Die hochmütigen Eliten Europas: Weder ihre Ideen sind geblieben noch ihre Zeit

Die Kapitalmarktunion ist ein zweischneidiges Schwert. Kurzfristig wird sie zwar Frankreichs finanzielle Probleme lindern und – wie bei der Finanzialisierung Großbritanniens und der USA in den 1980er Jahren – den Schmerz der fortschreitenden Deindustrialisierung Deutschlands abmildern, doch wird sie dies tun, indem sie über Sparkassen die Verbindung der etablierten Parteien zur Realwirtschaft kappt, ihre organischen Beziehungen zu ihren Kunden weiter schwächt und sie damit in die Hände der Populisten treibt. Europas Eliten versuchen, Zeit zu gewinnen, doch wie bereits Ludwig XVI. erkannte, können sie den Lauf der Geschichte nicht ewig aufhalten.
November 22, 2025
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Als das Jahr 1789 heranrückte, war König Ludwig XVI. bereits am Ende seiner Geduld.
Frankreich stand am Rande des Bankrotts; die Versuche seiner Minister, eine fiskalische Konsolidierung und wirtschaftliche Reformen einzuleiten, waren an den Felsen der Parlamente zerschellt — im Grunde nur glorifizierte Versionen der betitelten, engstirnigen und übereifrigen lokalen Körperschaften. Angesichts einer Sackgasse sah der Monarch keinen anderen Ausweg, als die Stände des Königreichs einzuberufen und damit die üblichen legislativen Verfahren zu umgehen. Was ein technokratischer Schritt zur Ordnung der königlichen Finanzen hätte sein sollen, verwandelte sich stattdessen in eine Explosion aufgestauter Energien, die Europa für immer verändern sollte.

Die heutigen französischen Staatsfinanzen befinden sich zwar nicht in einem so dramatischen Zustand wie 1789.
Das US-Finanzministerium steht nicht – wie 1783 – vor dem Zahlungsausfall seiner Zinsverpflichtungen; und Präsident Macron muss auch nicht wie einst nach Amsterdam eilen, um bei großen Kreditinstituten dringend Bargeld (Specie) aufzutreiben, um eine Knappheit abzuwenden. Doch Frankreichs Finanzierungskosten steigen auf unheilvolle Weise: Die Renditen zehnjähriger französischer Staatsanleihen liegen inzwischen höher als jene Italiens und Griechenlands – lange Zeit die fiskalisch „unartigen Kinder“ der EU. Die Staatsverschuldung überstieg während der Pandemie erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg das BIP des Landes und ist seither auf 113 % geschnellt, womit Frankreich in der EU auf Platz drei liegt.

Frankreichs Haushaltsdefizit beläuft sich auf 6,1 % des BIP, also auf mehr als das Doppelte des im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen Maximalwerts von 3 %. Theoretisch wäre dies ein Anlass für Brüssel, eine erhebliche Geldstrafe zu verhängen; angesichts des politischen Gewichts Frankreichs innerhalb der EU ist das jedoch kaum zu erwarten.
Die an den grandes écoles ausgebildeten französischen Technokraten sind selbstverständlich nicht unfähig zu rechnen, doch bislang ist es selbst den brillantesten Köpfen nicht gelungen, einen Weg durch dieses fiskalische Dickicht zu finden.

Der gesunde Menschenverstand würde verlangen, dass die Regierung Macron den französischen Rentenbaum beschneidet, dessen Kosten im Verhältnis zum BIP unter den EU-Staaten – nur knapp hinter Italien – an zweiter Stelle stehen. Es ist kein Zufall, dass die unglückseligen Regierungen von Barnier, Bayrou und Lecornu genau gegen diese heilige Eiche der französischen Politik die Axt geschwungen haben; doch die Axt kehrte, durch den Widerstand eines wütenden und unnachgiebigen Parlaments, zu ihnen zurück.
Die französischen Rentner – eine Klasse, die weniger privilegiert und weniger produktiv ist als der erbliche Adel, den Ludwig XVI. einst zu besteuern versuchte – sind ebenso wenig bereit, ihren Status zugunsten der sanften Pläne Macrons und seiner Helfer zur finanziellen Straffung aufzugeben. Diese Pläne umfassen bescheidene Vorschläge wie die stufenweise Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre.

Lecornu, dessen erstes Mandat weniger als einen Tag dauerte und der sich nun in seiner zweiten Amtszeit als Premierminister befindet, hat die Rentenreform inzwischen zurückgezogen; doch das scheint die politischen Parteien kaum besänftigt zu haben.
Denn diese Parteien, die das Blut im Wasser wittern, überhäufen den Staatshaushalt weiterhin mit neuen und großzügigen Forderungen — und messen der Positionierung vor möglichen vorgezogenen Wahlen weit mehr Bedeutung zu als fiskalischer Disziplin. Während das Ancien Régime auf den Abgrund zurast, hallen im königlichen Palast die Tage wider, in denen Necker und Calonne einander mit übertriebenen Charakterattentaten überzogen.

