Die menschliche Natur zurückholen

Liberale müssen anerkennen, dass Autonomie zwar ein menschlicher Wert ist, jedoch nicht der einzige Wert, der über allen anderen Zielen steht, die Menschen wählen. Ein Teil der menschlichen Erfahrung besteht darin, sich mit den Beschränkungen auseinanderzusetzen, die uns sowohl als Individuen auferlegt sind als auch als ganze Menschheit gelten. Tatsächlich sind es gerade diese Begrenzungen, die uns in Gemeinschaften zusammenführen. Viele Menschen entscheiden sich bewusst dafür, in religiösen oder kulturellen Traditionen zu leben, die sie mit Gemeinschaften verbinden – auch wenn dies die individuelle Entscheidungsfreiheit einschränkt.
August 17, 2025
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Die menschliche Natur hat in der Entwicklung der westlichen politischen Philosophie – und damit der Politik selbst – eine entscheidende Rolle gespielt. Sokrates stellte in Platons Politeia (Der Staat) die Frage, was dem Menschen „von Natur aus“ eigen sei und was lediglich auf Tradition beruhe. Traditionen können sich wandeln und von Gesellschaften bewusst gestaltet werden; die menschliche Natur hingegen ist beständig – und diese Beständigkeit macht sie für menschliche Zwecke vorrangig. So unterscheiden sich etwa menschliche Sprachen zwischen Kulturen, doch die Sprachfähigkeit ist allen Menschen gemeinsam, ob Grieche oder „Barbar“, und steht in engem Zusammenhang mit Vernunft und sozialer Organisation.

Einer der Begründer des modernen Liberalismus, Thomas Hobbes, eröffnete sein Werk Leviathan mit einem umfassenden Katalog menschlicher Leidenschaften, der als seine Auffassung von der menschlichen Natur gelesen werden kann. Hobbes vertrat die berühmte These, dass es keine angeborenen moralischen Regeln gebe und dass der „Krieg aller gegen alle“ einen Zustand der Gewalt und Unsicherheit hervorbringe, der das Leben „ekelhaft, armselig, brutal und kurz“ mache. Dieser Zustand ging nach Hobbes auf zwei grundlegende Leidenschaften zurück: das Streben nach „Gewinn“ oder Ressourcen im ökonomischen Sinn und das Verlangen nach „Ruhm“ – also danach, von anderen als überlegen anerkannt zu werden. Auch wenn Hobbes den Begriff thymos nicht verwendete, sprach er letztlich genau davon, insbesondere von den Gefahren der megalothymia – des Strebens, als jemand Überlegenes anerkannt zu werden.

