Als Friedrich Merz am 6. Mai 2025 das Amt des Bundeskanzlers übernahm, hatten nur wenige erwartet, dass er die Außenpolitik des Landes so schnell neu gestalten würde. Obwohl dieser Wandel weitgehend unvorhergesehen war, ist der veränderte Ton in der deutschen Außenpolitik unübersehbar. Die lange Phase strategischer Unentschlossenheit Deutschlands geht zu Ende.
Im Zentrum dieser Neuausrichtung steht eine offene Neubewertung von Deutschlands wichtigstem, wenn auch mittlerweile stark erodiertem Bündnis – der transatlantischen Beziehung. Merz, lange ein überzeugter Transatlantiker, erkennt nun offen an, dass die USA nicht länger als verlässlicher Garant für die europäische Sicherheit oder als wirtschaftlich vertrauenswürdiger Partner betrachtet werden können. In einer scharfen öffentlichen Kritik verurteilte er das Eingreifen hochrangiger Beamter der Trump-Regierung in die deutsche Politik als „so hart, dramatisch und beschämend wie eine Einmischung Moskaus“.
Dieser Wandel ist nicht nur rhetorischer Natur. Seit 1945 hatte Westeuropa – und nach 1989 auch weite Teile Mittel- und Osteuropas – seine Identität und Sicherheit im Einklang mit den USA gestaltet. Doch 80 Jahre später verlagert die Regierung Merz den Fokus nach innen, investiert massiv in die Landesverteidigung und setzt sich für ein autonomeres Europa ein. Ironischerweise wurzelt dieser Wandel in einem traditionellen amerikanischen Wert: dem Glauben an die Kraft von Demokratie und Freiheit. Wenn Europa dieses Prinzip eigenständig neu definieren kann, könnte es in der sich wandelnden globalen Ordnung als entscheidender Akteur hervortreten.
Die neue außenpolitische Haltung Deutschlands beruht bislang auf drei Grundpfeilern: einer entschlossenen militärischen Unterstützung für die Ukraine, einer nuancierteren Haltung gegenüber Israel und dem bewussten Bemühen um europäische Souveränität. Die Entschlossenheit der Merz-Regierung wird durch die unnachgiebige Aggression Russlands, Präsident Wladimir Putins offenkundiges Desinteresse an Waffenruhen oder Verhandlungen sowie die Unbeständigkeit der Trump-Administration zusätzlich gestärkt.
Deutschland kündigte während des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 28. Mai in Berlin ein umfangreiches Hilfspaket in Höhe von 5 Milliarden Euro (5,7 Milliarden US-Dollar) an – einschließlich 1 Milliarde Euro für Luftverteidigungssysteme sowie technischer und finanzieller Unterstützung zur gemeinsamen Entwicklung von Langstreckenwaffen auf ukrainischem Boden. Dieses Engagement stellt einen deutlichen Bruch mit dem vorsichtigeren Ansatz von Merz’ Vorgänger Olaf Scholz dar.
In Zukunft wird Deutschlands Haltung vor allem durch zwei Faktoren auf die Probe gestellt: die Verhandlungen innerhalb Europas über schärfere Sanktionen gegen Russland und, noch wichtiger, der unvermeidliche Konflikt mit China aufgrund seiner indirekten Unterstützung für Putins Kriegsanstrengungen.
Merz hat auch begonnen, den traditionellen deutschen Ansatz gegenüber Israel, das Deutschland bislang nahezu uneingeschränkt unterstützte, neu zu justieren. Schätzungen zufolge hat der durch den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 ausgelöste Krieg im Gazastreifen über 53.000 Palästinenser das Leben gekostet. Dies hat Merz und zentrale Mitglieder seines Kabinetts dazu veranlasst, die deutsche Position kritisch zu hinterfragen. Sie äußerten Besorgnis über das Ausmaß der israelischen Militärintervention und die sich verschlechternde humanitäre Lage in Gaza – eine Rhetorikänderung, die den sich wandelnden Einstellungen in der deutschen Öffentlichkeit entspricht. Besonders die jüngeren Generationen fühlen sich weniger durch die Schuld des Holocaust gebunden und sind in einer vielfältigeren und pluralistischeren Gesellschaft aufgewachsen, in der auch ein bedeutender muslimischer Bevölkerungsanteil lebt.
Natürlich bleiben Deutschland und Israel weiterhin wechselseitig aufeinander angewiesen. Die zwischen November 2023 und August 2024 für zehn Monate ausgesetzten Waffenlieferungen Deutschlands an Israel wurden wieder aufgenommen. Zudem hält Deutschland an seiner Zusage fest, israelische Arrow-3-Luftabwehrsysteme und Heron-Drohnen zur Unterstützung der Ukraine zu erwerben. Dennoch ist der veränderte Tonfall von Bedeutung und könnte auf bevorstehende politische Veränderungen hindeuten. Ob Deutschland sich künftig für eine Zwei-Staaten-Lösung und die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens einsetzt, wird zeigen, ob dieser Wandel substanziell ist. Dieses Abkommen gewährt Israel seit dem Jahr 2000 privilegierten Zugang zum europäischen Markt. Seine Aussetzung wird als mögliches Druckmittel gesehen, um Netanjahu zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu bewegen und letztlich die Angriffe auf Gaza zu beenden.
Doch das tiefgreifendste Element in Merz’ Außenpolitik ist seine Betonung auf die Entwicklung strategischer Autonomie Europas. Angesichts des Rückzugs der USA hat Deutschland das größte Wiederaufrüstungsprogramm seit 1945 eingeleitet und 400 Milliarden Euro für Verteidigung und Sicherheit bereitgestellt.
Dieser massive Anstieg der Verteidigungsausgaben wurde durch eine Verfassungsänderung ermöglicht, die darauf abzielt, die sogenannte „Schuldenbremse“ – die Obergrenze für das jährliche Haushaltsdefizit – zu lockern. Während die Vorgängerregierung mit der vollständigen Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen Neuland betrat, hatte Merz diese Initiativen bereits vor seiner Kanzlerschaft unterstützt. Er hat sie sich somit zu eigen gemacht und dadurch Deutschlands Ansehen als verlässlicher Partner innerhalb und außerhalb der NATO weiter gefestigt.
Diese Maßnahmen stellen zwar keine Revolution, aber eine bedeutsame Evolution der deutschen Außenpolitik dar. Deutschland, das lange als wirtschaftliches Kraftzentrum und diplomatischer Akteur galt, übernimmt nun geopolitische Verantwortung im Verhältnis zu seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit.
Wird Merz als der deutsche Führer in Erinnerung bleiben, der die von Scholz nach Russlands umfassendem Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 ausgerufene Zeitenwende verwirklicht hat? Innerhalb der EU-Institutionen sowie in wichtigen Mitgliedstaaten wie Frankreich und Polen (und auch in Großbritannien) beginnt Deutschlands neue Entschlossenheit bereits, Debatten über Verteidigung, Demokratie und Souveränität zu prägen. In einer Welt, in der Macht neu verhandelt und Bündnisse auf die Probe gestellt werden, beginnt Deutschland endlich, zu eigenen Bedingungen Führung zu übernehmen.
*Daniela Schwarzer ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, ehemalige Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und frühere geschäftsführende Direktorin für Europa und Zentralasien bei den Open Society Foundations. Sie ist Autorin des Buches Krisenzeit: Folgen, Sicherheit, Wirtschaft, Zusammenhalt – Was Deutschland jetzt tun muss (Piper, 2023).