Der Umstand, dass die Vernunft der fragilen Logik der französischen politischen Institutionen nicht gewachsen ist, hat in Brüssel Befürchtungen ausgelöst, die Lage könnte sich zu einer Griechenland-ähnlichen Krise auswachsen; in einem solchen Fall müsste Frankreich zur Vermeidung eines Staatsbankrotts auf die Europäische Zentralbank (EZB) oder den Internationalen Währungsfonds (IWF) — oder möglicherweise auf beide zugleich — zurückgreifen. Eine Rettung Frankreichs wäre für die EU-Mitgliedstaaten, die diese Last schultern müssten, traumatisch: Berlin und Brüssel haben keineswegs vergessen, wie die konservative Gegenreaktion auf die Antwort der EU auf die griechische Krise die Alternative für Deutschland (AfD) entzündete. Die Belastung europäischer Steuerzahler zugunsten der Finanzierung französischer Renten würde die Flammen des Populismus auch anderswo auf dem Kontinent weiter schüren. Doch ein französischer Zahlungsausfall ist undenkbar; das „europäische Projekt“ ist auf Frankreich ebenso angewiesen wie auf das alternativlose Griechenland. Frankfurt und Brüssel werden eingreifen müssen — und dies wird unweigerlich mit Forderungen nach drastischen strukturellen Reformen einhergehen.

Eine Troika-ähnliche Verwaltung unter Führung eines Eurokraten würde Frankreich in unbekanntes Terrain stoßen. In Frankreich gibt es keine echte innenpolitische Unterstützung für die Globalisierung; denn die nationale Souveränität — wie auch immer interpretiert — bleibt das unverzichtbare Fundament sämtlicher politischer Strömungen, die im Krisenfall mobilisierungsfähig wären (wobei Macron und die Mitteparteien, deren Wählerbasis mittlerweile größtenteils aus Rentnern besteht, ausdrücklich nicht dazugehören). In Ländern wie Griechenland oder Italien haben die Berufsstände dem Volk historisch misstraut und Brüssel als Garantie ihrer Interessen betrachtet; in Deutschland bot die Vorstellung, ein „guter Europäer“ zu sein, der politischen Klasse einen Ausweg aus einem plumpen deutschen Nationalismus. Im Gegensatz dazu haben französische Politiker und Technokraten die Europäische Union stets als ein Instrument französischer Politik betrachtet — und nicht umgekehrt.

Die Wahrnehmung einer aus Brüssel, Frankfurt oder Berlin auferlegten Verwaltung würde die Fünfte Republik nicht nur in den Augen der Bevölkerung diskreditieren, sondern auch in jenen der Beamten, die den Befehlen dieser „Junta“ Folge leisten müssten. In ruhigeren Zeiten hätte man diesen Makel auf die nationale Ehre vielleicht schweigend ertragen; doch in einem Land, in dem pensionierte Generäle wütende offene Briefe mit Bürgerkriegswarnungen veröffentlichen und in dem die Linke ihre Inspiration aus Michel Houellebecqs Unterwerfung schöpft, birgt eine derart grundlegende Entwürdigung der republikanischen Institutionen das Potenzial, ein Pulverfass zu entzünden — und die französische Geschichte lehrt, dass solche Krisen selten ohne einige Explosionen gelöst werden.

All dies wird in Brüssel gesehen und verstanden; denn Brüssel möchte die Probleme von Paris nicht zu seinen eigenen machen. Das große Versprechen der Europäischen Union bestand letztlich darin, technokratischen Mitte-Rechts-Regierungen zu ermöglichen, sinnvolle wirtschaftliche Reformen fernab der neugierigen Einmischung der heimischen Öffentlichkeit durchzuführen. Um die unvermeidliche Konfrontation mit dem tiers état sowie den potenziellen Sieyès’ und Robespierres von links und rechts zu vermeiden, entstauben politische Entscheidungsträger in Paris und Brüssel nun eine vergilbte Akte aus der Ära der Präsidentschaft von Jean-Claude Juncker, um die französischen Finanzierungskosten zu senken: die Kapitalmarktunion (Capital Markets Union, CMU).

Berlin ist den französischen CMU-Plänen stets mit Skepsis begegnet; dass die deutsche Regierungskoalition diesen Plan nun mit wachsender Dringlichkeit aufgreift, bedeutet eine erstaunliche Kehrtwende. Der Aufruf von Kanzler Merz zu einer „europäischen Börse“ am 16. Oktober im Bundestag zeigt, dass die deutschen Führungskräfte inzwischen unbestreitbar erkannt haben, wie knapp die Zeit in Paris geworden ist. Die Sparkassenlobby veröffentlichte ein Positionspapier, das die CMU mit der größtmöglichen Schärfe kritisierte, die die indirekte Sprache der Berliner Gerichte zulässt — doch ohne Erfolg. Nach Merz’ Rechnung ist ein letzter Wurf der Würfel zur Senkung der französischen Anleiherenditen ein Risiko, das sich lohnt, selbst wenn dadurch das zentrale wirtschaftliche Standbein der deutschen Mittepolitik geschwächt wird.

In diesem Zusammenhang ist die Kapitalmarktunion ein zweischneidiges Schwert. Kurzfristig wird sie Frankreichs finanzielle Probleme lindern und — wie bei der Finanzialisierung Großbritanniens und der USA in den 1980er Jahren — den Schmerz der fortschreitenden Deindustrialisierung Deutschlands abmildern, doch wird sie dies tun, indem sie über die Sparkassen die Bindung der etablierten Parteien an die Realwirtschaft kappt, ihre organischen Beziehungen zu ihren Kunden weiter schwächt und sie damit in die Hände der Populisten treibt. Die Eliten Europas versuchen, Zeit zu gewinnen, doch wie Ludwig XVI. bereits erkannte, lässt sich der Gang der Geschichte nicht für immer aufhalten.

Quelle: https://www.telegraph.co.uk/news/2025/11/17/europes-arrogant-elites-are-playing-for-time/