Israels Intervention und die Suche nach Stellvertretern
Hikmat al‑Hijri und seine Anhänger, die mit der israelischen Flagge marschieren, üben zwar oft eine radikale Geste aus, doch in der Praxis bedeutet dies weit mehr. Die Flagge ist zudem ein provokativer Hinweis darauf, dass Schutz und Unterstützung von Israel gewünscht werden. Israel hat solche Absichten längst und zeigt sie mit konkreten Maßnahmen – zum Beispiel durch terroristische Angriffe auf Damaskus. Das Ziel: Eine Verbindung zwischen Süden und Norden schaffen und bestimmte Gruppen unter seinen Schutz zu stellen und als Stellvertreter zu „ernennen“.
Der sogenannte „David-Korridor“ wäre theoretisch eine Verbindung, die Druzen im Norden und Süden miteinander verknüpft. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein ethnisches Projekt, sondern potenziell um eine erste Phase eines geopolitischen Puffers oder gar eines alternativen politischen Arrangements zur Assad-Regierung. Es ist jedoch klar, dass die Länder der Region eine solche Entwicklung nicht zulassen würden. Israel agiert seit Jahren überwiegend über Beziehungen zu Monarchien – möglicherweise ist dies das erste Mal, dass es eine Beziehung zu Gruppen anstrebt, die sich auf ihr eigenes Volk berufen. Obwohl die Bevölkerung der Region eine Kooperation mit einem als terroristisch angesehenen Staat, der ganze Landstriche in ein Blutbad verwandelt, ablehnt, gibt es eine gewisse Unsicherheit darüber, ob einzelne Gruppen sich anders verhalten könnten – und ob gesellschaftlicher Widerstand dies verhindern kann.
Würde dieser Korridor tatsächlich geschaffen, könnte Israel seine Sicherheitsstrategie an der Nordgrenze von der libanesisch-syrischen bis zur jordanischen Grenze ausdehnen. Zudem könnte dieser Korridor als konfessioneller Puffer dienen und Israels Wahrnehmung einer „inneren Einkreisung“ entkräften. Entscheidend ist jedoch Israels langfristige Strategie, durch dieses Projekt eine neue Definition von „Gleichgesinnten“ zu etablieren, um seinen regionalen Einfluss zu verstärken. Die gegenwärtigen Beziehungen zu den Druzen scheinen dabei der erste Schritt zu sein.
Das Aufkommen der Stammesgesellschaften
Es ist entscheidend, die gesellschaftlichen Dynamiken in Syrien korrekt zu erfassen. Die Koexistenz aller ethnischen und religiösen Gruppen ist von fundamentaler Bedeutung. Die jüngsten Ereignisse haben jedoch gezeigt, wie Organisationen, die als politische Akteure fungieren, aufeinander treffen. Die aggressiven politischen Aktionen der israelisch unterstützten al‑Hijri-Gruppe wurden am deutlichsten von den arabischen Stammesgemeinschaften in der Wüste beantwortet. Diese Stammesstrukturen bezogen klar Position und zwangen die handelnden Akteure zum Rückzug – und demonstrierten damit, wer die traditionell ausgleichende Kraft in der Region darstellt. Es war ein soziologisches Momentum: Die sunnitischen Araber vergaßen nicht, was sie vom Baath-Regime erlebt haben, und unterstützten den neuen Damaskus-Apparat. Wer über die mögliche Teilung Syriens nachdenkt, muss diese soziale Realität berücksichtigen.
Folgen für die Türkei
Obwohl diese Entwicklungen wie rein syrische Innenpolitik erscheinen mögen, stellen das Bestreben der SDF und deren politische Aggression eine klare strategische Bedrohung für die Türkei dar. Diese Dynamik könnte auch den Prozess der PKK-Entwaffnung unterwandern. Der behutsam geführte Entwaffnungsprozess darf nicht geopolitischen Spielchen oder den Interessen einer gemeinsamen Gegnerin – Israel – geopfert werden. Gerade jetzt, in einer Phase des Abzugs der USA, ist es entscheidend, dass die Türkei ihre Position zu den politischen, militärischen und ideologischen Entwicklungen der SDF klar hervorhebt und verteidigt. Die unmittelbar nach den Gesprächen zwischen al‑Sharaa und Mazlum getätigten öffentlichen Äußerungen offenbaren die wahren Absichten der SDF.
Salih Muslim äußerte: „Wer hat den Präsidenten Syriens (Ahmed al‑Sharaa) gewählt? Niemand außer den Dschihadgruppen. Diese sogenannte Übergangsregierung besteht ausschließlich aus sunnitischen Dschihadisten. Kurden, Jesiden oder andere Gruppen sind nicht dabei. Das akzeptieren wir nicht – wir werden uns nicht fügen.“
Diese Aussagen richten sich nicht nur gegen die Übergangsregierung, sondern generell gegen die arabisch-sunnitische Repräsentanz und tragen eine klar ausschließende Botschaft gegenüber externen Akteuren.
