Benjamin Balthaser über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jüdischer Identität

Shane Burley sprach mit Balthaser darüber, wie Juden sowohl in der Alten als auch in der Neuen Linken ihre jüdische Identität konstruierten, wie sie auf das Aufkommen des Zionismus reagierten, der begann, das amerikanische jüdische Leben zu dominieren, und wie dieses Modell des Judentums innerhalb der radikalen jüdischen Aktivismusbewegung weiterlebt, die versucht, den Genozid in Gaza zu stoppen.
Juni 13, 2025
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Die von Gruppen wie Jewish Voice for Peace organisierte palästinensische Solidaritätsbewegung unter jüdischer Führung ist Teil einer langen Geschichte jüdischer Identität, die eng mit linker Politik verflochten ist.

Als jüdische Protestierende begannen, die kuppelförmigen Säle der Kapitolsgebäude zu füllen, Straßen in Städten landesweit zu blockieren und eine beispiellose Demonstration in der Grand Central Station in New York zu veranstalten, versuchten Journalist*innen, dieses „neue“ Phänomen zu verstehen. Einige Mitglieder etablierter jüdischer Institutionen bezeichneten diese oppositionellen Juden als Marionetten des Terrorismus, als Verräter an ihrer Gemeinschaft oder als gar keine echten Juden. Andere hingegen sahen darin eine völlige Wiederaneignung jüdischer Identität, eine Abkehr vom Mainstream-Konsens und den Aufbau einer originellen, neuen Form jüdischen Seins. Obwohl diese Wiederbelebung alternativer jüdischer Organisationen sowie religiösen und kulturellen Lebens, die sich vom überwältigenden Zionismus der führenden amerikanisch-jüdischen Institutionen distanziert, neu erscheinen mag, ist diese Bewegung in Wirklichkeit alles andere als neu.

Wie der Akademiker Benjamin Balthaser in seinem neuen Buch Citizens of the Whole World: Anti-Zionism and the Cultures of the American Jewish Left darlegt, ist die Vision jüdischer Identität, wie sie in den von Jewish Voice for Peace, IfNotNow und Jewish Anti-Zionism Network organisierten palästinensischen Solidaritätsdemonstrationen unter jüdischer Leitung gezeigt wird, die jüngste Phase eines langen historischen Prozesses, der jüdische Identität als verbunden mit allen unterdrückten Gemeinschaften sieht und auf einem diasporischen Internationalismusmodell basiert.

Shane Burley sprach mit Balthaser darüber, wie Juden sowohl in der Alten als auch in der Neuen Linken ihre jüdische Identität konstruierten, wie sie auf das Aufkommen des Zionismus reagierten, der begann, das amerikanische jüdische Leben zu dominieren, und wie dieses Modell des Judentums innerhalb der radikalen jüdischen Aktivismusbewegung, die versucht, den Genozid in Gaza zu stoppen, weiterlebt.

Shane Burley:

Wie haben Juden, die die amerikanische jüdische Linke bilden, ihre jüdische Identität unabhängig vom Judentum wahrgenommen? Besonders wenn man bedenkt, dass sie meistens als nicht religiös gelten.

Benjamin Balthaser:

Das Buch beginnt in den 1930er Jahren, der Blütezeit der amerikanischen jüdischen Linken. In dieser Zeit gab es eine große jüdische Arbeiterbewegung mit Hunderttausenden von Mitgliedern, die in der Kommunistischen Partei, der Socialist Workers Party (SWP) und besonders der Internationalen Frauenkleidungsarbeitergewerkschaft (ILGWU) in New York aktiv waren.

Tatsächlich entstand die jüdische Linke aber schon viel früher. Der Historiker Tony Michels weist darauf hin, dass die jüdische Linke wirklich Ende des 19. Jahrhunderts begann und sich vor der europäischen jüdischen Linken formierte.

Obwohl der Jewish Labour Bund in den USA nie stark war, zeigte der jüdische Flügel der Kommunistischen Partei eine bundistische Art, jüdische Identität zu feiern. Die amerikanische jüdische Linke hatte eine Art „Bundishkeit“ — sie übernahm zwar nicht den Autonomieanspruch des Bund, aber viele kulturelle Elemente wie Diasporismus, kulturellen Stolz, Internationalismus und Yiddishkeit (die jiddische Sprache und Lebensweise). Diese Tendenz spiegelt sich in der Jewish Peoples Fraternity Organization (JPFO), den Zeitschriften Jewish Life und Morgen Freiheit sowie in Künstlerinnen wie Ben Shahn, Victor Arnautoff, Hugo Gellert und Autorinnen wie Mike Gold und Muriel Rukeyser wider.

