Wie entscheidet Deutschland, wer Jude ist?

Januar 6, 2025
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Der deutsche Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck warnte kürzlich in einem im European Journal of Social Theory veröffentlichten Artikel voreiner weiteren gefährlichen Konsequenz der bedingungslosenUnterstützung Deutschlands für Israel. Streeck argumentiert, dassDeutschland das kollektive Gedächtnis an die Verbrechen der Nazis mit den Interessen Israels in Einklang bringt und dabei die Opfer des Nazi-Regimes, die keine Unterstützung durch eine staatliche Lobby hatten (wie Roma, Menschen mit Behinderungen, Kommunisten, Homosexuelle oderAnti-Zionisten), in Vergessenheit geraten lässt.

 

Deutschland behauptet erneut, bestimmen zu können, wer jüdisch ist

Deutschland, das die Geister einer dunklen Vergangenheit wiederheraufbeschwört, behauptet erneut, die Autorität zu besitzen, zu definieren, wer jüdisch ist. Dies sagen jene Juden, die in Deutschland leben und feststellen, dass sie, sobald sie Israel kritisieren, zum Ziel von Delegitimierungsprozessen werden. Deutschland stellt sich zwischenIsrael und die Juden und entscheidet sich für den zionistischen Staat.

Der Philosoph und Journalist Martin Gak merkt an: „Wenn der deutsche Staat sich in die Position bringt, mir vorzuschreiben, welche Ansichten einJude haben sollte und welche Ausdrucksformen des Antisemitismus ichverurteilen oder tolerieren soll, denke ich an das berühmte Zitat von Hermann Göring, einem der Hauptarchitekten des Polizeistaats im nationalsozialistischen Deutschland: ‚Wer in Deutschland Jude ist, bestimme ich.‘“

Michael Sappir, ein israelischer Jude und Mitbegründer der zionismuskritischen Bewegungen Jewish-Israeli Dissidence in Leipzig und Israelis for Peace in Berlin, sagt: „Was geschieht, ist, dass der deutsche Staat sich die Rolle anmaßt, jüdischer zu sein als die Juden selbst.“ Er fügthinzu: „Es ist ein erstaunlicher Rückschritt, fast so, als sei Deutschland dasOpfer von Antisemitismus geworden.“

Seit der deutsche Bundestag im Jahr 2019 eine Resolutionverabschiedete, die die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) als antisemitisch verurteilt, ziehen zahlreicheKultureinrichtungen im Land Einladungen zurück oder sagenVeranstaltungen ab, um Vorwürfe des Antisemitismus zu vermeiden.

Dieses Phänomen wurde nach dem 7. Oktober 2023 noch deutlicher, alsDeutschland nahezu vollständig pro-palästinensische Proteste verbot. Deutsche Behörden leiteten eine der umfassendsten Repressionswellender letzten Jahrzehnte gegen die Zivilgesellschaft ein, verbunden mit strikten Verboten pro-palästinensischer Äußerungen und Symbole. Diese Kampagne richtete sich gegen Künstler, Verleger, Aktivisten und Akademikereinige von ihnen waren selbst Juden.

Der israelische Filmemacher Yuval Abraham und sein palästinensischerCo-Regisseur Basel Adra wurden im Februar, nachdem sie in ihrer Dankesrede auf der Berlinale die Mitschuld Deutschlands am Krieg in Gaza und die gewaltsame Unterdrückung der Palästinenser durch Israel kritisierten, von Berlins CDU-Bürgermeister Kai Wegner des Antisemitismus bezichtigt.

Yuval Abraham erklärte damals: „Deutschland benutzt einen Begriff, der eigentlich zum Schutz von Juden gedacht ist, nicht nur, um Palästinenserzum Schweigen zu bringen, sondern auch, um Juden und Israelis, die die Besatzung kritisieren, mundtot zu machen.“

Die Diaspora Alliance, eine internationale, von Juden geleiteteOrganisation, die sich dem Kampf gegen die Instrumentalisierung des Antisemitismus und der Bekämpfung tatsächlicher antisemitischer Vorfälleverschrieben hat, dokumentierte im Jahr 2023 insgesamt 84 Fälle von Delegitimierung oder Veranstaltungsabsagen. Laut der Organisation warenin 25 % dieser Fälle jüdische Einzelpersonen oder Gruppen betroffenobwohl Juden weniger als 1 % der deutschen Bevölkerung ausmachen.

