Die transatlantische Allianz, die nach dem Zweiten Weltkrieg eines der Grundpfeiler der globalen Ordnung bildete, durchlebt derzeit eine tiefgreifende Veränderung. Das Vertrauen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, das einst als selbstverständlich galt, wird zunehmend erschüttert, und dies schafft eine Lücke, die die EU insbesondere im Kontext ihrer komplexen Beziehungen zu China dazu zwingt, ihre strategischen Berechnungen neu zu bewerten. Diese veränderte Landschaft wirft die entscheidende Frage auf: Wird die EU angesichts des nachlassenden Vertrauens in die USA im Streben nach „strategischer Autonomie“ den Kurs auf China einschlagen?
Der Inflation Reduction Act (IRA), der während der Biden-Administration verabschiedet wurde, sorgte in den europäischen Hauptstädten mit seinen „Buy American“-Bestimmungen für Aufsehen und löste Vorwürfe des unlauteren Wettbewerbs sowie Ängste über eine Verlagerung der Industrie ins Ausland aus. Europäische Staats- und Regierungschefs wie Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz äußerten starke Bedenken hinsichtlich der protektionistischen Natur des Gesetzes und argumentierten, dass es den fairen Handel untergrabe und zu einem schädlichen transatlantischen Handelskrieg führen könnte.
Die Zölle, die die USA während der ersten Amtszeit der Trump-Administration auf Stahl und Aluminium aus Europa erhoben hatten, wurden zwar teilweise gelöst, hinterließen jedoch bleibende Verstimmungen und machten das Potenzial der USA für einseitige Handelsaktionen deutlich. Die jüngste Entwicklung, die diese Spannungen weiter anheizte, war eine umstrittene Rede von Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz, in der er die „inneren Bedrohungen“ Europas in den Fokus rückte. Seine Kritik an Zensur und Migrationspolitik sowie seine Begegnung mit rechtsextremen politischen Figuren wie Alice Weidel stießen auf scharfe Reaktionen europäischer Politiker, darunter auch von der deutschen Verteidigungsministerin Boris Pistorius.
Zusätzlich zu den jüngsten Spannungen ist auch eine Wahrnehmung der Divergenz zwischen den transatlantischen Herangehensweisen an den Ukraine-Konflikt entstanden. Einige EU-Länder betonen weiterhin ihre unerschütterliche Unterstützung für die territoriale Integrität der Ukraine und ihre militärische Resilienz, während die Trump-Administration ihren Fokus auf eine Verhandlungslösung mit Russland verlegte, was als Signal gewertet wurde, dass die Unterstützung für die Ukraine im Krieg nachlässt. Diese wahrgenommene Kursänderung hat Besorgnis und Misstrauen unter einigen europäischen Verbündeten ausgelöst, die befürchten, dass der Westen an Entschlossenheit verliert.
Diese öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen, Handelskonflikte und scharfen Kritiken sind nicht bloße diplomatische Streitereien. Sie spiegeln einen grundlegenden Vertrauensverlust wider, der die Zusammenarbeit in Richtung gemeinsamer strategischer Ziele behindert. Dieser Vertrauensverlust zwingt die EU dazu, einen unabhängigerem Weg einzuschlagen und ihre Fähigkeit zur eigenständigen Handlungsfähigkeit in außenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen zu stärken, was die Suche nach „strategischer Autonomie“ beschleunigt.
Risikominimierung und Autonomie
Um in diesem komplexen Umfeld Orientierung zu finden, wird die EU wahrscheinlich ein heikles Gleichgewichtsspiel spielen. Die zunehmenden transatlantischen Risse bieten zwar Chancen für China, seine Beziehungen zur EU zu vertiefen, jedoch erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Europa vollständig in Richtung China umschwenkt. Der strategische Ansatz der EU, zusammengefasst im Konzept des „De-Risking“, priorisiert nicht einen vollständigen Bruch, sondern eher die Diversifizierung der Lieferketten, die Verringerung von Abhängigkeiten und die Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken. Diese „De-Risking“-Strategie umfasst Initiativen wie das neue Zwangsmaßnahme-Tool der EU und das Gesetz über kritische Rohstoffe, das darauf abzielt, die Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten zu verringern.
Ein konkretes Beispiel für diesen Ansatz sind die kürzlich eingeführten Zölle der EU auf chinesische Elektrofahrzeuge. Die EU argumentiert, dass diese Fahrzeuge stark subventioniert sind und eine unfaire Wettbewerbssituation schaffen. Diese Maßnahme, die darauf abzielt, die europäischen Industrien vor den als unlauter empfundenen Wettbewerbsbedingungen zu schützen, unterstreicht die Entschlossenheit der Union, ihre wirtschaftliche Souveränität zu wahren.