Hobbes’ Erklärung der menschlichen Natur führt direkt zu seinem Politikverständnis. Die Gewalt im Naturzustand nährte die stärkste natürliche Leidenschaft: die intensive Furcht vor dem gewaltsamen Tod. Daraus leitete Hobbes sein Argument ab, dass das „erste Naturrecht“ das Recht des Einzelnen sei, sein Leben zu bewahren. Im anarchischen Naturzustand konnten Menschen nicht vermeiden, das Leben anderer zu bedrohen. Daher war der Leviathan, der Staat, notwendig, um durch einen Gesellschaftsvertrag – die teilweise Abtretung natürlicher Freiheit – das Leben aller zu sichern. Die Furcht vor dem gewaltsamen Tod überwog andere Wünsche, etwa nach Urlaub oder einer 40-Stunden-Woche, und hatte deshalb Vorrang in der Hierarchie der Grundrechte. Hobbes’ „Recht auf Leben“ war der Vorläufer von Thomas Jeffersons „Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dies stand in der Tradition des „Naturrechts“, die von Aristoteles über Thomas von Aquin zu Hobbes, Locke und den amerikanischen Gründervätern reichte. Auch wenn der Leviathan noch nicht als liberaler Staat im modernen Sinn gelten kann, ist es doch berechtigt, Hobbes als einen Begründer des Liberalismus zu sehen. Viele große politische Debatten der folgenden Jahrhunderte kreisten um alternative Vorstellungen von menschlicher Natur und die daraus abzuleitenden politischen Systeme. John Locke, der die amerikanischen Gründungsväter stark beeinflusste, vertrat eine mildere Sicht: Für ihn war der Mensch von Natur aus auf Eigentumserwerb und dessen produktive Nutzung ausgerichtet. Privateigentum entstand durch die Verbindung menschlicher Arbeit mit den „fast wertlosen Naturprodukten“ und bildete die Grundlage für Markt, Tausch und wirtschaftliches Wachstum. Jean-Jacques Rousseau hingegen widersprach Hobbes ausdrücklich: Der „natürliche Mensch“ sei weder gewalttätig noch gierig, sondern ein zurückhaltendes, einsames Wesen mit einem Potenzial zum Glück. Erst als Menschen in Gesellschaften zusammenlebten und begannen, sich miteinander zu vergleichen, entstanden Konkurrenz, Gewalt und Neid. Nicht die Natur, sondern die Gesellschaft war die Quelle dieser Übel. Glück konnte nur wiedergewonnen werden, wenn hinter den Konventionen und Zwängen der Gesellschaft der wahre „natürliche Mensch“ neu entdeckt würde.

Die gegensätzlichen Annahmen von Hobbes und Rousseau über die menschliche Natur haben bis heute Folgen – etwa für ökologische Debatten oder für Überlegungen zum Wesen des Glücks. Hobbes bot eine säkulare Version der christlichen Erbsündenlehre: Der Mensch sei von Natur aus gierig, feige, gewalttätig und stolz, und nur durch einen Gesellschaftsvertrag ließen sich diese Leidenschaften zügeln. Rousseau hingegen kehrte das Verhältnis von Innen und Außen um: Der Mensch sei von Natur aus gut, erst die Gesellschaft korrumpiere und mache ihn unglücklich. Diese rousseauistische Sicht teilen heute viele Anthropologen und Umweltschützer, die indigene Gesellschaften als friedlicher und umweltbewusster ansehen als die moderne Industriegesellschaft.

Seit einigen Jahrhunderten haben in den liberalen westlichen Gesellschaften viele Menschen Rousseaus Annahme von der „ursprünglichen Güte“ des Menschen übernommen. Daraus ergibt sich die Wertschätzung innerer Authentizität und die Überzeugung, dass gerade die Zwänge der Gesellschaft diese Authentizität unterdrücken und damit das natürliche Glück verhindern. In einer hobbesianischen Welt aufzuwachsen bedeutet hingegen, zu lernen, dass man nicht alles tun kann, was man will, und dass ein gelungenes Leben die Einhaltung sozialer Regeln erfordert. In einer rousseauistischen Welt dagegen ist das innere Selbst stets auf der Suche nach Befreiung von erdrückenden gesellschaftlichen Zwängen – sei es durch den Staat oder durch Traditionen.

Die frühen neuzeitlichen Denker – trotz ihrer Unterschiede – legten mit ihren Theorien über die menschliche Natur den Grundstein für den modernen Liberalismus. Hobbes, Locke und Rousseau gingen alle davon aus, dass der Naturzustand aus isolierten Individuen bestand, die ihre eigenen Ziele verfolgten, und dass menschliche Gesellschaften erst dann entstanden, als diese Individuen erkannten, dass sie durch Kooperation ihre Zwecke besser erreichen konnten. Die einzige „natürliche“ Gesellschaftsform war demnach die Familie, die aus sexuellen Begierden resultierte und Männer und Frauen in gegenseitige Abhängigkeit brachte. Diese Sichtweise prägt bis heute den Kern der modernen neoklassischen Ökonomie: Die Grundannahme lautet, dass Menschen rational handelnde Nutzenmaximierer sind, die verstehen, dass sie durch Zusammenarbeit ihr individuelles Wohlergehen steigern können. Auch Mancur Olsons verbreitete Theorie kollektiven Handelns beruht auf diesem Gedanken, wonach Kooperation wesentlich durch individuelle Anreize gesteuert wird. Lockes Ausführungen zu Ehe und Fortpflanzung sehen die Familie nicht als Ausdruck emotionaler Bindungen, sondern als freiwillige Verbindung, die auf rationaler Kalkulation langfristiger Eigeninteressen gründet.

