Prof. Mehmet Görmez: Heute ist Moral für Muslime eine Frage des Überlebens

Mit Prof. Mehmet Görmez, dem ehemaligen Leiter der Religionsbehörde Diyanet, führten wir ein ausführliches Gespräch über die islamische Zivilisation und die Probleme der Muslime in der modernen Zeit. Von dem Massaker in Gaza über die Sinnsuche der Jugend bis hin zu der universellen Suche nach Gerechtigkeit sowie der moralischen Krise der islamischen Gesellschaften und möglichen Lösungswegen – wir präsentieren Ihnen dieses aufschlussreiche Gespräch.
Juli 4, 2025
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Mit Prof. Mehmet Görmez, dem ehemaligen Leiter der Religionsbehörde Diyanet, führten wir ein ausführliches Gespräch über die islamische Zivilisation und die Probleme der Muslime in der modernen Zeit. Von dem Massaker in Gaza über die Sinnsuche der Jugend bis hin zu der universellen Suche nach Gerechtigkeit sowie der moralischen Krise der islamischen Gesellschaften und möglichen Lösungswegen – wir präsentieren Ihnen dieses aufschlussreiche Gespräch.

Kritik Bakış


Frage 1:
Herr Professor, wie beurteilen Sie die Fähigkeit des islamischen Denkens, auf die Herausforderungen unserer Zeit Antworten zu geben? In den letzten Jahren haben sich die Diskussionen über die Notwendigkeit einer Erneuerung der religiösen Sprache intensiviert. Auch Sie haben sich in einem Gespräch zu diesem Thema geäußert. Was genau meinen Sie mit der Erneuerung der religiösen Sprache? Und wie lässt sich diese Erneuerung mit den traditionellen Werten in Einklang bringen?

Antwort:
Um diese Frage positiv oder negativ beantworten zu können, müssen wir zunächst das islamische Denken vom Islam selbst unterscheiden. Denn der Islam ist der Name der letzten vollkommenen Religion – eine universale Religion, die Heil im Diesseits und Erlösung im Jenseits verheißt. Drei wesentliche Merkmale des Islam dürfen niemals vergessen werden: Universalität (‚Âlemiyyet), Ewigkeit (Hâlidiyyet) und Endgültigkeit (Hâtemiyyet). Das heißt: Der Islam ist universell, ewig und die letzte Religion.
Das islamische Denken hingegen ist das gedankliche Gesamtwerk, das Muslime in verschiedenen Epochen der Geschichte aus dem Geist des Islam heraus hervorgebracht haben. Leider muss ich mit Bedauern feststellen, dass die heutigen Muslime weder das intellektuelle noch das wertebasierte Potenzial entwickelt haben, das notwendig wäre, um aus dem Islam heraus Antworten auf die Probleme unserer Zeit zu geben – zumindest nicht in dem Maße, wie es die Verantwortung verlangt, die der Islam uns auferlegt.

Damit Muslime in jeder Epoche dieser Verantwortung gerecht werden können, müssen vier Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen die grundlegenden Quellen des Islam – der Koran und die Sunna – richtig verstanden und im Bewusstsein der Zeit neu zur Geltung gebracht werden, um daraus Wissen, Denken und Werte zu schöpfen. Zweitens muss das historische Erbe islamischer Gedankenwelt aktualisiert und in die Gegenwart übertragen werden. Drittens sind gesellschaftliche Veränderungen im Rahmen der göttlichen Ordnung (Sunnatullah) richtig zu deuten, und es müssen angemessene Antworten auf die damit einhergehenden Herausforderungen gefunden werden. Viertens müssen Muslime ihre Existenz in eine ethische Seinsweise transformieren und ihre moralische Überlegenheit bewahren. Leider haben sich die Muslime – aus internen wie externen Gründen – seit zwei Jahrhunderten von diesen vier Prinzipien entfernt.

Die religiöse Sprache ist ein zentraler Teil dieser Problematik. Wenn ich von religiöser Sprache spreche, meine ich zweierlei: Erstens ist die Religion selbst die Vermittlung göttlicher Wahrheiten in menschlicher Sprache – diese Sprache muss immer wieder neu gelesen werden. Zweitens drücken wir unsere Religion und das darauf aufbauende Denken in einer bestimmten Sprache aus – auch diese Sprache bedarf ständiger Erneuerung. Das Erste verlangt ein neues Verstehen, das Zweite ein neues Ausdrücken.

Heute haben wir uns beim Ausdruck unserer Gedanken sogar vom ursprünglichen, weisen Sprachgebrauch der Religion entfernt. Die Sprache ist der menschlich-menschliche Aspekt der Religion. Das Unendliche in endlicher Sprache auszudrücken, ist schwierig. Wenn Gott das Unendliche in der endlichen Sprache des Menschen ausgedrückt hat, dann hat Er auch die Vieldeutigkeit in Kauf genommen. Und eben diese Vieldeutigkeit bietet uns die Möglichkeit zur ständigen Erneuerung.

Der Ausdruck für diese Erneuerung in der religiösen Sprache ist „Tecdîd“ – also Erneuerung im Sinne der Rückbesinnung. Tecdîd bedeutet nicht, etwas völlig Neues zu erfinden, sondern das Alte zu stärken und ihm Kontinuität zu verleihen. Bedeutung und Wahrheit verändern sich nicht – wohl aber ihre sprachliche Darstellung. Al-Ghazālī sagte: „Wer Bedeutung und Wahrheit allein in Worten sucht, der irrt.“

Frage 2:
In Ihrer Arbeit „Die Grundbegriffe des Islam“ weisen Sie besonders auf die Problematik der Begriffsunreinheit hin. Ebenso haben Sie in einem früheren Gespräch auf die Gefahr einer „Interpretationsanarchie“ im religiösen Diskurs aufmerksam gemacht. Welche Begriffe werden Ihrer Meinung nach in der heutigen Welt am häufigsten missverstanden? Halten Sie in diesem Zusammenhang die Diskussionen rund um Begriffe wie Dschihad, Idschtihad, Sunna, Hadith, Tradition, Vernunft und Offenbarung für fruchtbar? Wie beurteilen Sie die Arbeiten der Gelehrten in der islamischen Welt zu diesen Themen?

Antwort:
Je mehr das Wissen über Religion zunimmt, desto mehr nimmt die wahre Erkenntnis ab – und mit abnehmender Erkenntnis verschwindet die Weisheit. Fast alle Grundbegriffe des Islam erleben eine Bedeutungsverengung oder sogar Bedeutungsverschiebung. Wenn das Denken verarmt, verarmen auch die Begriffe. Es gibt einen Begriff namens „Ingenieurskunst der Unwissenheit“ (cehalet mühendisliği). Damit ist gemeint, dass man den Menschen durch Information und Bildung in einem Zustand der Unwissenheit hält. Unwissenheit ist nicht das Gegenteil von Wissen. Einen Menschen bloß mit Informationen zu überladen, macht ihn nicht zu einem Wissenden. Information allein befreit nicht aus der Unwissenheit.

Wir leben in einer Zeit, in der der Zugang zu Information so leicht ist wie nie zuvor. Doch in diesem Ozean an Information bleiben wir ohne wahre Erkenntnis.

Was braucht es also? Es braucht Furqān. Mit dem Koran zusammen braucht es Furqān – also die Fähigkeit, richtiges von falschem Wissen zu unterscheiden. Furqān bedeutet, eine Methodologie und ein übergeordnetes Weltbild zu haben, das zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden vermag.

Tatsächlich hat die größte Revolution des Korans auf der Ebene der Begriffe stattgefunden. Der Koran hat die arabische Sprache aus ihrem regional begrenzten, an die Wüste, das Kamel, die Dattelpalme und den Hedschas gebundenen Kontext herausgelöst und zu einer Sprache gemacht, die das gesamte Universum umfasst. Alle von Muslimen verwendeten Sprachen – Türkisch, Persisch, Urdu, Malaiisch – haben dadurch eine sprachliche Revolution durchlaufen.