Wie sah die jüdische Kultur in den 1930er und 1940er Jahren aus? Sie unterstützte meist die jiddische Sprache und beruhte auf dem, was man „jüdische progressive Werte“ nannte.

Shane Burley:

Wie verstand dieser Teil der jüdischen Linken den Zionismus?

Benjamin Balthaser:

Die jüdische Linke der 1930er Jahre war Zionismus gegenüber ablehnender als heute. Sie standen dem Gedanken eines jüdischen Staates in vielerlei Hinsicht kritischer gegenüber. Ihre Anti-Zionismus war jedoch organisch aus ihrem diasporischen, jüdischen, jiddisch-basierten, säkularen Humanismus entstanden. Sie waren nicht erst Anti-Zionisten und dann Linke, sondern sie waren schon immer linke Humanistinnen und Internationalistinnen. Als die zionistische Bewegung in den 1940ern an Fahrt gewann, sahen sie sie als das genaue Gegenteil von dem, was die progressive jüdische Kultur ausmachte.

In ihrer Analyse war Zionismus eine Art Faschismus und Teil desselben imperialistischen Lagers, gegen das sie kämpften. Zahlreiche Artikel aus den 1930ern unterstützten diese Sichtweise. Der bekannte sozialistische jüdische Journalist William Zukerman gründete später in den 1950ern einen Newsletter und bezeichnete den Zionismus spöttisch als „Maschinengewehr-Judentum“ (machine-gun Judaism). Zukerman nannte die Zionisten offen „faschistisch“. Robert Gessner bezeichnete [Ze’ev] Jabotinskys revisionistischen Zionismus als „kleinen Führer am Roten Meer“. Mike Gold, wahrscheinlich der prominenteste jüdische Kommunist der 1930er und 1940er, stellte in seinem Roman die zionistische Schurkenfigur Baruch Goldfarb als unmoralischen rechten New Yorker Politiker, Spitzel und Streikbrecher dar.

Für sie war klar: Die Zionisten waren die Roy Cohns der Welt.

Shane Burley:

Was sind die Ursprünge dieses Verständnisses von Judentum? Woher kommen seine potenziellen Auswirkungen?

Benjamin Balthaser:

Eine wichtige Erkenntnis, die man verstehen muss, ist folgende: Die amerikanische jüdische Linke ist gewissermaßen eine autochthone Entwicklung; sie ist kein importiertes Konstrukt aus anderen Ländern. Man könnte die Frage auch umdrehen und fragen: Warum entstand in den Vereinigten Staaten überhaupt eine jüdische Linke? Vor dem Hintergrund, dass die USA nicht unbedingt als progressives Land gelten, erscheint das nicht auf den ersten Blick wahrscheinlich.

Man darf aber nicht vergessen, dass der 1. Mai (May Day) in den USA geboren wurde. Beispielsweise schrieb Karl Marx sehr bewegende Texte über die amerikanische Arbeiterbewegung; die 1870er und 1880er Jahre waren die Zeit der radikalsten Streiks und Organisierungen weltweit. Die Märtyrer von Haymarket und die Bewegung für den Achtstundentag hatten großen Einfluss auf die globale Linke.

Dies war gleichzeitig die Periode, in der viele osteuropäische Juden — größtenteils aus der Arbeiterklasse — aus der „Pale of Settlement“ flohen und in die USA einwanderten, wo sie sich mitten in einem Sturm gewerkschaftlicher Aktivität wiederfanden. Diese Juden verstanden die Verbindung zwischen jüdischer Emanzipation und den demokratischen Revolutionen in Europa – in den USA trafen sie auf deutsche, mexikanische und andere migrantische Arbeiteraktivisten. Diese jiddischsprachigen jüdischen Immigranten schlossen sich der proletarischen Bewegung an und lernten deutsche und andere sozialistische Immigranten kennen. Viele wurden nicht in Europa, sondern erst in den USA sozialistisch.

Die eigentliche Frage ist nicht „Warum traten Juden der Linken bei?“. In Europa hatten viele ethnische Gruppen zeitweise eine dominante Stellung in der Linken. Zum Beispiel bildeten Deutsche im 19. Jahrhundert und Finnen Anfang des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Teil der Kommunistischen Partei. Die eigentliche Frage ist, wie und warum sich die amerikanische jüdische Linke so entwickelte.