Dieser „ursprüngliche Individualismus“ (primordial individualism) bildet somit eine Grundannahme des modernen Liberalismus – sowohl des politischen als auch des wirtschaftlichen. Damit entfernten sich die Liberalen von Aristoteles, der den Menschen als „politisches Tier“ verstand, das nur in der Polis gedeihen könne. Diese Annahme wurde von linken Denkern – beginnend mit Karl Marx, der den Menschen als soziales Wesen sah, das kollektive Zwecke verfolgt – frontal attackiert. Aus dieser Perspektive war der liberale Individualismus ein historisch bedingtes Phänomen, das mit dem Aufstieg des Kapitalismus entstanden ist, das Verständnis menschlichen Glücks jedoch stark verzerrte.

Doch nicht nur von links, auch von rechts wurde der Individualismus kritisiert. Der bedeutende englische Rechtsgelehrte Henry Maine betonte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die frühen Gesellschaften in klarem Widerspruch zur individualistischen Annahme stünden: Historisch habe es nie eine Epoche gegeben, in der Gesellschaften nicht existierten. Ein Zeitalter isolierter Individuen, wie Hobbes, Locke und Rousseau es postulierten, habe es nie gegeben. Nach Darwin und der Evolutionstheorie wurde im 20. Jahrhundert noch deutlicher, dass auch die nicht-menschlichen Vorfahren des Menschen in Gruppen lebten – in sozialen Formationen unterschiedlicher Komplexität. Was linke und rechte Kritiker des Liberalismus unterschied, war die Art jener sozialen Gruppen, die dem Menschen „naturgemäß“ zugeschrieben wurden. Für Marx und seine Nachfolger waren es große Klassen wie Bourgeoisie und Proletariat oder am Ende der Geschichte der kommunistische Staat. Für die Rechte – von Herder über Spengler bis zu heutigen nationalkonservativen Strömungen – waren es kulturelle Gemeinschaften, von Stämmen über Nationen bis hin zu Zivilisationen. Auch wenn ihre Inhalte variieren, so hätten Menschen doch eine natürliche Neigung, Kultur zu schaffen und in einem geschlossenen kulturellen Horizont zu leben.

Die Entdeckung der DNA und des genetischen Codes in den 1960er-Jahren lieferte eine biologische Grundlage für vererbbare physische und Verhaltensmerkmale. Angesichts dieser Fortschritte und des weitverbreiteten Glaubens an die menschliche Natur mag es überraschend erscheinen, dass sich eine so starke Gegenbewegung entwickelte und einige ernsthafte Denker die Existenz einer menschlichen Natur sogar offen bestritten.

Die Gründe für diesen Skeptizismus waren vielfältig. Zunächst wurde klar, dass unser genetisches Erbe in komplexer Weise mit sozialer und physischer Umwelt interagiert. Menschen sind – anders als manche Tiere – keine genetisch „programmierten Roboter“. Fähigkeiten mögen im Genom verankert sein, ihre Entwicklung hängt jedoch von Erziehung und sozialen Kontexten ab. Genetiker fanden heraus, dass bestimmte Gene nur als Reaktion auf bestimmte Umweltreize aktiviert werden. Dadurch wurde oft unklar, welche Eigenschaften tatsächlich „natürlich“ sind.