Martin Gak erklärt: „Nach dem Holocaust brauchte Deutschland einZertifikat zur moralischen und politischen Rehabilitation der deutschen Seele.“ Dieses Problem sei mit der Gründung des Staates Israel im Jahr1948 gelöst worden. „Die Zionisten entschieden, dass Israel die einzigeautorisierte Stimme ist, die Juden repräsentiert. Damit erhielt Deutschland sein lang ersehnteskoscheres Zertifikat‘ für die moralische und politischeRehabilitation seiner Seele.“

Von diesem Punkt an begann das, was deutsche Politiker als Deutschlands „besondere Verantwortunggegenüber Israel bezeichnen. Gak weistjedoch darauf hin, dass dies eine Fehlinterpretation darstellt. Letztlichhabe diese Position weder mit den Juden noch mit Israel selbst etwas zu tun. „Es geht nur um eines, und das ist das Einzige, was die Deutschen interessiert: die Deutschen. All das dreht sich einzig und allein um die Deutschen“, betont er.

Das Konzept der „besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüberIsrael“ wurde in der deutschen Politik etabliert, nachdem Angela Merkel 2008 in ihrer Rede vor der Knesset erklärte, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei.

Olaf Scholz bezog sich am 12. Oktober 2023 in einer Rede vor dem deutschen Bundestag auf Merkels Formulierung und sagte: „Die SicherheitIsraels ist Teil des Existenzgrundes Deutschlands. Unsere eigeneGeschichte, unsere Verantwortung aus dem Holocaust, macht es zu unserer dauerhaften Aufgabe, die Existenz und Sicherheit des StaatesIsrael zu verteidigen.“

Der israelische Holocaust-Experte Raz Segal schrieb in einem Artikel für das amerikanische Magazin Jewish Currents, dass die Äußerung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant am 9. OktoberwonachGaza vollständig belagert werde, weilwir es mit menschlichen Tieren zu tun haben und entsprechend handeln werden“ – nicht weniger eindeutigsei als der Vernichtungsbefehl von General Lothar von Trotha im Jahr1904, der zum Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika führte.

Martin Gak ist entschlossen: „Deutschland wird keinem Israeli oder Juden erlauben, sich der Verteidigung Israels zu entziehen. Tatsächlich hat Deutschland in den letzten zwei Jahren nicht nur Israelis strafrechtlichverfolgt, die die BDS-Bewegung unterstützen, sondern auch eine erhebliche Anzahl von Juden verhaftet, weil sie offen gegen Israel Stellungbezogen haben.“

Gak fügt hinzu, dass in Deutschland derzeit Personen, die politisch und ideologisch nicht dem deutschen Verständnis davon entsprechen, was einJude oder was Israel sein soll, systematisch ausgeschlossen werden. Er merkt an, dass Albert Einstein in der heutigen Bundesrepublik wegenseiner Kritik an Israel verfolgt würde. „Sein Widerstand gegen die Ideeeines religiösen Nationalstaats, weil dies die Juden auf genau dasreduzieren würde, wogegen wir – mit Blick auf die Nazisgekämpfthaben, würde Einstein in Konflikt mit dem deutschen Staat bringen, da solche Äußerungen heute als gegen die Interessen der Nation gerichtetgelten.“

Gak schließt mit den Worten: „Deutschland ist immer noch kein Land für Juden.“

Der australische Genozidforscher Anthony Dirk Moses erklärte 2021, dassin der heutigen Bundesrepublik jeder, der bestimmteGlaubensgrundsätze“ wie die bedingungslose Unterstützung IsraelseinEckpfeiler der deutschen Nachkriegsidentitätinfrage stellt, Gefahr läuft, aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden. Das gleichegelte für Personen, die die Einzigartigkeit des Holocausts hinterfragenoder diesen mit Deutschlands genozidal-kolonialer Vergangenheit in Verbindung bringen.

Martin Gak hebt hervor, dass es besonders bemerkenswert sei, wie Benjamin Netanyahu und die Likud-Partei ihre Verbindungen zur radikalen Rechten ausgebaut und aktiv politische Kampagnen unterstützt haben, die oft antisemitisch sind. Als Beispiel nennt er die von Viktor Orbán gegenGeorge Soros geführte Kampagne, die von Netanyahus ehemaligemStabschef George Birnbaum entwickelt wurde.

Michael Sappir, der in Westjerusalem in einer Familie aufwuchs, die ausNachfahren von Holocaust-Überlebenden bestand und Israels Umgang mit Palästinensern stets kritisierte, lehnte den Zionismus und die zionistischeErzählung ab. Dies führte schließlich dazu, dass er, seine Familie und seine Geschwister entschieden, Israel zu verlassen.

