Ist das Ende des politischen Massenaktivismus im Nahen Osten?

In den Gesellschaften des Nahen Ostens weichen politisches Bewusstsein, kollektives Bewusstsein und Proteste auf der Straße zunehmend individuellen Überlebensstrategien, stillschweigender Akzeptanz und administrativen Blockaden. Diese Entwicklung wird nicht nur zur weiteren Vertiefung der bestehenden politischen Krisen führen, sondern auch entscheidend die zukünftigen politischen Ausrichtungen der Menschen in der Region mitbestimmen. Der Rückgang des politischen Massenaktivismus im Nahen Osten könnte zum Bruch zwischen dem sozialen Gefüge und dem politischen System führen. Die Leere, die durch diesen Bruch entsteht, wird entweder den Boden für die Institutionalisierung autoritärer Regierungsformen bereiten oder neue Generationen und alternative Formen von Aktivismus hervorbringen.
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Die wohl überraschendste Folge, mit der wir nach dem 7. Oktober konfrontiert wurden, war die deutliche Schwächung des politischen Massenaktivismus.
Die jüngsten Entwicklungen legen eine tiefgreifende Erosion des politischen Bewusstseins der Bevölkerung in der Region offen. Dabei hatte es Zeiten gegeben, in denen Massen unter dem Einfluss des sozialistischen arabischen Nationalismus in den 1960er-Jahren mit Begeisterung auf die Straßen strömten oder sich nach der Islamischen Revolution im Iran 1979 durch revolutionär-islamistische Rhetorik mobilisieren ließen. Noch in den 2010er-Jahren, während des Arabischen Frühlings, füllten die Gesellschaften des Nahen Ostens – vielleicht zum letzten Mal – unabhängig von ideologischen Strömungen mit Euphorie die öffentlichen Plätze.

Trotz der Tatsache, dass Israel – beginnend mit Gaza – in der gesamten palästinensischen Geografie Kriegsverbrechen begeht, die sich in Richtung eines Genozids entwickeln, und obwohl es intensive Angriffe auf den Libanon, Syrien, Jemen, Irak und Iran gegeben hat, beschränkten sich die Gesellschaften des Nahen Ostens darauf, das Geschehen in tiefer Stille zu verfolgen. In einer Zeit, in der selbst in westlichen Ländern lautstarke Proteste auf den Straßen stattfanden, ist das nahezu vollständige Ausbleiben gesellschaftlicher Reaktionen im Nahen Osten ein äußerst bemerkenswertes Phänomen. Diese Entwicklung verweist auf eine grundlegende Transformation des kollektiven Bewusstseins in der Region, die Fragmentierung ideologischer Orientierungen und die zunehmende Schwächung der politischen Funktion des öffentlichen Raums.

Gesellschaftliche Wellen im Nahen Osten: Die Rolle des Massenaktivismus auf der Bühne

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Nahe Osten durch Mandatsregime neu strukturiert und verwandelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Region, in der eine Vielzahl neuer Staaten weitgehend ihre Unabhängigkeit erlangte. In dieser Phase herrschten in den meisten Ländern monarchische Systeme. Doch in den 1950er- und 60er-Jahren führte eine politisch aufgeladene Welle, inspiriert vom arabischen Sozialismus, unter der Führung junger Offiziere zu Militärputschen und zur Gründung republikanischer Regime in Ländern wie Ägypten, Irak, Jemen, Libyen, Sudan und Syrien. Auch wenn diese Regimewechsel maßgeblich durch militärische Eliten vollzogen wurden, war der Massenaktivismus eine der zentralen Triebfedern dieser Transformationen.

Besonders unter der charismatischen Führung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser kam es in dieser Zeit zu groß angelegten Volksbewegungen in der Region. Die mit sozialistischem Gedankengut sympathisierenden Massen organisierten umfassende Demonstrationen gegen den Westen, Israel – das als dessen regionaler Arm betrachtet wurde – sowie gegen mit dem Westen verbündete Monarchien. Sowohl in republikanischen als auch in monarchischen Systemen trat der Massenaktivismus als wirksames politisches Instrument auf den Plan. Neue Technologien wie das Transistorradio und später das Fernsehen wurden effektiv eingesetzt, um die Bevölkerung im Sinne bestimmter Ideologien zu mobilisieren.

Gesellschaftliche Gruppen, die vom politischen System ausgeschlossen, wirtschaftlicher Ungleichheit ausgesetzt oder marginalisiert waren, betrachteten den Sozialismus als eine Befreiungsideologie. Die Menschen folgten den Aufrufen charismatischer Figuren dieser Strömung und wurden zu den wichtigsten Trägern politischen Wandels. Doch ab den 1970er-Jahren begann der politische Einfluss des arabischen Sozialismus zu schwinden. Die wichtigsten Ursachen hierfür waren die aufeinanderfolgenden militärischen Niederlagen arabischer Führer gegenüber Israel, das Scheitern ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsversprechen sowie das Verfehlen des Ziels, eine politische Einheit in der arabischen Welt zu schaffen.