Heute wissen wir dank Fortschritten nicht nur in der Biologie, sondern auch in Archäologie, Anthropologie und Primatologie weit mehr über die menschliche Natur als noch im 18. oder 19. Jahrhundert. Viele Elemente der frühliberalen Naturzustandserzählung können mit Sicherheit als fehlerhaft betrachtet werden. Ich habe dies im ersten Band meiner Reihe Political Order mit Belegen untermauert. Menschen sind von Natur aus soziale Wesen, doch diese Sozialität nimmt bestimmte Formen an. Der Biologe William Hamiltons Theorie der „inklusiven Fitness“ besagt, dass Menschen – und generell die meisten sexuell reproduzierenden Arten – in dem Maße altruistisch handeln, wie sie Gene mit Verwandten teilen. Darüber hinaus neigen Menschen stark dazu, durch gegenseitige Hilfe und Gegenseitigkeit soziale Bindungen aufzubauen. Deshalb ist die häufigste Form sozialen Lebens die kleine Gemeinschaft aus Freunden und Familien. Patrimonialismus – also die Herrschaft durch Familie und Freunde – ist daher tief verankert. Dagegen ist die unpersönliche Autorität moderner, meritokratisch organisierter Staaten für politische Akteure „unnatürlich“. Deshalb stellt Re-Patrimonialisierung eine dauerhafte Bedrohung moderner Systeme dar. Donald Trumps Versuch, die auf Leistung basierende Bürokratie zu schwächen und stattdessen auf Familie und Vertraute zu setzen, ist ein aktuelles Beispiel dafür.

Doch diese kleinräumige Sozialität erschöpft die menschliche Fähigkeit zur Gemeinschaft nicht. Menschen haben individuelle Interessen, sind aber zugleich normgebundene Wesen, die ungern von von ihresgleichen gesetzten Regeln abweichen. Die Bereitschaft, Regeln großer Hierarchien zu befolgen, bildete die Grundlage der Staatsautorität, die mit der Entstehung des Staates vor 6–8.000 Jahren entstand. Dieses Normbefolgen erklärt, warum Polizisten auch ungerechte Befehle gegen Mitbürger ausführen oder warum Millionen Soldaten bereit sind, in den Tod zu ziehen. Hobbes’ Rationalismus hätte eigentlich nahegelegt, dass Soldaten desertieren sollten, anstatt ihr Leben zu riskieren; historisch aber war Gehorsam weitaus häufiger als Fahnenflucht.

Neuere Daten deuten zudem darauf hin, dass Hobbes in Bezug auf die Gewaltneigung früher Gemeinschaften Rousseau näher an der Wahrheit lag. Rousseaus Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, widerspricht den empirischen Befunden: Viele Jäger- und Sammlergesellschaften hatten Mordraten, die höher lagen als in heutigen Städten der USA oder Mexikos; archäologische Spuren blutiger Konflikte reichen weit zurück. Menschen sind also soziale Wesen – doch diese Sozialität entstand häufig aus der Notwendigkeit, Gewalt zu organisieren. Umweltbewusstsein war meist weniger eine bewusste Entscheidung als eine Folge technologischer Beschränkungen. Mit dem Eintreffen moderner Menschen verschwanden weite Teile der Megafauna von der Erde.

Es gibt also eine menschliche Natur, und sie ist eine starke Kraft, die Politik prägt. Sie war die Grundlage der frühen liberalen Vorstellung von Rechten. Warum also stößt sie auf so heftigen Widerstand?