Juden ähnelten anderen ethnischen Gruppen, die mit Radikalismus kamen oder nach ihrem Eintritt in die US-Arbeiterbewegung radikalisiert wurden. Aber warum wurde dieser Radikalismus dauerhaft?

Für Finnen und Deutsche dauerte dieser Prozess ein oder zwei Generationen. Für Juden hingegen wurde es dauerhaft. Sogar bis in die 1950er Jahre wurden Juden, die sich der sozialistischen Bewegung anschlossen, umso radikaler, je länger sie in den USA blieben.

Viele jüdische Historiker erzählen die irreführende Legende, die Radikalen seien aus Europa gekommen und hätten sich, sobald sie assimilierten, zu normalen liberalen Demokraten gewandelt. Das war jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Millionen jüdischer Einwanderer wurden sofort sozialistisch. Je länger sie blieben, desto selbstbewusster wurden sie in der Artikulation radikaler politischer Positionen.

Mike Gold war ein Einwanderer der zweiten Generation. Wie der Historiker Michael Denning in The Cultural Front klar darlegt, bestand die große Mehrheit der Kommunistischen Partei aus ethnischen Amerikanern der zweiten und dritten Generation — und ein großer Teil davon waren Juden. Die jüdische Linke machte während der Volksfrontzeit einen Großteil der weißen ethnischen Gruppen aus.

Ein Grund dafür, dass Juden länger links blieben, ist, dass die amerikanische Linke – im Gegensatz zur europäischen – eine Sprache gegen Rassismus lernen musste. Amerika ist nicht nur eine multikulturelle Gesellschaft — es ist ein Land, das auf Sklaverei und Völkermord an den Ureinwohnern aufgebaut ist. Afroamerikaner bildeten besonders in den nördlichen Städten einen wichtigen Teil der Arbeiterbewegung. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten Arbeiterorganisatoren, wie Arbeitgeber Rassismus nutzten, um die Arbeiterbewegung zu spalten. Die fortschrittlicheren Teile der Arbeiterbewegung — die Wobblies (Industrial Workers of the World), Teile der Sozialistischen Partei und die Kommunistische Partei — erkannten, dass es nicht nur darum ging, gegen Rassismus zu sein, sondern auch die schwarze Arbeiterklasse aktiv einzubinden. Dies war der einzige sinnvolle Weg, eine linke Bewegung aufzubauen.

1952 waren zwei Drittel der vor dem House Un-American Activities Committee (HUAC) Befragten Juden — obwohl Juden weniger als 2 % der US-Bevölkerung ausmachten.

Für amerikanische Juden war dies die erste Phase, in der es als ethnische Minderheit innerhalb der Linken kein Widerspruch zum linken politischen Engagement gab. In Europa war es, wie Enzo Traverso in seinem Werk The Marxists and the Jewish Question (Die Marxisten und die jüdische Frage) beschreibt, stets ein Konfliktthema, wie die Linke mit autonomen jüdischen Bewegungen umgehen sollte. So kam es beispielsweise häufig zu Spannungen zwischen dem Bund und anderen linken Organisationen. In Amerika jedoch wurde die Linke zum ersten politischen Raum, in dem jüdische ethnische Politik nicht linksfeindlich war, sondern ein integraler Bestandteil der linken amerikanischen Kultur — es entstand eine wahrhaft multiethnische linke Bewegung. Wie Stuart Hall in seiner Beobachtung über eine andere Einwanderergesellschaft feststellte: „Rasse ist die Art und Weise, wie Klasse erlebt wird“ — und für die jüdischen Generationen, die sich noch an die Erfahrungen von Bürgern zweiter Klasse in Europa erinnerten, sprach dies ihre gesunde Vernunft an.

Ein weiterer wichtiger Faktor war, dass viele jüdische Linke sich in der Konfrontation mit ihrem eigenen Antisemitismus-Erleben mit Afroamerikanern identifizierten und sich mit ihnen solidarisierten. Die nach Amerika kommenden Juden — insbesondere jene aus Osteuropa, die sich sozialistischen oder kommunistischen Bewegungen anschlossen — konnten diese Verbindung sofort herstellen. Als jüdische Einwanderer in den USA sahen, wie Afroamerikaner gelyncht, lebendig verbrannt und jeglicher körperlichen Gewalt ausgesetzt wurden, erkannten sie das sofort wieder. Natürlich entfernten sich viele amerikanische Juden von interrasslicher Solidarität; doch jene, die sich den linken Bewegungen anschlossen, sahen interrassische Solidarität nicht nur als grundlegendes Prinzip des Sozialismus in den USA, sondern auch als Teil ihrer diasporischen jüdischen Identität.

