Die Strategische Lücke in Deutschlands Verteidigungsdebatte

In einem derart langwierigen Krieg würden NATO-Truppen im Wesentlichen einen Verteidigungskrieg auf baltischem Territorium führen; die Möglichkeit, auf russischem und belarussischem Boden zu manövrieren, wäre hingegen stark eingeschränkt. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würden die zentralen Kräfte dennoch eine wichtige Rolle spielen, um die bereits an der Frontlinie stationierten Einheiten zu unterstützen und in Synergie mit der Baltischen Verteidigungslinie als dynamisches Element des Stellungskrieges auf Seiten der NATO zu agieren. Bei einer Stationierung im Osten würden sie jedoch keine tiefgreifenden Manöver durchführen.
September 11, 2025
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Die Debatte über die sogenannten „Mittleren Kräfte“ (Medium Forces) kann als Beispiel sowohl für die Fortschritte als auch für die Herausforderungen in Deutschlands Verteidigungsdiskussion gesehen werden.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 durchlaufen die deutschen Streitkräfte das größte Wiederaufrüstungsprogramm seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Verteidigungsausgaben sollen bis 2029 auf 152,8 Milliarden Euro (etwa 180 Milliarden US-Dollar) steigen und damit das NATO-Ziel von 3,5 % des BIP erfüllen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes umfassen die Planungen den Kauf von 35 F-35A Lightning II, 20 zusätzlichen Eurofightern, 1.000 neuen Leopard-2-Kampfpanzern, 3.000 GTK Boxer-Schützenpanzern, 3.500 Patria 6×6-Mannschaftstransportern, Präzisionswaffen mit über 2.000 km Reichweite und bewaffneten Drohnen. Das Ziel ist es, zur stärksten konventionellen Streitkraft Europas zu werden. Entscheidend wird jedoch sein, ob Deutschland zivil-militärische Beziehungen entwickeln kann, die eine echte strategische Debatte ermöglichen – oder ob es bei einem rein quantitativen Aufrüstungsprozess bleibt.

Eines der zentralen Projekte der deutschen Verteidigungsmodernisierung ist der Aufbau der sogenannten Mittleren Kräfte. Ziel dieser Truppen ist es, die Lücke zwischen leichten, hochmobilen Einheiten und schweren Panzerverbänden zu schließen. Im Mittelpunkt des Konzepts stehen Radkampf­fahrzeuge wie der GTK Boxer und der Patria 6×6. Diese können ohne Bahntransport rasch an die Ostflanke der NATO – etwa in den strategisch wichtigen Suwalki-Korridor zwischen Polen und Litauen – verlegt werden. Ihre Stärke liegt in ihrer Fähigkeit zur schnellen Reaktion: Sie können flexible Verteidigungslinien aufbauen, den Vormarsch des Feindes verzögern oder umlenken und so Zeit gewinnen, bis die schweren Verbände eintreffen. Gegen feindliche Panzerformationen können sie nicht alleine bestehen, wohl aber „tiefe Operationen im rückwärtigen Raum durchführen, indem sie die feindliche Logistik, Führungs- und Kontrollzentren und andere kritische Knotenpunkte angreifen“. In dieser Hinsicht passt die Einführung der Mittleren Kräfte gut zur langfristigen Entwicklung des US- und NATO-Militärdenkens, das seit den 1980er-Jahren von Manövertheorien inspiriert ist. Schwerpunkt ist eine schnelle Kräfteprojektion mit frühem, entschlossenem Handeln.

Das Konzept der Mittleren Kräfte ist innerhalb der Bundeswehr umstritten. Kritiker verweisen insbesondere auf die begrenzte Feuerkraft und Geländegängigkeit von Radplattformen wie dem Boxer. Dies könnte problematisch sein, da das Gelände im Baltikum von dichten Wäldern und Sümpfen geprägt ist (wobei man nicht vergessen darf, dass dasselbe Gelände auch die Beweglichkeit schwerer Panzerverbände einschränkt).

Ungeachtet ihres Nutzens ist bemerkenswert, dass sich die Debatte über diese neue Truppenkategorie bisher auf operative und taktische Fragen beschränkt hat. Aus operativer Sicht ist die Fähigkeit, rasch Kräfte in den Osten zu verlegen, völlig logisch. Auf strategischer Ebene jedoch treten schwerwiegende Fragen zutage: Was geschieht, nachdem die Mittleren Kräfte die Distanz zwischen Deutschland und den baltischen Staaten überwunden haben? Was geschieht, nachdem der erste russische Vorstoß gestoppt wurde? Was ist überhaupt die Sieges- oder zumindest die Beendigungstheorie der NATO?