Die Ursachen sind moralischer und politischer Natur und häufig das Ergebnis von Missverständnissen. Seit langem befeuert die Frage, was biologisch und was umweltbedingt ist, große politische Auseinandersetzungen. Konservativen galt meist die Biologie als ausschlaggebend, während Progressive betonten, Verhalten sei überwiegend gesellschaftlich bedingt, also „sozial konstruiert“. Über Jahrhunderte rechtfertigten Konservative mit biologistischen Argumenten die Annahme, Nationen hätten gemeinsame Rassen und Abstammungslinien, es gebe eine Rassenhierarchie, die Sklaverei und Kolonialherrschaft rechtfertige, und Frauen seien geistig oder emotional nicht in der Lage, am Arbeitsmarkt, am Wahlrecht oder in der Politik teilzunehmen. Diese und ähnliche Argumente haben sich als unhaltbar erwiesen – nicht zuletzt durch empirische Forschung. Ein berühmtes Beispiel aus den 1920er Jahren ist Franz Boas, Mitbegründer der modernen Kulturanthropologie. Nach Darwins On the Origin of Species verbreitete sich der „wissenschaftliche Rassismus“, der Unterschiede im durchschnittlichen Intelligenzniveau zwischen „Rassen“ behauptete und nordeuropäische Weiße an die Spitze stellte. Konservative nutzten dies, um Einwanderungsbeschränkungen zu rechtfertigen und behaupteten, Einwanderergruppen wie Italiener, Juden, Polen oder andere Osteuropäer seien weniger intelligent. Grundlage dafür waren Kopfvermessungen in der US-Armee. Boas konnte jedoch zeigen, dass die Schädelmaße der Kinder dieser Einwanderer sich durch amerikanische Ernährung an jene Nordeuropäer anglichen. Später belegte der sogenannte Flynn-Effekt, dass bessere Ernährung und Versorgung dazu führten, dass die durchschnittlichen IQ-Werte weltweit im Laufe des 20. Jahrhunderts stiegen.

Mit dem Aufstieg des Feminismus in den 1960er-Jahren entbrannte die Debatte über die Rolle der Biologie erneut in erheblichem Maße. Viele Feministinnen verteidigten die These der sozialen Konstruktion vehement und argumentierten, dass die beobachteten Unterschiede im Verhalten oder in den sozialen Ergebnissen zwischen Frauen und Männern ausschließlich darauf zurückzuführen seien, wie Mädchen im Vergleich zu Jungen erzogen werden. Frauen sollten von gesellschaftlichen Traditionen befreit werden, die es ihnen erschwerten, in viele Berufe einzutreten – vom Lastwagenfahren über das Pilotieren von Flugzeugen bis hin zur Polizei oder zum Militärdienst.

Doch obwohl biologische Argumente darüber, was Mädchen und Frauen leisten könnten, im Laufe der Zeit weitgehend wissenschaftlich entkräftet wurden, blieben einige grundlegende Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen. Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur durch verschiedene Fortpflanzungsorgane, sondern auch in Bezug auf Größe, Oberkörperkraft, Lebenserwartung und ähnliche körperliche Eigenschaften deutlich voneinander. Diese Merkmale können für beide Geschlechter normal verteilt sein, und an den Rändern der Verteilung gibt es Individuen, die die überwiegende Mehrheit des anderen Geschlechts übertreffen. Aber die Mittelwerte dieser Verteilungen unterscheiden sich. Das heißt: Eine beliebige Frau kann größer oder stärker sein als ein beliebiger Mann; aber die Gesamtheit der Eigenschaften beider Geschlechter ist nicht identisch. Aus diesem Grund werden Männer- und Frauensportarten auch heute noch getrennt ausgetragen.

Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass sich diese Unterschiede auch auf psychologische Eigenschaften erstrecken. In den 1980er-Jahren begannen Evolutionspsychologen zu argumentieren, dass sich die Fortpflanzungsstrategien von Männchen und Weibchen nicht nur beim Menschen, sondern bei vielen sexuell reproduzierenden Arten unterscheiden. Männer neigten dazu, den Fortbestand ihrer Gene am besten durch häufigeren Partnerwechsel zu sichern; Frauen hingegen benötigten stabile häusliche Umgebungen, in denen sie ihre Kinder bis ins Erwachsenenalter großziehen konnten. Weibliche Jugendliche sind außerdem weniger risikofreudig – was erklärt, warum in nahezu allen Kulturen weltweit der Großteil der Straftaten von jungen Männern begangen wird.