In dem ideologischen Vakuum, das sich in dieser Phase herausbildete, löste die Islamische Revolution im Iran im Jahr 1979 eine neue Welle aus.
Das von Ayatollah Khomeini als Alternative zum säkularen arabischen Nationalismus propagierte Konzept einer islamischen Ordnung vereinte sich mit einer ausgeprägten Antiwestlichkeit und mobilisierte erneut die Massen in der Region. Die gesellschaftliche Bewegung, die mit dem revolutionären Aufruf Khomeinis in Iran erfolgreich war, fand auch in Ländern mit stark schiitischer Bevölkerungsmehrheit wie Irak, Bahrain und Saudi-Arabien sowie in konfessionell vielfältigen Regionen wie dem Libanon großen Widerhall. Ab den 1980er-Jahren übernahmen daher revolutionär-islamistische Führer die Vorreiterrolle im politischen Massenaktivismus. Figuren wie Ali Shariati und Ayatollah Khomeini traten in dieser Zeit als führende Persönlichkeiten auf, die den politischen Wandel anführten.

Der revolutionäre Islamismus fand nicht nur in schiitischen Kreisen Anklang, sondern auch bei der breiteren Bevölkerung des Nahen Ostens. Die Gegnerschaft gegenüber Israel und den USA, wirtschaftliche Ungleichheiten, Rechtswidrigkeiten in den Herrschaftssystemen und der Druck auf den islamischen Lebensstil führten dazu, dass unzufriedene Massen ihren Protest zunehmend durch islamisch-revolutionäre Reflexe artikulierten.

Rund dreißig Jahre nach der Islamischen Revolution kehrten die Massen im Zuge des Arabischen Frühlings erneut auf die Straßen zurück.
Diesmal jedoch fehlte der Bewegung ein ideologischer Rahmen. Die in den frühen 2010er-Jahren in Tunesien beginnenden und rasch auf Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien übergreifenden Volksaufstände waren Ausdruck des Widerstands gegen wirtschaftliche, politische und rechtliche Ungerechtigkeiten. Während des Arabischen Frühlings zeigten die Massen eine starke Mobilisierung mit dem Ziel eines Regimewechsels. In dieser Phase wurden autoritäre Führer in Tunesien, Ägypten und Libyen gestürzt, während in Ländern wie Syrien und Jemen langwierige Bürgerkriege ihren Anfang nahmen.

Doch ab Mitte der 2010er-Jahre begann diese Welle des Massenaktivismus allmählich abzuflauen. Maßgeblich für diesen Rückgang waren die sich verschärfenden wirtschaftlichen Probleme, die harte Repression durch status quo-orientierte Akteure, die Ausbreitung sicherheitsorientierter Politiken und – nicht zuletzt – die Tatsache, dass westliche Länder die Volksbewegungen zunehmend als Bedrohung für ihre regionalen Interessen betrachteten. So war zu Beginn der 2020er-Jahre zu beobachten, dass der Massenaktivismus im Nahen Osten ein gewisses Sättigungsniveau erreicht hatte und eine Phase der Stagnation einsetzte. An die Stelle gesellschaftlicher Mobilisierung traten Stille, Enttäuschung und individuelle Rückzugsstrategien.

Das Schweigen der Straßen: Ursachen für den Rückgang politischer Mobilisierung im Nahen Osten

Über viele Jahre hinweg spielte politischer Massenaktivismus eine prägende Rolle in den politischen Prozessen des Nahen Ostens. Doch seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Region in bemerkenswerter Weise in eine Phase gesellschaftlicher Gleichgültigkeit verwandelt. Die von Israel zunächst in Gaza begonnenen und schnell auf das gesamte palästinensische Gebiet ausgeweiteten Angriffe, die den Charakter eines Völkermords annahmen, sowie die darauffolgenden militärischen Operationen gegen Länder wie Libanon, Syrien, Jemen, Irak und Iran, wurden von den Bevölkerungen des Nahen Ostens weitgehend schweigend hingenommen.

Während in westlichen Ländern Hunderttausende auf die Straßen gingen und massenhafte, leidenschaftliche Proteste organisierten, stellt die auffällige Stille im Nahen Osten ein Phänomen dar, das ernsthaft reflektiert werden muss.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Gleichgültigkeit zeigte sich während der israelischen Angriffe auf den Iran. Vor allem angesichts der zurückhaltenden Reaktionen schiitischer Bevölkerungsgruppen kann festgestellt werden, dass das politische Bewusstsein in der Region einen erheblichen Erosionsprozess durchläuft. Noch im Jahr 2006, während des 34-tägigen Krieges zwischen Israel und der Hisbollah, hatte es insbesondere in schiitisch geprägten Gesellschaften breite öffentliche Unterstützung für die Hisbollah und groß angelegte Demonstrationen gegeben. Heute hingegen, obwohl Israel den Süden des Libanon massiv zerstört, führende Kader der Hisbollah ins Visier genommen und sogar hochrangige Militärs sowie Wissenschaftler im Iran getötet hat, blieb eine nennenswerte gesellschaftliche Reaktion aus.