Heute gibt es kaum noch einen Begriff, der nicht missverstanden wird. Ihre genannten Beispiele stehen exemplarisch dafür:
„Dschihad“ etwa ist ein Begriff, dessen Definitionsmacht uns entzogen wurde. Er wurde entweder auf den inneren Kampf gegen das eigene Ego reduziert oder auf den bewaffneten Kampf ohne klare Methodik.
„Idschtihad“ ist nicht länger die kollektive intellektuelle Bewegung, die das islamische Denken erneuert, sondern wurde auf einzelne Rechtsurteile früherer Gelehrter beschränkt.
„Sunna“ ist nicht mehr das ganzheitliche Vorbild des Propheten in allen Lebenslagen, sondern wurde auf wenige äußere Handlungen reduziert.
„Vernunft“ war einst eine Quelle, die zusammen mit der Offenbarung Religion und Welt gestaltete – heute wird sie fälschlicherweise als Gegensatz zur Offenbarung verstanden.
„Offenbarung“ schließlich ist nicht mehr das göttliche Licht, das die Menschheit aus der Finsternis ins Licht führt, sondern wird auf eine spezifische, punktuelle Eingebung an das Herz des Propheten reduziert.
Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Was die Diskussionen rund um die Grundbegriffe des Islam betrifft, so halte ich einige davon für sinnlos, andere jedoch für durchaus fruchtbar. Ich finde es nicht richtig, außerhalb der methodologischen Grundlagen Begriffe zu verändern, die in allen Zeiten Konsens gefunden haben. Aber ich bin überzeugt, dass jeder Begriff je nach Zeit neue Bedeutungsdimensionen entfalten kann.

Ein Beispiel: Der grundlegendste Begriff im Islam ist Tawḥīd – der Monotheismus. Wenn wir drei Bücher über den Tawḥīd aus unterschiedlichen Epochen vergleichen, wird deutlich, wie sich dieser zentrale Begriff gewandelt hat:
Erstens das Kitāb at-Tawḥīd von Imām al-Māturīdī – ein Werk, das die islamische Theologie maßgeblich geprägt hat.
Zweitens das Kitāb at-Tawḥīd von Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb – ein Werk, das einer salafistischen Ideologie den Weg bereitet hat.
Und drittens das Buch Tawḥīd von Ismāʿīl Rājī al-Fārūqī – ein Werk, das die monotheistische Weltanschauung als Grundlage einer Zivilisation versteht.
Der Vergleich dieser drei Werke macht deutlich, was ich meine.

Frage 3:
Die islamische Zivilisation hat sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder mit anderen Kulturen – etwa der griechischen, indischen oder persischen – synthetisiert. Heute führt im Zeitalter der Globalisierung eine Offenheit gegenüber kultureller Synthese in der islamischen Welt oft zu Verwirrung, während ein Rückzug auf das eigene Wesen in eine konservative Stagnation münden kann. Wie lässt sich dieses 200 Jahre alte Dilemma überwinden? Wie kann der Islam zur „Wahrnehmung der Zeit“ sprechen?
(Ihre Masterarbeit über Musa Cârullah Bigiyef befasst sich mit seinen reformistischen Ideen. Inwiefern haben Bigiyefs Gedanken Ihren Zugang zum islamischen Denken beeinflusst? Welche Lehren können wir heute aus seinem Erbe ziehen?)

Antwort:
Zunächst einmal: Der Islam beginnt seine Geschichte nicht mit der Offenbarung des Korans, sondern mit dem ersten Menschen und dem ersten Propheten. Die Botschaft aller Propheten ist in der Botschaft des Islam enthalten. Der Islam berücksichtigt das gesamte Dasein, das Universum und die Geschichte der Menschheit. Wo auch immer Weisheit zu finden ist, betrachtet er sie als verlorenes Recht, das es zurückzugewinnen gilt. Das zeigt sich deutlich sowohl in den ersten Übersetzungsbewegungen als auch in der Entstehung der Zivilisationen von al-Andalus und Transoxanien. Dies hing auch mit dem Selbstbewusstsein der Muslime bei der Begegnung mit anderen Zivilisationen zusammen.

Um überhaupt davon sprechen zu können, den Islam dem Verständnis der Zeit anzubieten, muss man zuerst prüfen, ob dieses Verständnis überhaupt noch vorhanden ist – oder ob es nicht vielleicht längst einem „kognitiven Tod“ zum Opfer gefallen ist. In dem Fall müsste man dieses Bewusstsein erst wiederbeleben.

Hier gibt es zwei Arten von Vernunft: die angeklagte und die zeugenschaftliche Vernunft. Die angeklagte Vernunft fühlt sich stets auf der Anklagebank, sie hat ihr Selbstvertrauen verloren und neigt zur Verteidigungshaltung. Die zeugenschaftliche Vernunft hingegen sieht sich – im Sinne des Korans – als Zeugin für die Menschheit.

Die erste Vernunft hat in den letzten zwei Jahrhunderten eine eigene Literatur hervorgebracht, die ich „Literatur des Zurückbleibens“ nenne. Sie beschäftigt sich ständig, oft kleinlaut und mit komplexbeladener Haltung, mit Fragen wie: „Warum sind sie (der Westen) vorangekommen und wir zurückgeblieben?“
Auch die zeugenschaftliche Vernunft hat eine eigene Literatur hervorgebracht, die man mit drei Begriffen zusammenfassen kann: Tajdīd (Erneuerung), Islāḥ (Reform) und Iḥyāʾ (Wiederbelebung). Auch diese Richtung hat ihre inneren Widersprüche.

Der von Ihnen als „reformistisch“ bezeichnete Mūsā Cārullah lehnt den Begriff Reform jedoch strikt ab und fordert eine Neubewertung dieser ganzen Literatur. In einem seiner Werke sagt er sinngemäß:
„Der Islam altert nicht – warum sollten wir ihn also erneuern? Aber unsere Gedanken, unsere Weltanschauungen, selbst unsere Rechts- und Theologiesysteme altern und bedürfen daher ständiger Erneuerung.
Der Islam wird nicht krank – warum sollten wir ihn also verbessern? Aber unser Wesen, unsere Seele, unser Leben und unser moralisches Verhalten sind von Krankheiten befallen. Diese gilt es zu bessern.
Der Islam stirbt nicht – warum also ihn wiederbeleben? Aber unsere Seele, unser Bewusstsein, unser innerstes Wesen sind einem gewissen Tod ausgesetzt. Diese müssen wir wieder zum Leben erwecken.“

Mūsā Cārullahs vierzigjähriges Leben im Exil war – wenn man so will – geprägt von harter intellektueller Arbeit auf beschwerlichen Wegen. In all den Ländern, in denen er Station machte – bei den Muslimen Russlands, den Tataren von Kasan, auf dem indischen Subkontinent, in Afghanistan, Japan, Turkestan, der Türkei, dem Irak, Iran, in Berlin oder Ägypten – hinterließ er Spuren, die bis heute eine Inspirationsquelle für alle sind, die Gedanken entwickeln und Ideen in die Tat umsetzen wollen.
Natürlich gibt es unter seinen Ansichten auch solche, denen ich nicht zustimme. Ewige Wahrheiten dürfen nicht auf sterbliche Personen gegründet werden.

In diesem Sinne halte ich Mūsā Cārullah im Besonderen und die Dschadīd-Bewegung der nordtürkischen Gelehrten aus der Wolga-Ural-Region ab dem 18. Jahrhundert im Allgemeinen für äußerst bedeutsam.
Gelehrte und Denker wie Schihāb ad-Dīn Marğānī, Riḍā ad-Dīn Faḫr ad-Dīn und ʿAbd an-Naṣir Kursāwī haben diese Bewegung weitergetragen – sie alle können in gewisser Weise als die zweiten Ibn Ḫaldūns gelten.

Frage 4:
Wie würden Sie die grundlegende existentielle Krise des Menschen in der heutigen Welt beschreiben?
Bietet der Islam angesichts der Spannungen zwischen dem Lebensstil des modernen Menschen und seinem Glauben, zwischen seinen individuellen Problemen und seiner Sinnwelt ausreichende Lösungen?
Wie sollte das Gleichgewicht zwischen Glaube und Freiheit, zwischen Moral und Politik aussehen?
Wie bewerten Sie die diesbezüglichen Diskussionen und Bemühungen in der Türkei und der islamischen Welt?