Das politische und geografische Umfeld im Baltikum widerlegt weitgehend die Erwartung, ein Krieg könne durch „entscheidende Manöver“ rasch beendet werden, und deutet stattdessen darauf hin, dass ein solcher Krieg in Stellungskämpfe und Abnutzungsschlachten übergehen würde. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Litauen, Lettland und Estland verlangen nicht nur eine glaubwürdige Politik der „Vorwärtsverteidigung“, sondern investieren auch strategisch in ein Projekt namens „Baltische Verteidigungslinie“. Geplant ist etwa ein Verteidigungssystem mit 50 km Tiefe auf litauischem Territorium, bestehend aus Minenfeldern, Hindernissen und verstreuten Widerstandsnestern. Zudem werden die politischen Entscheidungsträger gezwungen sein, operative Erfordernisse mit dem Risiko einer nuklearen Eskalation Russlands in Einklang zu bringen, sodass Bodenmanöver auf russischem und selbst belarussischem Gebiet höchstwahrscheinlich stark eingeschränkt bleiben. Wie der Stratege Lukas Milevski schreibt, können russische Gebiete in Wirklichkeit als „Schutzbunker“ dienen, der von Russlands Nuklearstreitkräften gedeckt wird. Dies würde es Russland ermöglichen, seine Kräfte selbst nach einem erfolgreichen Abwehren des ersten Angriffs neu zu formieren. Das bedeutet, dass die NATO – und Deutschland – keine andere Wahl haben, als sich auf einen langen Abnutzungskrieg im Baltikum vorzubereiten.

Dieses Szenario wird noch wahrscheinlicher, sollte sich die Vereinigten Staaten rechtlich (de jure) oder faktisch (de facto) aus der NATO zurückziehen. In einem solchen Fall müssten die europäischen NATO-Mitglieder die Möglichkeit einer begrenzten nuklearen Eskalation durch Russland deutlich ernster nehmen. Außerdem würden sie – zumindest bis die US-Fähigkeit zu tiefen Schlägen und Zielaufklärung wiederhergestellt ist – keine ausreichende Luftunterstützung für Bodenoperationen auf russischem oder belarussischem Gebiet haben.

In einem derart langwierigen Krieg würden NATO-Truppen im Wesentlichen einen Verteidigungskrieg auf baltischem Territorium führen; die Möglichkeit, auf russischem und belarussischem Boden zu manövrieren, wäre hingegen stark eingeschränkt. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würden die Mittleren Kräfte dennoch eine wichtige Rolle spielen, um die bereits an der Frontlinie stationierten Einheiten zu unterstützen und in Synergie mit der Baltischen Verteidigungslinie als dynamisches Element des Stellungskrieges auf Seiten der NATO zu agieren. Bei einer Stationierung im Osten würden sie jedoch keine tiefgreifenden Manöver durchführen.

Daher bedeutet die Diskussion über das Konzept der Mittleren Kräfte nicht nur, militärische Aspekte oder die Anwendbarkeit der Manövertheorie zu behandeln. Das Potenzial und die Grenzen der Mittleren Kräfte können nur dann angemessen bewertet werden, wenn der bestehende politische und strategische Kontext berücksichtigt wird. Daher kann die Debatte über die Mittleren Kräfte sowohl als Beispiel für Fortschritte als auch für Herausforderungen in der deutschen Verteidigungsdebatte dienen. Strategische und operative Fragen müssen gemeinsam betrachtet werden; dies erfordert jedoch, dass politische und zivile Akteure mit strategischen und militärischen Themen besser vertraut werden. In diesem Zusammenhang sollten folgende zentrale Fragen diskutiert werden: Gilt die auf Manövern basierende Kriegsführung der NATO gegen Russland heute noch? Wie sind die Risiken einer nuklearen Eskalation zu bewerten, die militärische Bodenoperationen auf russischem Territorium auslösen könnten? Wie kann ein Krieg mit Russland beendet werden? Letztlich müssen diese Fragen aus einer klaren europäischen Perspektive beantwortet werden, die offen das Szenario behandelt, dass Europa sich möglicherweise selbst verteidigen muss.

Über die Autoren: Tobias Fella und Lukas Mengelkamp

*Dr. Tobias Fella ist Senior Researcher am Berliner Büro des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

*Lukas Mengelkamp ist Researcher am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Quelle: https://nationalinterest.org/feature/in-germanys-defense-debate-strategy-is-the-missing-link