Die EU wird China zwar als wichtigen Handelspartner ansehen und versuchen, diese entscheidenden wirtschaftlichen Bindungen aufrechtzuerhalten, wird jedoch gleichzeitig ihre Sicherheits- und strategischen Interessen wahren. In diesem Prozess werden auch interne Dynamiken eine entscheidende Rolle spielen. So haben etwa die osteuropäischen Länder oft eine andere Sichtweise auf die Beziehungen zu China als die westeuropäischen Staaten. Insbesondere Ungarn verfolgt eine aktive Politik, enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu China aufzubauen, während Griechenland in Infrastrukturprojekten chinesisches Kapital priorisiert und den wirtschaftlichen Nutzen in den Vordergrund stellt. Daher wird die EU wahrscheinlich nicht vollständig ihren Kurs ändern, sondern nach einem Mittelweg zwischen wirtschaftlichem Pragmatismus und strategischer Vorsicht suchen.
Menschenrechte als strittiger Punkt
Das Thema Menschenrechte bleibt ein wichtiger Streitpunkt in den Beziehungen zwischen der EU und China, und im vergangenen Jahr eskalierten die Spannungen in diesem Bereich. Die Resolution des Europäischen Parlaments, in der die „schweren Menschenrechtsverletzungen“ in Xinjiang, Hongkong und anderen Regionen verurteilt wurden, wurde von China scharf kritisiert. Peking behauptet, dass diese Resolution nicht auf Fakten beruhe und eine schwere Einmischung in seine inneren Angelegenheiten darstelle. Zudem fordert China, dass die EU – einschließlich ihrer Medien – ihre ideologischen Vorurteile ablegt.
Fünfzig Jahre komplexe gegenseitige Abhängigkeit
Während die Beziehungen zwischen der EU und den USA mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert sind, weisen auch die EU-China-Beziehungen eine eigene, komplexe Dynamik auf. Die Beziehungen zwischen der EU und China haben eine lange und vielschichtige Geschichte, die weit über die aktuellen geopolitischen Spannungen hinausgeht. In diesem Jahr feiern beide Seiten das 50-jährige Jubiläum ihrer diplomatischen Beziehungen, was die Tiefe und die lang anhaltende Partnerschaft verdeutlicht.
Das Handelsvolumen stieg von bescheidenen 2,4 Milliarden US-Dollar auf erstaunliche 780 Milliarden US-Dollar, während die Investitionen von nahezu null auf rund 260 Milliarden US-Dollar anwuchsen. Der China-Europa-Fernzug, der über 100.000 Fahrten absolviert hat, zeigt die konkreten Vorteile dieser Zusammenarbeit und spiegelt die in den letzten fünf Jahrzehnten gewachsenen Verbindungen und die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit wider.
China hat bemerkenswerte Potenziale in Schlüsselbereichen wie grünen Technologien (Solarpanels, Windturbinen, Batterien für Elektrofahrzeuge), Infrastrukturentwicklung (Seidenstraßen-Initiative) und der digitalen Wirtschaft, um die Bindungen zu Europa zu vertiefen. Im Bereich grüner Technologien deckt Chinas Vorherrschaft in der Produktion die ehrgeizigen Klimaziele der EU ab. Im Bereich Infrastruktur bietet die umstrittene Belt and Road Initiative in bestimmten Regionen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Im Bereich der digitalen Wirtschaft gibt es Potenziale für Zusammenarbeit in Bereichen wie E-Commerce und digitale Zahlungen.
Die EU bewertet China häufig durch eine skeptische Linse, und diese Perspektive wird oft von politischen Rhetoriken aus den Vereinigten Staaten beeinflusst. Dies hindert die EU daran, das Kooperationspotenzial in Bereichen wie Klimawandel, wirtschaftlicher Entwicklung und globaler Governance vollständig zu erkennen. Die strategischen Überlegungen der EU gegenüber China sind untrennbar mit den sich verändernden Dynamiken der transatlantischen Beziehungen verbunden. Während Handelsstreitigkeiten, öffentliche Kritik und umstrittene Aussagen von hochrangigen US-Politikern Chancen für China schaffen könnten, ist es jedoch wenig wahrscheinlich, dass die EU ihren Kurs vollständig in Richtung China ändern wird.
Quelle: https://fpif.org/will-the-eu-navigate-towards-china/