Antwort:
Die grundlegende existentielle Krise des Menschen heute ist eine Sinnkrise. Diese Sinnkrise hat zugleich eine erschütternde moralische Krise hervorgebracht. Die einzige Kraft, die den Menschen aus dieser Krise herausführen kann, liegt im Islam. Denn der Islam ist die Religion der natürlichen Veranlagung (fitra).
Nach islamischem Verständnis liegt das Wesen und die Wahrheit des Menschen nicht in seiner bloßen Natur, sondern in seiner Fitra. Als Gott den Menschen erschuf, gab Er ihm zwei „Programme“ mit auf den Weg: eines nennen wir Natur, das andere Fitra.
Mit Seinem Namen „al-Khāliq“ schuf Er die Natur und legte sie in den Körper des Menschen; mit Seinem Namen „al-Fāṭir“ schuf Er die Fitra und prägte sie seiner Seele ein. Die Natur umfasst rationale, emotionale und sinnliche Fähigkeiten wie Verstand, Intelligenz, Gefühle, Sehen und Hören.
Die Fitra dagegen ist ein in der Seele verankertes Gedächtnis an Werte. Nur wenn der Mensch diese inneren Werte in sein Leben überträgt, kann er wahrhaft glücklich werden. Das Ziel des Islam ist es, Natur und Fitra miteinander zu vereinen, sodass der Mensch zu einem vollkommenen Wesen wird.

Das Verhältnis zwischen Glaube und Freiheit hängt davon ab, wie wir Freiheit definieren. Es gibt drei Arten von Freiheit: körperlich-leibliche Freiheit, politische-zivile Freiheit und moralisch-gewissensmäßige Freiheit.

Die körperlich-leibliche Freiheit bedeutet, dass man seinen Körper und seine Glieder ohne äußeren Zwang frei einsetzen kann. Das ist die grundlegendste Form der Freiheit.
Ein freier Mensch im politischen und zivilrechtlichen Sinne ist jemand, der über alle ihm von Geburt an oder später zugesprochenen Rechte verfügt.
Politische Freiheit besteht in der Inanspruchnahme jener Rechte und Kompetenzen, die die zivile Freiheit absichern.

Die höchste Form der Freiheit aber ist die moralische und gewissensmäßige Freiheit, also die Willensfreiheit.
Diese Freiheit bedeutet, den eigenen Trieben nicht willenlos zu folgen. Auch Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit und rationale Freiheit lassen sich letztlich auf Willensfreiheit zurückführen.
Ohne moralische und gewissensmäßige Freiheit gibt es keine politische und zivile Freiheit. Und ohne diese wiederum gibt es auch keine körperliche Freiheit.
Daher gibt es viele Menschen, die sich auf Straßen und Plätzen frei fühlen – tatsächlich sind sie es aber nicht. Ebenso gibt es Menschen in Gefängnissen, die in Wirklichkeit frei sind.
Gab es je einen freieren Menschen als Josef (Friede sei mit ihm), obwohl er in einem Brunnen oder Gefängnis war?
Und gab es je ein stärker versklavtes Wesen als den Pharao, obwohl er im Palast lebte?

Daraus folgt: Die Willensfreiheit steht an erster Stelle aller Freiheitsformen. Denn um alle anderen Freiheiten zu schützen, bedarf es eines freien und kraftvollen Willens.
Das ist zugleich der zentrale Weg, um Sinnkrise und Moralkrise zu überwinden.

Was die Beziehung zwischen Moral und Politik betrifft, so gibt es aus islamischer Sicht zwei grundlegende Prinzipien, die der Politik Sinn verleihen: Moral und Gerechtigkeit.
Man kann dem noch die Barmherzigkeit hinzufügen, denn die Gerechtigkeit des Islam ist stets von Barmherzigkeit umhüllt.
Für Muslime ist Moral heute keine Frage der Vervollkommnung, sondern eine Frage des Überlebens.
Es gibt kaum ein öffentliches Handlungsfeld, das so sehr auf Moral angewiesen ist wie die Politik.

Die politische Krise in der islamischen Welt lässt sich auch als eine Krise der Vernunft und des Willens deuten.
Die Vernunftkrise ist zugleich eine Wahrheitskrise, denn Wahrhaftigkeit ist die höchste moralische Qualität der Vernunft.
Die Willenskrise ist eine Treuekrise, denn Treue ist die höchste moralische Qualität des Willens.

Die Trennung von Religion und Welt sowie von Religion und Politik ist eine Empfehlung der säkularen Ideologie – aus islamischer Sicht jedoch inakzeptabel.
Aber die Trennung von Religion und Moral bedeutet nicht nur die Trennung von Religion und Welt oder Politik, sondern letztlich die Trennung der Religion von sich selbst.

Frage 5:
Während Ihrer Amtszeit als Präsident der Religionsbehörde Diyanet übernahmen Sie in kritischen Zeiten wie dem Putschversuch vom 15. Juli eine bedeutende Rolle.
Wie bewerten Sie die Rolle religiöser Institutionen in solchen gesellschaftlichen Krisenzeiten?
Wie kann die Religion als Hebel zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts dienen?
Bieten die Prinzipien von Gerechtigkeit und Moral im Islam ausreichend Lösungen gegen spaltende Tendenzen wie Sektierertum und ethnischen Nationalismus?

Antwort:
In der Moderne haben religiöse Institutionen sowohl in ihrem Wesen als auch in ihrer Funktion grundlegende Wandlungen erfahren.
Über diese Institutionen entstehen manchmal Einigungen, manchmal jedoch auch Spaltungen.
Die Aufgabe religiöser Institutionen besteht nicht nur darin, das Gebet zu leiten, rituelle Handlungen zu organisieren oder religiöse Dienste zu verwalten.
Im Islam gibt es kein Priestertum. Jeder Gläubige ist zugleich der Träger seines eigenen Glaubens.
Dennoch wurden religiöse Institutionen als notwendig erachtet, um die Organisation religiöser Dienste zu gewährleisten.

Im Islam ist die gesamte Erde eine Moschee. Überall kann Gottesdienst verrichtet werden.
Die in Gemeinschaft ausgeübten rituellen Handlungen dienen in erster Linie dazu, Einheit, Zusammenhalt und Solidarität zu stärken – und darüber hinaus, die Idee der Umma lebendig zu halten.
Zwischen Gesellschaft und Umma besteht ein fundamentaler Unterschied:
Eine Gesellschaft ist eine Ansammlung von Menschen, die sich im Rahmen gegenseitiger Interessen und Nutzen organisiert.
Eine Umma hingegen ist eine Gemeinschaft, die sich um gemeinsame Glaubensüberzeugungen und hohe ethische Werte versammelt.

In der Nacht des 15. Juli habe ich eine Botschaft an das gesamte Diyanet-Personal gesendet, in der sich auch die Antwort auf Ihre Frage findet.
Darin sagte ich sinngemäß:
„Die Aufgabe religiöser Institutionen besteht nicht allein im Leiten des Gebets oder in der Organisation von Gottesdiensten.
Gerade in Zeiten großer Not ist es ihre Pflicht, den Geist der Einheit und Geschlossenheit zu mobilisieren, das Volk vor Verrat zu schützen, den Frieden, das Recht, die Gerechtigkeit und die Geschwisterlichkeit ohne Kompromisse zu sichern.“
Doch wenn religiöse Institutionen zu einem bloßen Instrument der Politik werden, verlieren sie ihre eigentliche Stärke – und werden zudem unfähig, wie in Ihrer Frage angedeutet, Spaltungen und Polarisierungen zu überwinden.

Der Islam ist eine Religion der Einheit (Tawhid).
Zwischen Tawhid (Einheit Gottes) und Wahda (Einheit der Gemeinschaft) besteht ein untrennbarer Zusammenhang.
Der Islam hat das Thema von Sprache, Ethnie und Geschlecht von Anfang an gelöst.
Er hat verkündet, dass Überlegenheit allein in der Gottesfurcht (Taqwā) liegt.