Heute beobachtet er mit Besorgnis die politische EntwicklungDeutschlands, die er für äußerst gefährlich für Juden hält. „Das istbesonders gefährlich, weil Juden einmal mehr auf zynische Weiseinstrumentalisiert werden. Viele deutsche Politiker behaupten, dasjüdische Volk zu schützen, indem sie Muslime loswerden und Muslime sowie Araber ausschließen“, betont Sappir.

Er weist darauf hin, dass Parteien, die sich in Deutschland wie auchanderswo angeblich gegen die extreme Rechte stellen, in der Frage von Einwanderern, insbesondere Muslimen, oft dieselben Positioneneinnehmen. Wenn der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus und die Verteidigung angeblicher liberaler Werte als Vorwand dient, werde diese Strategie als Antifaschismus dargestellt, sagt Sappir. „In Wirklichkeit istder Diskurs über den Kampf gegen äußere Einflüsse, die unser Volk verderben, exakt faschistischer Naturgenau der Diskurs, den wir vorhundert Jahren in Europa über Juden geführt haben.“

Der deutsche Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck warnte kürzlich in einem Artikel im European Journal of Social Theory vor einer weiterengefährlichen Folge von Deutschlands bedingungsloser Unterstützung für Israel.

Streeck argumentiert, dass Deutschland die Erinnerung an die Verbrechender Nazis mit den Interessen Israels in Einklang gebracht habe und dabeidie Opfer des NS-Regimes, die keine staatliche Lobby hinter sich hatten – Roma, Menschen mit Behinderungen, Kommunisten, Homosexuelle oderAnti-Zionisten – in Vergessenheit geraten ließ.

Der Soziologe betont, dass die moralische Verpflichtung des deutschen Staates nach dem Nationalsozialismus zunächst als Unterstützung sowohldes Völkerrechts als auch des Staates Israel verstanden wurde. Dochdiese Balance habe sich inzwischen zugunsten Israels und zulasten des Völkerrechts verschoben. Damit sei die Auslegung der historischenVerantwortung Deutschlands von einer universalistischen zu einerpartikularistischen Sichtweise übergegangen.

Streeck weist darauf hin, dass diese Neuausrichtung den deutschen Staatzu einer seiner bedeutendsten strategischen Entscheidungen in der Allianz mit Israel geführt habe: der Lieferung von Dolphin-U-Booten mit nuklearerKapazität an die israelische Marine. Zwischen 1997 und 2000 lieferteDeutschland drei U-Boote dieses Typs, gefolgt von zwei weiterenverbesserten Versionen (Dolphin II) in den Jahren 2014 und 2015 sowieeinem weiteren U-Boot im Jahr 2019. Drei weitere aufgerüstete U-Boote, die teilweise oder vollständig von Deutschland finanziert werden, sollen zwischen 2027 und 2029 ausgeliefert werden.

Militäranalysten vermuten, dass Israel seine U-Boot-Flotte so ausgerüstethat, dass sie nuklear bestückte Marschflugkörper abfeuern kann. Nebendem Status als nicht bestätigte, aber auch nicht dementierteNuklearmacht verfügt Israel somit über eine nicht lokalisierbare U-Boot-Flotte, die in der Lage ist, von jedem Punkt im Mittelmeer oder IndischenOzean aus Nuklearraketen zu starten.

Laut Streeck ist dies ein entscheidender Faktor, um das Fundament von Israels Status der Straflosigkeit und seine Gleichgültigkeit gegenüber dem internationalen Recht sowie Aufrufen zur diplomatischen Konfliktlösung zu verstehen.

 

Martin Gak

Dr. Martin Gak ist ein Journalist und Philosoph mit umfassender Erfahrungim Bereich des Rundfunks, einschließlich Produktion, Moderation, Journalismus und Regie. Er war als Religionskorrespondent und alsRedakteur und Produzent des internationalen Politikprogramms ConflictZone tätig. In seiner akademischen Laufbahn hat er einen Doktortitel an der New School for Social Research erworben.

Michael Sappir

Michael Sappir wurde in Westjerusalem in einer Familie von Holocaust-Überlebenden geboren und wuchs dort auf. Im Alter von 19 Jahren zog er in die deutsche Stadt Leipzig und lebt derzeit in Berlin. Als Forscher und Autor ist Sappir einer der Gründer zweier anti-zionistischer Bewegungenin Deutschland: Jewish-Israeli Dissidence in Leipzig und Israelites for Peace in Berlin. Er war Chefredakteur der deutschen Studentenzeitungcritica und Mitgründer sowie Mitmoderator des ersten deutschen politischen Podcasts über Palästina, Parallelwelt Palästina.

 

Quelle: https://www.counterpunch.org/2025/01/03/today-as-in-the-past-germany-claims-the-authority-to-define-who-is-a-jew/

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