Für viele Feministinnen war die Vorstellung, dass sich ein beliebiges Verhaltensmerkmal biologisch erklären ließe, unakzeptabel. Der Soziobiologe Edward O. Wilson, der die biologische Grundlage von Geschlechterunterschieden vertrat, wurde bei einer Konferenz von einer Aktivistin mit einer Karaffe Wasser übergossen, die ihm dabei ins Gesicht schrie: „You’re all wet!“ (sinngemäß: „Das ist völliger Quatsch!“).

Ein noch grundlegenderer Grund, warum progressive Liberale sich weigern, der menschlichen Biologie Bedeutung beizumessen, liegt darin, dass die Biologie eine schwer überwindbare Grenze für die menschliche Autonomie darstellt.

Im Kern des modernen Liberalismus liegt die Behauptung der Gleichheit der Menschenwürde, die auf der Annahme basiert, dass alle Menschen eine universelle Fähigkeit zur Wahl besitzen. Menschen unterscheiden sich in Intelligenz, Kraft, Hautfarbe und Geschlecht; doch alle gelten als moralische Wesen mit der Fähigkeit und dem Recht, Entscheidungen über ihr Leben zu treffen – Individuen mit Rechten auf Meinungsäußerung, Glaubensfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Die Bewahrung dieser Autonomie galt als moralisches Wesen einer liberalen Gesellschaft. In der frühen Neuzeit Europas wurde Autonomie noch als Recht verstanden, innerhalb vorgegebener moralischer Rahmenbedingungen zu wählen – Rahmen, die meist durch religiöse Traditionen bestimmt waren. Deshalb wurde die Religionsfreiheit zu einem der Grundwerte, die etwa durch den Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung geschützt wurden.

Mit der Zeit jedoch erweiterte sich der Bereich der Autonomie ständig, sodass er nicht mehr nur das Recht umfasste, innerhalb eines bestehenden moralischen Gesetzes, das von einer religiösen Tradition bestimmt wurde, zu wählen, sondern auch die Möglichkeit, den eigenen Rahmen auszuwählen oder gar für sich selbst moralische Regeln zu setzen.

Am deutlichsten zeigt sich dies im Bereich Sexualität, Geschlecht und Familienleben. Viele Länder haben Abtreibung legalisiert – meist im Rahmen der Verteidigung weiblicher Autonomie durch die Wahrung der Kontrolle über den eigenen Körper. Doch die letzte Grenze der Leugnung biologischer Bedeutung bildet die zeitgenössische Transbewegung. Viele Transaktivisten – unterstützt von einem wesentlichen Teil der medizinischen Fachwelt – behaupten, dass das soziale Geschlecht keinerlei Verbindung zum biologischen Geschlecht habe, also etwa zu den XX- oder XY-Chromosomen eines Individuums. Vielmehr handele es sich um eine individuelle Entscheidung, ähnlich wie bei der Wahl eines Namens oder eines Wohnortes. Sie weigern sich, die Aussage zu akzeptieren, dass ihre genetische Ausstattung einen starken Einfluss auf ihre Geschlechtsidentität habe.

Die Vorstellung, dass es eine enge Verbindung zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität gibt, ist in den 2010er- und 2020er-Jahren in manchen liberalen Milieus nahezu zu einer „verbotenen“ Idee geworden – und dieses Verbot wird von vielen Transaktivisten streng durchgesetzt. Doch dieser Gedanke ist keineswegs abwegig. Es ist kaum plausibel, dass Menschen über Jahrhunderte hinweg ausschließlich aufgrund gesellschaftlichen Drucks ihre Geschlechtsidentität wählten; vielmehr ist sie in das biologische Geschlecht des Menschen verwurzelt, das eine notwendige Voraussetzung für Fortpflanzung und Familienleben darstellt. Diese Auffassung in Gänze zu leugnen, würde nicht nur Darwins Theorie der natürlichen Selektion, sondern auch seine gesamte Theorie der sexuellen Selektion auf den Kopf stellen. Eine liberale Gesellschaft sollte die Entscheidungen von Transpersonen respektieren und ihre Rechte schützen – doch das unterscheidet sich erheblich von den radikaleren Forderungen, die eine vollständige Verdrängung biologischer Tatsachen erzwingen wollen.