Die berühmte Aussage des Propheten in seiner Abschiedspredigt war stets ein Wegweiser für die Menschheit:
„O Menschen, ihr seid alle von Adam, und Adam wurde aus Erde erschaffen. Kein Araber ist einem Nichtaraber überlegen, kein Weißer einem Schwarzen – die Überlegenheit liegt einzig in der Gottesfurcht.“

Frage 6:
In der heutigen Welt, insbesondere in Großstädten, hat sich ein Phänomen der „anonymen Religiosität“ entwickelt (sichtbar in den sozialen Medien, aber innerlich entfremdet).
Können wir sagen, dass religiöse Gemeinschaften für Individuen heute nicht mehr so attraktiv und wirksam sind wie früher?
Sind in diesem Zusammenhang die Religionsbehörde Diyanet und die theologischen Fakultäten Ihrer Meinung nach ausreichend in Bezug auf religiöse Wahrnehmung, Bildung und Lösungskompetenz?

Antwort:
Ein Mensch – oder insbesondere ein junger Mensch – kann sein religiös-spirituelles Leben auf zwei Wegen aufbauen:
Erstens über Identitätswerte, also über Sozialisierung – durch Zugehörigkeit zur Familie, zur Moschee, zu einer religiösen Gemeinschaft oder einem Orden.
Zweitens über Persönlichkeitswerte – also durch Lesen, Forschen, durch die eigenständige Wahl religiöser Wissensquellen und durch eigene Erfahrungen.
Mit anderen Worten: Spirituelles Leben kann entweder durch Gemeinschaft und Sozialisierung oder durch individuelle Bemühung gestaltet werden.
Beide Wege sind auch vom Islam empfohlene Methoden.
Es gibt also eine spirituelle Reise von der Identität zum Selbst sowie eine Entwicklung vom Selbst zur Identität.

Um von der Identität zum Selbst zu gelangen, ist Gemeinschaft, also Sozialisierung nötig – hierfür braucht es Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder Umma.
Um vom Selbst zur Identität zu gelangen, muss das Individuum seine Spiritualität selbstständig entwickeln.
Die Veränderungen und Transformationen, denen junge Menschen heute ausgesetzt sind, lenken sie zunehmend auf diesen zweiten Weg.
Ich nenne das individuelle Spiritualität.

Junge Menschen wollen heute ihre individuelle Spiritualität aufbauen, doch sie schaffen das nicht allein.
An dieser Stelle stehen sie vor zwei Problemen:
Zum einen die Schwäche sozialer Institutionen wie Familie, Moschee, Schule, Orden, Gemeinschaften, Vereine und Stiftungen, junge Menschen in ihrer individuellen Spiritualitätsentwicklung zu unterstützen.
Zum anderen das Fehlen oder die Schwäche von Mechanismen, die ihnen auf dem Weg zur individuellen Spiritualität helfen könnten.

Diese Zerrissenheit führt junge Menschen in verschiedene Richtungen:
Manche geraten in die Arme gewisser Theologen, die selbst eine religiöse Krise erleben;
andere folgen religiösen Figuren mit extremen, karikaturartigen Aussagen;
wieder andere werden zu Konsumenten der säkularen Selbsthilfeindustrie –
oder – wie bei manchen Jugendlichen im Westen – in die Netze gewaltsamer Bewegungen wie des IS gezogen.

Dies alles führt zu einem Problem der spirituellen Sicherheit.
Was meine ich damit?
Ein spiritueller Sicherheitsverlust ist im Grunde eine Sinnkrise, ein Vertrauensverlust – sowohl gegenüber dem eigenen Herzen als auch gegenüber dem Verstand.
Es ist das Erzeugen von Zweifeln gegenüber den unverrückbaren Grundlagen der Religion, den klaren Prinzipien und den ehrwürdigen Wahrheiten.
Es ist, wenn das spirituelle Feld zur Plattform für Spekulation, Streit und ideologische Polarisierung wird – und dabei seine Würde und Einigkeit verliert.
Es ist, wenn der heilige und unschuldige Charakter der Religion angegriffen wird.
Dies ist im Kern ein moralisches Problem.

Wenn Menschen im Namen spiritueller Erziehung einander als Ungläubige bezeichnen oder sich gegenseitig abschrecken – dann haben wir es mit einem Problem spiritueller Sicherheit zu tun.
Ebenso ist es ein Problem spiritueller Sicherheit, wenn unsere Werte untergraben und unsere religiösen Empfindsamkeiten gezielt verletzt werden.

Daher sind sowohl die offiziellen als auch zivilgesellschaftlichen religiösen Institutionen, ebenso wie die theologischen Fakultäten, gefordert, sich in dieser Hinsicht grundlegend zu hinterfragen.

Frage 7:
In Ihrem Buch „Gençliğin Anlam Arayışı“ (Die Sinnsuche der Jugend) weisen Sie auf die spirituelle Leere junger Menschen in der modernen Welt hin.
Wie sollten wir insbesondere in Zeiten der digitalen Individualisierung und Konsumkultur die Jugend lenken?
Junge Menschen nutzen heute neue Quellen wie soziale Medien, um sich religiöses Wissen anzueignen – das führt jedoch oft zu Informationsverzerrung und Verwirrung.
Andererseits wird behauptet, dass Religion und Religiosität für die Jugend zunehmend an Reiz verlieren und eine Sinnkrise im Raum steht, die mit Begriffen wie Deismus, Atheismus oder Nihilismus beschrieben wird.
Stimmen Sie dem zu?
Welche Antworten kann der Islam auf die Sinnsuche heutiger Jugendlicher geben?

Antwort:
Es ist unbestritten, dass wir heute in nahezu allen Bereichen tiefgreifende Veränderungen im Leben junger Menschen erleben.
Ebenso ist es eine Tatsache, dass das Verhältnis der Jugend zur Religion an einem neuen Wendepunkt angelangt ist.

Aber entfernen sich junge Menschen wirklich von der Religion?
Wenn ja – führt diese „Entfernung“ tatsächlich zu einem Bruch?
Und wenn ja, worauf basiert diese Behauptung?
Führt diese angenommene Entfremdung, wie in den letzten Jahren häufig behauptet wird, tatsächlich zu Deismus, Atheismus oder Agnostizismus?
Oder gar zu einer islamfeindlichen Haltung, zu einer Art Islamophobie?

Oder kann man das Ganze vielleicht vielmehr als einen Ausdruck der Sinnsuche junger Menschen in einer von Sinnkrisen geprägten Welt interpretieren?
Könnte diese Veränderung nicht vielmehr als ein Prozess des Fragens und Hinterfragens verstanden werden?
Und führen diese Fragen junge Menschen nicht gerade zu einem reflektierten, fundierten Glauben (tahkiki iman)?

Die entscheidende Frage ist: Können wir diese Fragen und Zweifel in eine positive Kraft verwandeln?
Wenn ja – wie?

Wir verfügen nicht über umfassende, groß angelegte Forschungsdaten, um diese Fragen eindeutig zu beantworten.
Ich kann jedoch einige Überlegungen anstellen – basierend auf begrenzten quantitativen und qualitativen Studien, auf Master- und Doktorarbeiten, und vor allem auf meinen eigenen Erfahrungen:
Aus offiziellen Ämtern, aus den Arbeiten unseres Instituts, aus Gesprächen mit Jugendlichen und aus Begegnungen mit ihren schwierigen Fragen.

Meiner Ansicht nach liegt ein Großteil des Problems im Verhältnis zwischen Jugend und Religion nicht bei den Jugendlichen selbst, sondern bei uns Erwachsenen.
Es liegt an der Welt, die wir ihnen bereitet haben.
Es liegt an fehlerhaften Bildungs- und Erziehungssystemen.
Es liegt an problematischen Familienstrukturen und fehlerhaften elterlichen Verhaltensweisen.
Es liegt an uns Lehrenden, Predigern, Vorbildern – daran, dass wir unsere Vorbildfunktion verloren haben.
Vielleicht ist unser größtes Versäumnis, dass wir nicht so erfolgreich darin waren, unsere Werte an die nächste Generation weiterzugeben, wie unsere Eltern es bei uns waren.