Man kann diese Situation als eine Form linke Assimilation beschreiben. Juden versuchten, ihre jüdischen Erfahrungen in amerikanischen Begriffen auszudrücken. Und innerhalb der Arbeiterschaft bedeutete dieser amerikanische Begriff vor allem Antirassismus — ähnlich wie andere Juden, die in die amerikanische Mehrheitsgesellschaft assimilieren wollten, diesen Begriff oft als Rassismus interpretierten.

Ob gut oder schlecht, Juden haben schon lange die Erfahrung, sich als Gemeinschaft — als Diasporagemeinschaft — zu sehen, egal wohin sie gehen. Die Erwartung, dass Juden an jedem Ort zusammenkommen, sich organisieren und ihr soziales Leben gestalten, wurde zur gemeinsamen Tradition. Dieses kollektive Identitäts- und Gemeinschaftsgefühl verschwand auch in den USA nicht. Linke Juden taten dasselbe. Es gab Feiertage, Rituale, Gemeinschaftsveranstaltungen, und egal wohin man ging, gab es das Gefühl, sich als Juden zu versammeln. Das war nicht immer für andere weiße ethnische Diasporagruppen der Fall.

Shane Burley:

Es gibt eine weitverbreitete Erzählung, dass sich Juden im Anschluss an das Ende des Holocaust, die Gründung des Staates Israel und den Sechs-Tage-Krieg 1967 im Konsens zunehmend dem Zionismus annäherten und parallel dazu eine Rechtsverschiebung sowie Assimilation vollzogen. Sie jedoch verkomplizieren diese Analyse, indem Sie die äußerst einflussreiche Rolle der Roten Gefahr (Red Scare) mit einbeziehen. Wie beeinflussten die Rote Gefahr und der McCarthyismus in den 1950er Jahren die Selbstwahrnehmung und Politik amerikanischer Juden?

Benjamin Balthaser:

Die Rote Gefahr ist ein in der amerikanischen jüdischen Geschichte viel zu wenig gewürdigtes, aber äußerst bedeutendes Phänomen. Man kann den in dieser Zeit herrschenden Antisemitismus und den Zerfall der alten jüdischen Linken nicht unterschätzen.

1952 waren zwei Drittel der vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe (HUAC) vorgeladenen Personen Juden — obwohl Juden weniger als zwei Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten. Der Vorsitzende des HUAC im Senat, John E. Rankin, spielte ein Spiel, bei dem die jüdischen Namen der Befragten „enthüllt“ wurden, als ob dies ihre kommunistische Zugehörigkeit beweisen würde.

Die größte jüdische linke Organisation, die Jewish People’s Fraternal Organization (JPFO), wurde von der Regierung verboten. Ebenso wurde der Civil Rights Congress verboten, die größte Bürgerrechtsorganisation mit Kommunisten-Verbindung, deren Führungsetage zur Hälfte aus Schwarzen, zur Hälfte aus Juden bestand. Wenn wir also von der Assimilation der jüdischen Linken in den Liberalismus sprechen, müssen wir auch davon sprechen, dass die amerikanische jüdische Linke faktisch zerschlagen wurde. Die Kommunistische Partei hatte in ihrer stärksten Phase etwa 100.000 Mitglieder, davon rund die Hälfte jüdisch. Die Basis der fortschrittlichen Arbeiterbewegung und dutzender militanter Gewerkschaften, die dem CIO (Congress of Industrial Organizations) verbunden waren und kommunistisch orientiert waren, wurde vollständig ausgelöscht.

Die Hinwendung der Juden zum amerikanischen Liberalismus war also teilweise eine Folge der brutalen Niederschlagung der jüdischen Linken.

Die Neue Linke hat daraus gelernt. In meinem Buch erzähle ich eine Reihe von Geschichten über Aktivisten der Students for a Democratic Society (SDS). Diese Personen waren „Kinder der roten Wiege“ (sie wuchsen in kommunistischen Familien auf) und hatten von ihren Familien gelernt: Wenn es in Amerika eine ernsthafte linke Bewegung geben soll, muss diese anti-anti-kommunistisch sein. Meiner Meinung nach war das einer der originellsten Beiträge der SDS.