Meiner Einschätzung nach lassen sich drei zentrale Dynamiken als Hauptgründe für den Rückgang des politischen Massenaktivismus im Nahen Osten benennen:

Erstens: Die Massenmedien – eines der wichtigsten Instrumente der Mobilisierung – befinden sich heute weitgehend unter der Kontrolle westlicher Mächte. Durch gesteuerte Informationsflüsse und gezieltes Wahrnehmungsmanagement wird die Bevölkerung entweder nicht ausreichend informiert oder emotionale und politische Reaktionen werden im Keim erstickt. Die Überwachung und Regulierung des digitalen Raums behindert in erheblichem Maße die Organisation gesellschaftlicher Empörung und deren Umwandlung in kollektives Handeln.

Zweitens: Die traumatischen Erfahrungen während und nach dem Arabischen Frühling haben zu einer kollektiven Erschöpfung geführt. In Ländern wie Syrien, Libyen, Jemen und Ägypten führten langwierige Konflikte, staatliche Repression, wirtschaftlicher Niedergang und der Zusammenbruch der Infrastruktur dazu, dass sich die Menschen von der Straße und von kollektiven Forderungen zurückzogen. In einer Zeit, in der Einkommensungleichheiten weiter zunahmen und der Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen erschwert wurde, trat für viele Menschen das tägliche Überleben in den Vordergrund – noch vor dem Wunsch nach politischem Wandel. Die wirtschaftliche Notlage schwächte die Risikobereitschaft der Bevölkerung und untergrub die politische Motivation.

Drittens: Es fehlt an charismatischer Führung, die den Massenaktivismus anleiten und die Gesellschaft hinter sich vereinen könnte. In der Phase zwischen 1950 und 1970 war dies Gamal Abdel Nasser, nach 1979 Ayatollah Khomeini und im Verlauf des Arabischen Frühlings – zumindest in Teilen – Recep Tayyip Erdoğan. Diese Persönlichkeiten konnten durch ihre charismatische Wirkung gesellschaftliche Mobilisierungen entfachen. Nach dem 7. Oktober jedoch gelang es Erdoğan trotz seiner entschlossenen Rhetorik zur Unterstützung der palästinensischen Sache nicht, eine breite gesellschaftliche Mobilisierung auszulösen. Die technokratisch-sicherheitsorientierte Regierungsführung, die heute an die Stelle charismatischer Führung getreten ist, hat die emotionale und ideologische Verbindung zwischen Volk und Führung weiter geschwächt.

Schlussfolgerung: Die derzeitige Stille im Nahen Osten ist nicht bloß ein Mangel an Reaktion – sie ist Ausdruck eines tiefergehenden gesellschaftlichen Wandels, in dem ideologische, wirtschaftliche und führungspolitische Krisen ineinander greifen. Der Rückgang des politischen Massenaktivismus wirft grundlegende Fragen über die politische Zukunft der Region auf.

Der Nahe Osten war seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Region, in der sich Massen um Ideologien mobilisierten und mit großer Kraft auf der Bühne der Geschichte auftraten. Die sozialistische Welle, der revolutionäre Islamismus und schließlich der Arabische Frühling schufen in unterschiedlichen Epochen den Boden für machtvolle Volksbewegungen, die bestehende politische Ordnungen herausforderten. Die Entwicklungen nach dem 7. Oktober 2023 jedoch zeigen, dass diese historische Kontinuität durchbrochen wurde – der Massenaktivismus hat seine prägende Rolle innerhalb der politischen Dynamiken der Region weitgehend eingebüßt.

Die Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber den Angriffen Israels auf Palästina und andere Länder der Region ist nicht nur ein taktischer Rückzug – sie sollte vielmehr als Ausdruck eines tiefgreifenden strukturellen Wandels gelesen werden. Dieser Wandel lässt sich auf drei zentrale Dynamiken zurückführen: die monopolartige Kontrolle des Medienraums, die kollektive Enttäuschung und Erschöpfung infolge des Arabischen Frühlings sowie das Fehlen charismatischer Führungsfiguren.

In den Gesellschaften des Nahen Ostens weichen politisches Bewusstsein, kollektives Handeln und spontane Straßenproteste zunehmend individuellen Überlebensstrategien, stillem Rückzug und administrativen Blockaden. Diese Entwicklung wird nicht nur zur Vertiefung bestehender politischer Krisen beitragen, sondern auch die zukünftigen politischen Ausrichtungen der Bevölkerungen maßgeblich beeinflussen.

Der Rückgang des politischen Massenaktivismus könnte dazu führen, dass das gesellschaftliche Gefüge seine Bindung an das politische System verliert. Die daraus entstehende Leerstelle könnte entweder die Institutionalisierung autoritärer Regierungsformen begünstigen oder aber den Weg für neue, generationenspezifische und alternative Formen von Aktivismus ebnen.

Die nach dem 7. Oktober eingetretene Stille sollte daher nicht als vorübergehende Phase der Lethargie interpretiert werden, sondern als struktureller Bruch, der aus der Perspektive der politischen Soziologie einer sorgfältigen Analyse bedarf.