Wie auch immer die Ursachen sein mögen – ich sehe die derzeitigen Veränderungen im Verhältnis zwischen Jugend und Religion nicht als Abkehr vom Glauben,
nicht als Bruch mit der Religion,
nicht als Siegeszug von Deismus, Atheismus oder Agnostizismus,
auch nicht als eine Rückkehr zu einem philosophischen Atheismus wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

Ich betrachte all dies vielmehr als eine neue Phase der Sinnsuche.
Als einen neuen Prozess des Fragens und Suchens.
Und wenn auf diese Fragen keine Antworten gefunden werden, entstehen Entfremdung, Gleichgültigkeit, Sinnkrisen und spirituelle Erschöpfung.

Ich interpretiere diese Fragen und Zweifel als neue Formen der Kritik an Religion oder an bestimmten religiösen Verständnissen, Ausdrucksformen und Praktiken.
Wie bereits in der vorherigen Frage erwähnt, sehe ich hierin eine mögliche Folge des Rückzugs von gemeinschaftlicher Spiritualität – eine individuelle Suche, die aber oft scheitert und zu spirituellen Krisen führt.

Frage 8:
Sie sprachen von der Dominanz der visuellen Wahrnehmung im modernen Bewusstsein.
Wie kann die islamische Lehre in einer bildschirmzentrierten Welt das Gleichgewicht zwischen Herz und Verstand wiederherstellen?
Welche ethischen Perspektiven bietet die islamische Ethik angesichts neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz und Gentechnik?

Antwort:
Man kann sagen, dass sich heute eine neue Zivilisation des digitalen Bildschirms über die Menschheit gelegt hat.
Natürlich bringt diese Zivilisation gewisse Vorteile mit sich – wie etwa den erleichterten Zugang zu Informationen und neue Kommunikationsmöglichkeiten.
Aber ebenso wie sie uns etwas gibt, nimmt sie uns auch viel. Denn diese Zivilisation verwandelt ihre Mitglieder in passive Zuschauer.

Ihr Hauptmotor ist nicht der Verstand, sondern das Auge.
Ihr wesentliches Tun ist nicht das Denken, sondern das Schauen.
Nicht das Betrachten im Sinne von Reflektion, sondern das bloße Konsumieren von Bildern.

In dieser Zivilisation verliert das Auge seine Funktion als Werkzeug der Betrachtung und wird zum Medium von Begierde und Verlangen.
Das wiederum bringt Egoismus, Maßlosigkeit, Gleichgültigkeit und sogar Gewalt hervor.
Der Mensch definiert in dieser Ordnung seine Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt nicht mehr über die Wahrheit, sondern über die Oberfläche – über Bilder.

Diese Zivilisation macht die visuelle Wahrnehmung zum dominanten Sinn.
Und diese Dominanz schwächt das Erkennen durch den Verstand und tötet – in gewissem Sinne – das Erkennen durch das Herz.

Wenn die visuelle Wahrnehmung dominiert, nimmt der Mensch jede Wahrheit nur noch über das Bild wahr.
Mit dieser reduzierten Wahrnehmung wird es nahezu unmöglich, Gott zu erkennen, an Ihn zu glauben oder eine tiefgründige Beziehung zu Ihm aufzubauen.
Auch die Moral wird durch die Dominanz des Bildes transformiert.
Kurz gesagt: Die größte Bedrohung unserer Zeit ist nicht der körperliche Tod, sondern der Tod der Wahrnehmung.

Zunächst möchte ich klarstellen:
Dieser Dominanz der visuellen Kultur können wir nicht mit einer rein auf Geboten und Verboten, auf Halal-Haram oder Belohnung und Sünde basierenden religiösen Sprache entgegentreten.
Wir können sie nicht durch abstrakte Regeln und bloße Appelle überwinden.
Auch eine Moral, die den ethischen Verstand (ʿaql al-aḥkām) nicht einbezieht, wird daran scheitern.

Solange wir eine Wertephilosophie verloren haben, die Hierarchie der Werte durcheinandergeraten ist, und wir Mittelwerte mit Zweckwerten verwechseln, ist keine echte ethische Orientierung möglich.
Auch mit einer religiösen Sprache, die selbst der Logik der visuellen Kultur unterworfen ist, oder mit digitalen Predigern und virtuellen Gemeinschaften werden wir dieses Problem nicht lösen können.

In meinen Studien schlage ich zwei ethische Konzepte als Antwort vor: die Ethik des Willens (irade ahlakı) und die Ethik der Scham bzw. der inneren Würde (hayâ ahlakı).
Die Ethik des Willens ist – wie bereits erwähnt – der Ausdruck echter Freiheit.
Und die Ethik des hayâ ist nicht bloß ein Gefühl der Scham oder des Vermeidens. Sie ist eine umfassende Lebensethik.

Die Grundprinzipien dieser Ethik lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Den Weg zurückfinden von einer auf Inszenierung und Sichtbarkeit basierenden Gesellschaft hin zu einer des Wissens, Denkens und der Kontemplation.
  • Den Menschen von der Dominanz der visuellen Wahrnehmung befreien und ihm zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung verhelfen.
  • Die Wahrheit hinter der Oberfläche erkennen: Die äußere Form ist nicht die eigentliche Realität der Dinge.
  • Den Sinn des Sehens und Betrachtens neu ausrichten – weg vom bloßen Genuss, hin zum Verstehen, zur Reflexion und zur inneren Einsicht.
  • Das Sehen nicht nur als Funktion des Auges, sondern auch des Verstandes (nazar) und des Herzens (basar, basîret) begreifen.
  • Vom bloßen Zuschauer zum bewussten Beobachter werden.
  • Die Unterscheidung zwischen bloßem Konsum von Bildern und echter Betrachtung lernen.
  • Den voyeuristischen Blick, der auf Neugier und Besitzdenken basiert, durch die Haltung des Zeugenschafts (şehadet) ersetzen – also ein ethisch reflektierter Zeuge der Welt werden.
  • Den Exhibitionisten, der glaubt, sich selbst inszenieren zu müssen, zur inneren Einsicht (meşhûd) führen – ihm bewusst machen, dass er stets unter der Beobachtung seines Schöpfers steht.
  • Die Sichtweise auf die Welt von der materiellen (eşyâî nazar) zur spirituellen (esmâî nazar) Perspektive lenken.

Der eşyâî nazar ist materialistisch – er sieht die Dinge als bloße Objekte und versucht, sie zu besitzen.
Der esmâî nazar hingegen ist geistig und metaphysisch – er erkennt in allem das Göttliche, die Namen Gottes, und empfindet deshalb Scham, Ehrfurcht und Verantwortung.

Frage 9:
Glauben Sie, dass Themen wie Ästhetik und Kunst im Kontext einer islamischen Erneuerung in den islamischen Gesellschaften vernachlässigt wurden?
Wie kann eine islamische Ästhetik heute wiederbelebt werden?
Ist eine neue Vorstellung von einer urbanen, modernen muslimischen Gesellschaft denkbar, die sich vom ländlich geprägten Religionsverständnis abhebt und zugleich die Möglichkeiten des modernen Lebens integriert?
Mit welchen Mitteln und auf welcher Grundlage könnte dies geschehen?
Was sollten zivilgesellschaftliche Gemeinschaften, Bildungseinrichtungen und der öffentliche Sektor in dieser Hinsicht priorisieren – welche Vision und Strategie wäre notwendig?

Antwort:
Die gegenwärtige Situation im Bereich der islamischen Künste – ja generell in der Kunst und Ästhetik – bedarf einer grundlegenden Reflexion und einer tiefgehenden Auseinandersetzung.
Eine Zivilisation, die in nahezu allen Kunstrichtungen – von Architektur über Musik und Literatur bis hin zu Kalligraphie, Miniaturmalerei und Ebru – feinsinnige und hochwertige Werke hervorgebracht hat, muss sich heute der ernüchternden Realität stellen, dass ihr aktueller kultureller Output eine kritische Bestandsaufnahme erfordert.