Shane Burley:

Sie sprechen von den sogenannten „Neo-Bundisten“. Einige davon sind heute immer noch führende Organisationen in der Bewegung, wie zum Beispiel Jews for Racial and Economic Justice (JFREJ). Andere haben den Boden bereitet für Gruppen wie Jewish Voice for Peace (JVP), die heute unsere radikale jüdische Vorstellung prägen. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass der Bund in den Vereinigten Staaten nie wirklich Fuß fassen konnte. Wie aber gelangten die Ideen des Bund, das revolutionäre jüdische Bewusstsein und der Partikularismus zur Neuen Linken und darüber hinaus?

Benjamin Balthaser:

Mein Eindruck ist, dass der Bund als Organisation in den USA nur eine sehr geringe Präsenz hatte. Es gab Bundisten, und es bestand eine Art Kreislauf, bei dem sie nach Amerika kamen und wieder nach Osteuropa zurückkehrten, um dort „die guten Nachrichten“ zu verbreiten. Tatsächlich eröffnete der Bund 1946 sogar ein Büro in New York. Es gab also eine Bund-Präsenz, aber sie wurde niemals zu einer Mainstream-Kraft.

Ein Grund, warum der Bund in der jüdischen Linken nicht vorherrschte, war, dass es in den USA bereits eine sozialistische Bewegung gab, der bald eine kommunistische Bewegung folgte, die bundistische Züge trug. Jüdischer kultureller Nationalismus kursierte in der Luft, nicht nur vom Bund, sondern auf vielen verschiedenen Wegen. In der antikolonialen Ära entstanden zahlreiche linke Konzepte nationaler Autonomie. Es gab antikoloniale Nationalismen wie den irischen, und in den 1920er Jahren prägte die Sowjetunion die Idee des „Mosaiks der Nationen“.

Laut offizieller sowjetischer Ideologie war das Volk nicht einfach ein homogener Proletarier- oder Bauernstand, sondern ein Mosaik verschiedener Nationalkulturen — was, wie der Wissenschaftler Steven S. Lee sagt, die „ethnische Avantgarde“ des sozialistischen Internationalismus vor dem Aufstieg Stalins war. Man konnte seine eigene jiddische Zeitung haben, eine eigene Sektion in der Kommunistischen Partei, und trotzdem an großen Versammlungen teilnehmen und Teil des multiethnischen, multikulturellen Gefüges der USA sein.

Kurz gesagt: amerikanischer Multikulturalismus. Wie der Historiker Paul Mishler einst argumentierte, entstand Multikulturalismus aus der multiethnischen Linken der 1920er und 1930er Jahre. Die Vorstellung, dass Amerika ein Mosaik vieler Nationen sei, war damals eine populäre linke Idee. Diese Idee war eine Antwort sowohl auf den „Schmelztiegel“-Mythos des amerikanischen Liberalismus als auch auf den Klassenessentialismus der Sozialistischen Partei.

Daher hat der amerikanische jüdische Bundismus starke Wurzeln im Multikulturalismus der jüdischen Linken. Als in den 1970er Jahren innerhalb der Neuen Linken eine Art jüdische Identitätspolitik wieder auftauchte, geschah dies zu einer Zeit, in der die Neue Linke beginnend, revolutionären Nationalismus neu entdeckte. Viele dieser revolutionären Nationalisten sahen auf die Kommunistische Partei der 1930er und 1940er Jahre und betrachteten sie direkt als ihre Vorgänger.

Sie schauten auf Beispiele wie die „We Charge Genocide“-Petition des Civil Rights Congress. Sie ließen sich von schwarzen und karibischen marxistischen Intellektuellen wie Claudia Jones und C. L. R. James inspirieren. Revolutionärer Nationalismus fand eine neue Ausdrucksform, und jüdische Linke reagierten darauf unterschiedlich. Die Aufgabe der jüdischen Linken war es, sich vorzustellen, dass es nach dieser Krise eine Welt geben würde und man sich auf diese vorbereiten müsse.

Manche sagten: „Wir sind Revolutionäre, jüdische Politik interessiert uns nicht.“ Andere hingegen entschieden sich bewusst dafür: „Ja, wir wollen Teil dieses neuen revolutionären Nationalismus der 1970er sein und als Juden beitragen.“ Die Gründungen von JVP und JFREJ entspringen dem linken Flügel dieser Identitätspolitik der 1970er.