Die SDF und Muslim scheinen zu übersehen, dass die USA und die EU direkt mit al‑Sharaa verhandelten und Sanktionen aufhoben. Diese Rhetorik weckt nicht nur inneren Unmut, sondern schürt auch Bedenken in regionalen und internationalen Kreisen. Das westliche Bild der SDF als säkular-demokratische, egalitäre Kraft bröckelt angesichts ihrer ethnisch-konfessionellen Spaltungsrhetorik und -akzente vor Ort. Solange doppelte Sprache und verdeckte Agenden vorherrschen, schwindet die Bereitschaft regionaler Akteure zu einem konstruktiven Dialog.
Solche Äußerungen zeigen nicht nur eine Distanz zur arabisch-sunnitischen Achse, sondern verstärken auch den Eindruck, dass die SDF darauf aus ist, regionale Strukturen auf Basis ethnischer Identität neu zu gestalten. Eine solche Position wird in den betroffenen Nachbarstaaten kaum Konsens finden. Mit dieser Rhetorik positioniert sich die SDF nicht nur in Opposition zu Damaskus, sondern signalisiert auch ihre Distanz zur syrischen Opposition, die auf der arabisch-sunnitischen Achse basiert, und ihre völlige Offenheit gegenüber externer Kooperation.
Ist eine Lösung möglich?
Die Spannungen in Suwayda sind kein rein lokales Phänomen, sondern ein möglicher regionaler Krisenherd, der ethnisch-konfessionelle Spannungen verstärken kann. Deshalb ist eine vielschichtige Lösung auf verschiedenen Ebenen unerlässlich:
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Lokal: Anerkennung legitimer Forderungen der drusischen Gemeinschaft – ohne separatistische Strömungen zu fördern. Die neue Führung in Damaskus muss transparent und direkt mit sämtlichen Bevölkerungsgruppen in Dialog treten.
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Regional: Türkei, Jordanien, Irak und Libanon sollten auf der Grundlage der syrischen territorialen Integrität eine gemeinsame Strategie entwickeln. Gleichermaßen wichtige ist eine abgestimmte Reaktion auf Israels Versuche, ethnische Einflusszonen durch Stellvertreterstrukturen zu schaffen.
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International: Die Unterstützung der SDF durch USA und EU muss kritisch hinterfragt werden. Diskrepanzen zwischen ihren demokratischen Beteuerungen und tatsächlichen Handlungen sind explizit anzuprangern. Zugleich sollte die neue Regierung in Damaskus gestärkt werden, um Zentralisierung und nationale Einheit zu fördern.
Kurz gesagt: Eine Lösung erfordert einen politischen und soziologischen Ansatz – nicht nur militärische Maßnahmen. Ein besonnenes, aber entschlossenes Vorgehen gegen Provokationen kann den Weg zu dauerhaftem Frieden in Syrien ebnen.
Alte Karten, neue Rechnungen
Hinter der Organisation der Proteste in Suwayda steht ein israelfreundlicher drusischer Scheich. Doch die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass mehrere Gruppen gleichzeitig am Werk sind:
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Die drusische Diaspora im Libanon, in Israel und Europa
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Baath-nahe Elemente im Untergrund
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Kreise, die strategisch mit der SDF kooperieren
Diese Akteure bestimmen über soziale Netzwerke Narrative, mobilisieren gegen Damaskus und gestalten das Geschehen vor Ort. Die öffentlichen Statements der SDF und die Zurschaustellung militärischer Konvois zeigen: Der Suwayda-Konflikt ist kein lokales Phänomen, sondern das Ergebnis professioneller Planung.
Die Entwicklungen in Suwayda markieren einen Wendepunkt gegenüber den frühen Dynamiken des syrischen Bürgerkriegs. Es handelt sich inzwischen nicht mehr allein um Regime-Gegner-Konflikte, sondern um einen vielschichtigen Prozess mit deutlichen ethnisch-konfessionellen und internationalen Dimensionen. Die Situation stellt nicht nur eine Bedrohung für die syrische Regierung, sondern für die gesamte Region dar. Wenn die Zündschnur in Suwayda entzündet wird und die fragile Balance der Wüste gestört, kann dies weitreichende Folgen haben – nicht nur für Syrien, sondern für den gesamten regionalen Status quo. Die mögliche Erweiterung von Israels Definition von „Gleichgesinnten“ stellt eine zusätzliche Herausforderung für die Nachbarstaaten dar.
Gleichzeitig zeigt sich: Wer soziologische Faktoren vernachlässigt, gefährdet seine Strategie. Deshalb ist es für die Türkei und andere regionale Staaten unerlässlich, eine Diplomatie zu verfolgen, die Syrien in seiner territorialen Integrität respektiert, lokale Repräsentanz stärkt und externen Einfluss begrenzt. Denn in komplexen Gesellschaften wie Syrien führt Instabilität nicht nur zu inneren Konflikten – sie wirkt sich auf die gesamte Region aus. Eine wirklich vielschichtige diplomatische Strategie ist daher unverzichtbar.