Wie in vielen Bereichen, ist auch im künstlerischen Ausdruck die grundlegende Perspektive der Muslime dem Islam entnommen.
Wenn der Schöpfer selbst Seine Existenz mit Ausdrücken des Schönen und Vollkommenen beschreibt und alle Geschöpfe in der „schönsten Gestalt“ erschaffen hat, dann ist dies Ausdruck Seiner Eigenschaften der Macht (Qudra) und der Schönheit (Cemal).

An dieser Stelle ist ein grundlegender Unterschied zwischen den Begriffen ḥusn (Schönheit im islamischen Sinne) und aisthesis (ästhetische Wahrnehmung) zu betonen:
Ḥusn bedeutet nicht nur das Schöne, sondern zugleich auch das Gute und Richtige.
Aisthesis hingegen bezieht sich rein auf Sinneswahrnehmung – Schönheit ist hier nur in der subjektiven Erfahrung denkbar.
Im westlichen Verständnis wird Schönheit erst durch die Wahrnehmung eines Betrachters „real“.
Im Begriff ḥusn hingegen existiert das Schöne unabhängig vom Menschen – auch wenn es niemand sieht oder erkennt, bleibt es gut und schön.

Sich im Reich der hohen Kunstformen zu bewegen bedeutet vor allem, sich der göttlichen Weisheit zu öffnen.
Es heißt, nicht nur die Oberfläche der Dinge zu betrachten, sondern in ihr Wesen einzudringen – ein Verlangen nach Tiefe, Einsicht und innerem Verständnis.
Die göttlichen Namen Cemal (Schönheit) und Bedîʿ (der Einzigartige, der Schöpfer des Neuen) offenbaren uns die tiefsten Bedeutungen des Seins.

Zweifellos drücken sich die 99 schönen Namen Gottes (esmâ al-ḥusnâ) jeweils in unterschiedlichen Aspekten einer ausgewogenen, harmonischen und ästhetisch durchdrungenen Realität aus.
Sie bieten uns eine göttliche Orientierung, die beim Gestalten von Kunst, Leben und Gesellschaft nicht ignoriert werden darf.

Die islamischen Künste zeigen, wie sich das Gefühl für Schönheit konkret in materieller Kunst – und gleichzeitig vertieft in Sprache und Literatur – verkörpert.
Die Bauwerke der muslimischen Welt, die aus ihrer jeweiligen kulturellen Umgebung heraus entstanden sind, spiegeln immer auch das jeweilige Gottes- und Zivilisationsverständnis wider.
Man sagt, die Eroberung Istanbuls ist weniger durch die Kanonen Fatihs als durch die Kuppeln Sinans vollzogen worden.
Wenn wir heute diese künstlerischen Erzeugnisse betrachten – oft nur noch als historische Kulisse – können wir dennoch in jedem Werk die innewohnende Liebe, die Transzendenzsuche und das Verlangen nach göttlicher Nähe erkennen.

Und immer wieder stellt sich die unvermeidliche Frage:
Warum gelingt es uns heute nicht, mit derselben Tiefe und Aufrichtigkeit neue Kunstwerke hervorzubringen?

Ein Volk, das im Laufe der Geschichte immer wieder die Fähigkeit bewiesen hat, Zivilisation zu stiften, scheint heute in einer ästhetischen und sprachlichen Krise zu stecken.
Statt einer entwickelnden und bedeutungsvollen Sprache herrscht oft ein rhetorischer Ton vor, der eher oberflächlich zur Schau stellt als inhaltlich formt.

Islamische Kunst ist ein Ausdruck des Blicks des Herzens – ein Katalog des Sehens mit dem inneren Auge und der Reflexion.
Die innere Tiefe des Islam offenbart sich in allen Bereichen des Lebens, in denen Sprache, Kultur und Handeln im Rahmen von Gutem, Schönem und Wahrem produziert werden.

Die Transzendenz, die eine Moschee in der Architektur verkörpert, kann nur durch künstlerisches Bemühen entstehen.
Ob in Itrîs Tekbir oder in Sinans Selimiye: immer spiegelt sich ein auf Gott zentriertes Empfinden in künstlerischem Ausdruck wider.

Wenn al-Fârâbî sagt, dass die Harmonie einer Gesellschaft sich in ihrer Musik zeigt, hat er nicht Unrecht.
Heute ist diese feine Balance zerstört:
Karikaturhafte Architektur, Kunst, die dem bloßen Begehren dient, überdimensionierte Werke, die eher Unruhe als Stille hervorrufen – das sind Erscheinungen, über die wir sprechen müssen.

Das Problem ist so tiefgreifend, dass selbst einfache Diskussionen oft in hitzigen Auseinandersetzungen enden.
Wir schaffen es nicht mehr, mit sprachlicher Meisterschaft Konflikte zu lösen – im Gegenteil: wir befeuern mit „meisterhaften Polemiken“ stets neue Streitigkeiten.

Die islamische Kunst lebt von ihrer Verbindung zum Göttlichen.
Sie ermöglicht es, mit dem Blick Gottes auf die Welt zu sehen – diese spirituelle Beziehung ist ihr unersetzliches Merkmal.

Frage 10:
In einer Ihrer Reden haben Sie Gaza und Granada miteinander verglichen und auf die Gleichgültigkeit der islamischen Welt gegenüber der Palästinenserfrage hingewiesen.
Was sind die Hauptgründe dafür, dass die islamische Welt in solchen Krisen keine Einheit bilden kann?
Wie kann ein intellektueller Aufbruch in dieser Hinsicht ausgelöst werden?

Antwort:
Als Mensch und Gläubiger, der die Tragödien in Gaza – Schauplatz eines der größten Völkermorde der jüngeren Geschichte – verfolgt, habe auch ich mir diese Frage gestellt:
Warum können zwei Milliarden Muslime ihre zwei Millionen Brüder und Schwestern nicht retten?
Diese Frage führte mich unweigerlich zurück zur Zerstörung der achthundertjährigen andalusischen Zivilisation.
Ich begann darüber nachzudenken, warum die muslimische Welt damals – genau wie heute in Gaza – den Hilferufen der Muslime in Granada, der letzten Bastion Andalusiens, nicht folgen konnte.
Dabei erkannte ich, dass sich die Geschichte fast wortwörtlich wiederholt.

Wie damals führten Spaltungen, Zersplitterungen und innere Verrätereien dazu, dass die Muslime ihrer Verantwortung enthoben wurden, so ergeht es uns heute ebenso.
Das damalige Istanbul, das Osmanische Reich, seine Marine wurden als schwach betrachtet, heute wird das heutige Istanbul wegen fehlender Luftverteidigung kritisiert.
Die nordafrikanischen Länder damals waren nicht nur untereinander gespalten, sondern kooperierten auch mit dem Feind.
Die heutigen kleinen ölreichen Staaten stützen sich in ähnlicher Weise auf die Unterstützung der Unterdrücker.
Während das Massaker weitergeht, erschütterten uns Trumps Besuche, in denen er Tribut (Dschizya) einzutreiben versuchte.
Das damalige Safawiden-Iran stand im Konflikt mit dem Osmanischen Reich; das heutige Iran mischt sich leider in Irak, Syrien und Jemen mit sektiererischen Konflikten ein.
Der Vergleich zwischen dem damals nach Rom gefangenen Cem Sultan und heutigen Führungspersönlichkeiten, die ihren Sitzen ausgeliefert sind, zeigt erneut, wie gnadenlos sich Geschichte wiederholt.

Zweifellos ist ein intellektueller Aufbruch immer von großer Bedeutung.
Doch Gaza hat uns gezeigt, dass wir heute vor allem einen menschlichen, moralischen und ethischen Erwachensprozess brauchen, der echte Freiheit und Unabhängigkeit im Denken und Handeln ermöglicht.