Diese Form linker Identitätspolitik war zugleich eine Antwort auf den Aufstieg dessen, was viele als „obligatorischen Zionismus“ wahrnahmen. Man musste nicht zionistisch sein, um ein linker radikaler Jude zu sein; man konnte trotzdem jüdische Identität und Zugehörigkeit ausdrücken. Die Neo-Bund-Bewegung der 1970er — Zeitschriften wie Chutzpah, das Brooklyn Bridge Collective und die radikale jüdische Community J — entstanden genau aus diesem Kontext. Namen wie Melanie Kaye/Kantrowitz, eine der Gründerinnen von JFREJ, sind wichtige Bestandteile dieser Tradition.

Shane Burley:

Wie präsentiert die heutige jüdische Linke, abgesehen von ihrer Anti-Zionismus-Haltung, ein Modell von Judentum? Wie konzeptualisiert sie jüdische Identität und wie hat sie diese Auffassung vom jüdischen linken Denken früherer Generationen geerbt?

Benjamin Balthaser:

In der jüdischen Linken gibt es eine Spannung bezüglich der zentralen Rolle des Anti-Zionismus. Ein Artikel meines Freundes Jon Danforth-Appell, veröffentlicht bei Jewish Currents, behandelt diese Debatte. Innerhalb der linken jüdischen Szene gibt es Enttäuschung darüber, dass die jüdische Linke ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Zionismus richtet und dabei versäumt, fortschrittliche jüdische Organisationen aufzubauen, die ihrer Gemeinschaft dienen und deren Stimme sind. Das führt auch dazu, dass der Zionismus in den USA als ein jüdisches Problem wahrgenommen wird – obwohl es gleichzeitig auch ein Problem des amerikanischen Imperialismus ist.

Andererseits gibt es keinen anderen Weg, als sich dieser Frage zu stellen. Die jüdische Welt ist vom Zionismus verschlungen. Heute sind alle großen jüdischen Institutionen in Amerika aggressiv zionistisch. Während die israelische Regierung von apokalyptischen Faschisten übernommen wurde, unterstützen die institutionellen Appparate der „liberalen“ jüdischen Welt in den USA Israel während des Genozids aktiv. Eine jüdische Organisation kann das nicht ignorieren.

Die jüdische Linke muss sich dem Zionismus stellen und sich in Solidarität mit den Palästinenser:innen organisieren. Eine weitere wichtige Frage ist, dass jüdische Identität nicht nur dazu verwendet wird, palästinensische solidarische Organisationen zu unterdrücken, sondern auch als Ausdruck und Mobilisierungsinstrument weißer Vorherrschaft dient. Ein linker Jude zu sein bedeutet, ob man will oder nicht, dass die eigene Identität mobilisiert wird.

Gleichzeitig besteht die Aufgabe der jüdischen Linken darin, sich eine Welt nach dieser Krise vorzustellen – mit Organisationen und Gemeinschaften, die über diesen intensiven Moment hinausgehen, für den wir leben und für den wir kämpfen.

Ob gut oder schlecht, Juden sind ein organisiertes Volk. Als Diaspora-Gemeinschaft organisieren wir uns seit Tausenden von Jahren, und das ist eine Ressource und eine Denkweise, die uns hilft zu überlegen, wie wir auch nach dieser akuten Krise weitermachen.

Wenn Juden in Amerika institutionelle Organisationen aufbauen wollen – und es sieht so aus, als würden sie das – müssen wir auch Gegen-Institutionen schaffen.

JVP (Jewish Voice for Peace – Jüdische Stimme für den Frieden) wird oft kritisiert, opportunistisch oder introvertiert zu sein. Aber das ist es nicht. Es ist eine echte Gemeinschaft. JVP Chicago entstand vor mehr als zehn Jahren aus der Fusion vorheriger Gruppen, und wenn man heute an einem Treffen teilnimmt, sieht man viele vertraute Gesichter.

Natürlich unterscheidet sich JVP in mancher Hinsicht von der früheren jüdischen Linken. Sie wird oft wegen ihrer säkularen Ausrichtung unterschätzt, doch JVP hat auch viele religiöse Mitglieder. Menschen feiern Feiertage und beten auf Treffen. Es gibt sogar einen Rabbinerrat. Die Kommunistische Partei hatte in ihrem jüdischen Flügel keine Rabbiner. JVP führt die gleiche internationalistische Vision weiter, die frühere kommunistische oder andere jüdische linke Organisationen für die jüdische Gemeinschaft formulierten, und stärkt dieses Gemeinschaftsgefühl.

Quelle:  https://jacobin.com/2025/06/history-left-jewish-identity-politics/