herausforderung für die bestehenden Parteien sein.

Zeit, sich der echten Politik zu stellen

Ein Waffenverzicht der PKK wäre eine historische Chance für die Türkei. Doch dieser Moment wird nur dann wertvoll, wenn nicht nur die Waffen schweigen, sondern auch die Politik das Wort ergreift. Für die politischen Parteien – insbesondere die zentristischen – bedeutet dies das Ende ihrer komfortablen Zonen, wie oben beschrieben. Sie müssen Politik entwickeln, die nicht nur aus Aktivitäten besteht, sondern echte Antworten auf gesellschaftliche Bedürfnisse liefert – und das gilt nicht nur für die Regierungspartei, sondern auch für alle Parteien, die sich seit Jahren im Zentrum positionieren.

Ein Türkei ohne Terror wird die politischen Parteien dazu zwingen, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Wer ist visionär, wer reagiert nur? Wer ist inklusiv, wer verschlossen? Wer produziert Politik, wer bezieht lediglich Position? In diesen Spiegel zu schauen, erfordert Mut. Aber es ist an der Zeit, genau dies zu tun. Denn Politik darf sich nicht nur im Antiterrorkampf erschöpfen, sondern muss sich auch mit Gerechtigkeit, Wohlstand, Gleichheit und einer gemeinsamen Zukunftsvision beschäftigen.

Mit dem Ende des Terrors fallen auch die Ausreden der Politik weg. Nicht nur die Politik, sondern auch die Medien, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft müssen auf diese neue Epoche vorbereitet sein. Die chronischen Probleme der Türkei lassen sich nicht länger mit inhaltslosen Debatten, sondern nur durch gemeinsamen Verstand und eine gemeinsame Basis überwinden. Wir wissen sehr genau: Echte Politik bedeutet nicht, nur Position zu beziehen, sondern eine Zukunft zu gestalten, die alle Farben der Gesellschaft trägt.

Vielleicht steht die Türkei erstmals an der Schwelle, Politik nicht mit Angst und Terror, sondern mit Ideen, Hoffnung und gesellschaftlichem Konsens zu gestalten. Diese Schwelle betrifft nicht nur die politischen Parteien – sie betrifft uns alle.

Quelle: perspektifonline.com

Adnan Boynukara

Zwischen 1987 und 2009 arbeitete er als Ingenieur und Manager in verschiedenen Institutionen. Von 2009 bis 2015 war er als Hochberatender bei dem Ministerium für Justiz tätig. In der 25. und 26. Legislaturperiode war er als Abgeordneter der Provinz Adıyaman im türkischen Parlament (TBMM) tätig. Er hat Arbeiten in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Konfliktlösung und Friedensprozesse durchgeführt.

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