Frage 11:
Die syrische Revolution und der Widerstand in Gaza zeigen, dass der Islam weiterhin eine lebendige und widerstandsfähige Kraft gegen tyrannische Regime ist.
Insbesondere im Westen protestieren seit Jahren Millionen Menschen unterschiedlichster Religionen und Ansichten für Gaza und widersetzen sich ihren Regierungen.
Kann dieses universelle Gewissen über institutionalisierte Religionen hinaus zu einer globalen Front für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit werden?
Kann angesichts der Kriegs- und Korruptionspolitik der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Mächte, die die ganze Welt und die Menschheit bedrohen, auf dieser Gewissensbasis eine neue universale Menschheitsfront ausgehend von einem ibrahimitisch-hanifischen Fundament organisiert werden?
Welche Rolle kann die islamische Welt und muslimische Bewegungen in diesem Kontext übernehmen?

Antwort:
Die Menschheit hat in diesem Prozess vieles verloren, aber auch bedeutende Gewinne erzielt.
Denn der Terror, die Brutalität und die Morde dieser Staaten oder Staatengruppen fanden nicht nur in Gaza oder Beirut statt, sondern wirkten sich auf die Gedanken, Herzen und Seelen der gesamten Menschheit aus.
Diesmal verbrannte das Feuer nicht nur die betroffenen Orte, sondern auch alle Zeug*innen, alle Gedanken und Herzen.
Die gesamte Menschheit wurde Zeuge der Brutalität.
Die Klagen der Mütter und Frauen in Gaza erreichten alle Mütter und Frauen weltweit.
Die Leichname von Kindern, die an Schulen, Krankenhäusern, Waisenhäusern und Flüchtlingslagern in Gaza gesammelt wurden, sahen die Kinder der ganzen Welt.

Aus diesem Grund hat Gaza uns gezeigt, wie Menschen mit Gewissen unabhängig von Sprache und Religion sich über Werte einigen können, die den Menschen zum Menschen machen.
Wir sahen, wie manche Stimmen aus Europa, Nord- und Lateinamerika oder anderen Teilen der Welt genau dieselben Wahrnehmungen und Gefühle äußerten wie wir.
Diese Menschen sind keine Muslime, sie betrachten die Sache nicht aus unserer Perspektive, sehen aber dieselbe Brutalität, dieselbe Ungerechtigkeit und dieselbe Täuschung.
Zum Beispiel einige Politiker aus Irland und Spanien, rumänische Content Creator, französische Juristen, die Israel verklagen, spanische und irische Katholiken, die sich als Opfer des Weltsystems sehen, und viele junge Menschen aus den USA haben diesen Unrechtsschrei in die Welt getragen.

Dieser Prozess führte auch an Universitäten und auf Campus zu Protesten junger Menschen mit fittrem Gewissen gegen Ungerechtigkeit.
Ein amerikanischer Student rief bei einer friedlichen Demonstration: „Wir wissen, dass unsere Führer nichts gegen Israel tun werden. Deshalb müssen wir es tun.“
Eine 26-jährige Studentin aus der Türkei, Ayşenur Ezgi Eygi, wurde im Westjordanland heimtückisch ermordet, nachdem sie ihrer Gewissensstimme gefolgt war.
Vor allem im Westen haben Menschen, die zwar noch nicht mit dem Islam verbunden sind, aber ein lebendiges Gewissen besitzen, sich engagiert.
Menschen, die bereit waren, sich vor dem Senat anzuzünden, weil sie Netanjahu bejubelten, zeigten ein starkes Gewissen.
Ein bekannter kanadischer Wissenschaftler sagte: „Sie werden uns mit Scham umbringen. Sie bringen uns dazu, uns selbst zu zerstören.“ Viele Menschen traten auf die Seite der Wahrheit.

Ein besonders eindrucksvolles historisches Ereignis war die mutige und selbstbewusste Klage der südafrikanischen Regierung (bestehend aus Opfern der Apartheid, Christen, Muslimen und Schwarzen) wegen Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH).
Dies ist ein großes Lehrstück für die gesamte Menschheit und ein Signal für eine neue Stufe postkolonialen Denkens, in der ehemals kolonialisierte Völker ihre Rechte einfordern.
Zweifellos ist das für Israel und seine Unterstützer ein Verlust, aber für die Menschheit ein Gewinn.

Die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor (Muslimin, Frau, Kopftuchträgerin, Schwarze) berichtete, dass sie aufgrund ihrer Klage in Den Haag von den USA bedroht wurde.
Sie zitiert einige amerikanische Politiker, die sagten: „Wenn wir zulassen, dass dies Israel angetan wird, wird es auch uns treffen.“
Mit großem Selbstbewusstsein fasst sie zusammen, wie Gaza zu einem Wendepunkt wurde und eine neue Ära einläutete: „Ja, natürlich wird es auch euch treffen.“

Doch das Gewissen konnte das absolute Böse nicht aufhalten.
Dennoch wurde ein neues Hoffnungsfeuer für die Menschheit entfacht.
Dass die islamische Welt und muslimische Bewegungen in diesem Kontext nicht gemeinsam mit dem erwachenden menschlichen Gewissen handeln, sondern getrennt agieren, ist ein Punkt, der zur Selbstkritik einlädt.

In diesem Prozess haben sich die Muslime in drei Gruppen aufgeteilt:

  • Die, die sich auf die Seite des Bösen stellen,
  • Die, die schweigen und die Situation managen,
  • Die, die das Thema ansprechen, es auf der Tagesordnung halten und mit humanitärer Hilfe aktiv sind.

Zwischen den Völkern und Regierungen in der islamischen Welt hat sich in dieser Zeit eine Kluft vertieft.
Die muslimischen Gesellschaften warteten auf politische Lösungen, hofften auf die Regierungen.
Es entstanden Völker, die alles von den Regierenden erwarteten, Regierungen, die ihre Völker zum Schweigen brachten, und Staaten, die auf Eingriffe von Mächten warteten.
Doch ich möchte erneut betonen: Wir können nicht alle Schuld und Verantwortung nur den Regierungen zuschreiben.
Wir dürfen unsere Zeit nicht mit Klagen über Verrat und Fluchen über Verräter verbringen.

Jeder Gläubige ist verpflichtet, sich seiner Verantwortung gegenüber Allah bewusst zu sein und diese wahrzunehmen.
Am Tag des Jüngsten Gerichts werden reale politische Ausreden keinen Politiker retten.

Frage 12:
Wie bewerten Sie die Rolle des interreligiösen Dialogs im Kampf gegen den Anstieg der Islamophobie und zur Stärkung des gegenseitigen Verständnisses in westlichen Gesellschaften?
Sie haben erwähnt, dass der Islam durch Gruppen wie den IS falsch dargestellt wird.
Wie können authentische islamische Narrative die globale Erzählung über den Islam zurückgewinnen?

Antwort:
Zwischen dem 28. und 30. November 2014, während meiner Tätigkeit bei der Religionsbehörde, besuchte mich Papst Franziskus. Ich stellte ihm folgende Frage:
„Sie sind der erste Papst, der aus Lateinamerika gewählt wurde. In der gesamten westlichen Welt verbreitet sich Islamophobie, ja sogar Hass und Feindschaft gegenüber dem Islam. Haben Sie einen Plan oder ein Projekt, um dem entgegenzuwirken?“
Er antwortete mir: „Natürlich, wir haben ein Projekt für den interreligiösen Dialog.“

Ich erwiderte: „Das ist ein Projekt, das die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, um ihre eigene Doktrin zu erklären. Außerdem richtet sich dieses Projekt darauf, Konflikte innerhalb des Christentums zu lösen. Seine Anwendung auf den Islam und die Muslime ist inakzeptabel. Die interreligiösen Dialoge seit den 1990er Jahren haben keinen Nutzen gebracht, sondern eher eine negative Sicht in der islamischen Welt hervorgerufen. Der Begriff „Dialog“ ist in unserer Welt zu einem Begriff geworden, der viele Missverständnisse birgt.“