Schließlich verspricht die Technologie zwar, die Grenzen der menschlichen Natur aufzuheben – doch dies ist ein trügerisches Versprechen. Hier, so meine ich, betreten wir gefährliches Terrain. Menschen sind keine körperlosen Geister, die im All schweben und nach Belieben jede Form oder Gestalt annehmen können. Unsere menschliche Erfahrung – und damit auch die Ziele und Werte, denen wir nachstreben – wird tiefgreifend durch unsere physischen Körper sowie deren Kräfte und Beschränkungen geprägt. Aus diesem Grund habe ich im Jahr 2004 mein Buch Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution geschrieben.

Die Menschen haben im Laufe der Geschichte ständig Technologien eingesetzt, um ihre physischen und geistigen Fähigkeiten zu erweitern. Dank Brillen, Autos und Impfstoffen laufen wir schneller, sind stärker, sehen besser, reisen weiter und leben länger. Biomedizinische Technologien können bereits heute durch Operationen, Medikamente und andere Eingriffe Verhalten und Ergebnisse beeinflussen. Doch das Aufkommen der Gentechnik, wie sie Technologien wie CRISPR-Cas9 ermöglichen, verspricht viel tiefgreifendere Veränderungen dieser grundlegenden Fähigkeiten – und könnte eines Tages sogar unser Verständnis politischer Rechte verändern.

Wollen wir tatsächlich die Fähigkeit besitzen, unsere grundlegende Natur frei zu verändern? Menschen weniger oder mehr aggressiv zu machen, weniger oder mehr mitfühlend, intelligenter oder fügsamer … Wir mögen Neigungen wie Risikobereitschaft oder Gewalt ablehnen; aber wissen wir wirklich, welche unvorhersehbaren Folgen ein Versuch hätte, sie aus der menschlichen Spezies gänzlich zu eliminieren? Und wer wird in diesen Fragen die Entscheidungsgewalt haben? Solche Entscheidungen betreffen nicht nur die heutigen Individuen, sondern auch alle ihre Nachkommen. Werden diese Befugnisse in den kommenden Jahrhunderten in den Händen wohlhabender Eliten liegen, die so ihren Nachkommen einen Vorteil im gesellschaftlichen Wettbewerb verschaffen?

Liberale müssen anerkennen: Autonomie ist zwar ein menschlicher Wert, aber nicht der einzige, der alle anderen Ziele übertrifft. Ein Teil der menschlichen Erfahrung besteht darin, sich sowohl mit den uns als Individuen eigenen Begrenzungen als auch mit den für die gesamte Spezies geltenden Grenzen auseinanderzusetzen. Tatsächlich sind es gerade diese Grenzen, die uns in Gemeinschaften miteinander verbinden. Viele Menschen ziehen es bewusst vor, innerhalb einer religiösen oder kulturellen Tradition zu leben, die sie an eine Gemeinschaft bindet – auch wenn dies ihre individuelle Freiheit einschränkt.

Wie der römische Dichter Horaz sagte: „Vertreib die Natur mit der Mistgabel, und sie kehrt doch im Laufschritt zurück.“ Wir werden niemals zu Göttern werden – und vielleicht lernen wir diese Lektion erst an unserem zweihundertsten Geburtstag, wenn wir das geschwächte Vermögen eines fünfjährigen Kindes erreicht haben.