Er fragte: „Haben Sie einen Vorschlag?“
Ich antwortete: „Wir brauchen eine neue Sichtweise und ein neues Verständnis im Licht universeller Prinzipien. Die Menschheit braucht heute einen neuen Bund der Barmherzigkeit. Dieser Bund sollte in Jerusalem unterzeichnet werden. Ausgehend von islamischen Referenzen haben wir daher ein Dokument mit dem Titel „Universelle Jerusalem-Kriterien“ erarbeitet, das auf Respekt vor Mensch, Glaube, Heiligkeit, Gedanken, Kultur und Zivilisation basiert und die Ethik des Zusammenlebens darlegt, unter Berücksichtigung der Geschichte der drei abrahamitischen Religionen.
Auf dieser Grundlage können wir neue Kooperationen entwickeln.
Lassen Sie uns eine gemeinsame Kommission bilden, die eine neue Form der Beziehung nach diesen Kriterien regelt. Ohne theologische Vergleiche oder falsche Vorstellungen vom „Dialog“, sondern indem wir wir selbst bleiben und gemeinsam Lösungen für die grundlegenden Probleme der Menschheit suchen: Hunger, Elend, Unwissenheit. Lassen Sie uns gemeinsam gegen Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen auftreten.“

Das Dokument „Universelle Jerusalem-Kriterien“ umfasst 25 Artikel, die von der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bis zum Schutz der Privatsphäre, von Gerechtigkeit, Gleichheit und Chancengleichheit bis hin zu Moral, Mitgefühl und einer Kultur des Zusammenlebens reichen. Es behandelt auch zivilisatorische Prinzipien der Gestaltung der Erde, Respekt für unterschiedliche Identitäten, das Bewusstsein für Rechte in gemeinsamen Lebensräumen, Kultur der gegenseitigen Hilfe, Unschuld der Kinder, Frauenrechte und weitere universelle Prinzipien.
Außerdem weist das Dokument auf Gefahren hin, die die Kultur des Zusammenlebens zerstören und das menschliche Dasein bedrohen, darunter Gewalt gegen Frauen, alle Formen von Gewalt, sektiererischen Fanatismus und den Missbrauch der Religion.

Frage 13:
Mit Blick auf die Zukunft – wie sehen Sie die Vision des Islamischen Denkensinstituts für eine globale Renaissance des islamischen Intellektualismus und seine Beiträge für die Menschheit?

Antwort:
Zweifellos sind unsere Hoffnungen groß; jedoch wäre es nicht korrekt, eine so anspruchsvolle Vision auf die Grenzen eines Instituts zu beschränken. Dennoch kann ich sagen, dass wir mit einem Bewusstsein für die bedeutenden Krisenfelder unserer Zivilisation, insbesondere in den Bereichen Denken und Ethik, sowie für die globalen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, begonnen haben. Unsere sechsjährige wissenschaftliche und intellektuelle Reise hat gezeigt, dass mit einer kleinen Institution viel bewirkt werden kann.

Unser Motto lautet: „Den Fluss wieder fließen lassen.“ Es geht darum, den Fluss der islamischen Zivilisation, der im Licht der göttlichen Offenbarung in Hira entsprungen ist und die ganze Menschheit schnell erfasst hat, wieder zum Fließen zu bringen. Ohne ihn in enge Bahnen der Einseitigkeit, Rationalität oder Bedeutungsreduzierung zu zwängen, ohne ihn „reinigen“ zu wollen und dabei von seinem Wesen zu entfremden oder ihn einzufrieren, wollen wir ihn in seinem natürlichen Lauf reinigen und klären.

In diesem Rahmen beschränken wir uns in unseren akademischen Aktivitäten und Forschungen auf fünf Bereiche: Methodologie im islamischen Denken, Methodologie in den islamischen Wissenschaften, die Einheit der Wissenschaften im islamischen Denken, Maqasid als eigenständige Methodologie und Wissenschaft sowie Ethik und Ästhetik.

Fünf weitere Leitsätze begleiten uns: Erneuerung im Denken, Wiederbelebung in der Wissenschaft, Einheit in der Wissenschaft, Reform in der Methodologie und Neubau in der Ethik.

Mit Erneuerung im Denken meinen wir, Denkstrukturen nicht einfach fortzuführen oder ästhetisch aufzubereiten, sondern die Tradition der kreativen und konstruktiven Arbeit unserer Vorfahren wiederzubeleben und lebendig zu machen. Es geht nicht darum, die Religion zu erneuern, sondern das Denken. Wir möchten die Beziehung zwischen Erneuerung und unabhängiger Rechtsprechung (Ijtihad) neu etablieren.

Wiederbelebung in der Wissenschaft bedeutet, die islamischen Wissenschaften, die auf der Offenbarung basieren, neu zu beleben. Jede Wissenschaft soll dem Menschen von heute gerecht werden und der islamischen Zivilisation Kontinuität verleihen. Es geht darum, die heutige Fiqh und Kalam neu zu gestalten und deren Tradition zu bewahren.

Mit Einheit in der Wissenschaft meinen wir, die Beziehung zwischen islamischen Wissenschaften, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften neu zu ordnen. Wir vermeiden die Kategorisierung in religiöse und nicht-religiöse Wissenschaften und betrachten die Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Einheit (Tawhid).

Reform in der Methodologie bedeutet eine ganzheitliche neue Methodologie, die Schöpfung und Offenbarung, Vernunft und Überlieferung, das Universelle und das Lokale, das Alte und das Neue vereint und auf dieser Grundlage Wissen und Denken produziert.

Mit Neubau in der Ethik meinen wir, Ethik ins Zentrum aller Wissenschaften zu stellen und sie nicht nur als Verhaltenslehre, sondern als existentielle Frage der Beständigkeit zu betrachten. Wir möchten nicht nur juristische Urteile ableiten, sondern Werte herleiten, dabei Zweck- und Mittelwerte unterscheiden und eine neue Werteshierarchie aufbauen, die Ethik als Zweck religiöser Urteile und Glaubensinhalte betrachtet.

Unser Institut freut sich besonders über die Beziehungen zu ähnlichen wissenschaftlichen Institutionen in unserer Herzensregion (Gönül Coğrafyası). Auch die Zusammenarbeit mit jungen Menschen, die in unserem Land postgraduale Studien absolvieren, gibt uns Hoffnung für die Zukunft.

Frage 14:
Herr Professor, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, um unsere Fragen, die jede für sich viele Unterfragen enthalten, so offen zu beantworten.

Antwort:
Ich danke Ihnen ebenfalls. Ich hoffe, dass dieser Dialog in der Welt unserer Leser als hilfreich und bereichernd wahrgenommen wird.

[1] İbn Hanbel, V, 411

*Mehmet Görmez wurde 1959 im Landkreis Nizip der Provinz Gaziantep geboren. Seine Grundschule absolvierte er in Nizip, die weiterführende Schule besuchte er an der Imam-Hatip-Schule in Gaziantep. 1983 begann er sein Studium an der Fakultät für Theologie der Universität Ankara und schloss dieses 1987 ab. Im selben Jahr begann er seinen Master im Fachbereich Grundlagen der Islamwissenschaften, Abteilung Hadithwissenschaft. 1988 erhielt er ein Stipendium des türkischen Ministeriums für Nationale Bildung und verbrachte ein Jahr mit Studien und Forschungen an der Universität Kairo.

1990 begann er seine Promotion, die er 1995 mit einer Arbeit zum Thema „Methodenproblematik beim Verständnis und der Interpretation der Sunna und des Hadith“ abschloss. Zwischen 1995 und 1997 war er an der theologischen Fakultät der Ahmet Yesevi Universität in Kasachstan tätig. 1998 wurde er zum Assistenzprofessor und 1999 zum außerordentlichen Professor ernannt. Von 2001 bis 2003 unterrichtete er an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Hacettepe. Während seiner Tätigkeit als Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara wurde er am 13. August 2003 zum stellvertretenden Präsidenten der Religionsbehörde Diyanet ernannt.

Im Jahr 2006 erhielt Mehmet Görmez den Professorentitel. Nach dem freiwilligen Rücktritt von Ali Bardakoğlu wurde er am 11. November 2010 zum Präsidenten der Diyanet ernannt. Am 31. Juli 2017 trat er in den Ruhestand.

Nach seinem Ruhestand ist Görmez Gründer und Vorsitzender des Instituts für Islamisches Denken sowie des Internationalen Stiftungswerks für Islamisches Denken.

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