Der Begriff „primitiv“, der aus einer westlich zentrierten und schwer beladenen Perspektive stammt, gehört zu den bedeutendsten Unterscheidungen der Weltgeschichte. Eine genauere Betrachtung dieses Begriffs zeigt eine Haltung, die alle außerhalb der eigenen Definition als „ursprünglich“ und somit als „wild“ kategorisiert. Mit der Aufklärung begannen westliche Denker, die Geschichte der Menschheit als einen Fortschrittsprozess zu betrachten und sich selbst an dessen Spitze zu positionieren. Diese Sichtweise, die in den Sozialwissenschaften einen festen Platz einnahm, gründet auf der Dichotomie von „uns“ und „den Anderen“, die das Zentrum der Moderne prägt. Disziplinen wie Soziologie und Ökonomie wurden als Wissenschaften der westlichen Gesellschaft etabliert, während für die „Anderen“ die Anthropologie als eigenes Fachgebiet entstand. Gesellschaften vor der Schriftkultur wurden als „primitiv, barbarisch, irrational und wild“ abgestempelt. Diese Haltung bildete die Grundlage für die Abwertung und Ausbeutung nicht-westlicher Kulturen durch westliche Gesellschaften.
Dieses Denken, das andere Kulturen mit Defiziten assoziiert, lieferte den intellektuellen Hintergrund für den Kolonialismus. Westliche Staaten rechtfertigten ihre Kolonialisierung eines großen Teils der Welt mit dem Argument der „Zivilisierung“ und zwangen ihre eigene Kultur auf. Indigene Kulturen wurden dabei als „primitiv“ und „unentwickelt“ bewertet, ihre Werte und Lebensweisen herabgesetzt. Obwohl heute Begriffe wie „Entwicklungsländer“ die Situation entschärfen sollen, bleibt der grundlegende Blickwinkel unverändert. Kultureller Relativismus und postkoloniale Theorien betonen zwar die Einzigartigkeit und den Wert jeder Kultur, doch die anhaltenden Krisen zeigen, dass sich wenig verändert hat. In diesem Kontext ist Europas unterschiedliche Haltung gegenüber Gaza und Kiew ein aktuelles Beispiel, das die oben genannte Problematik deutlich illustriert.
Das größte Hindernis für ein korrektes Verständnis der Vergangenheit ist das Vorurteil, dass Menschen in der fernen Vergangenheit „minderwertig“ gewesen seien. Mit den Errungenschaften moderner Technologie neigt der Mensch dazu, die Vergangenheit herabzusetzen und als unzureichend zu bewerten. Doch war dies tatsächlich der Fall? Der „primitive“ Mensch wird oft als ein bemitleidenswerter Kämpfer ums Überleben dargestellt, ständig bedroht von wilden Tieren und Hunger. Sein Leben wird durch die Linse der Subsistenzwirtschaft betrachtet, sodass angenommen wird, er habe vor der Erfindung der Landwirtschaft keine Zeit für Kunst oder Religion gehabt. Diese Vorstellung wird jedoch durch Beispiele wie die Yanomami in Venezuela widerlegt, die im Durchschnitt nur 4-5 Stunden täglich für ihre Grundversorgung arbeiten. Dies zeigt, dass auch „primitiven“ Menschen ein ebenso komplexer Lebensstil wie der unsere möglich war und sie sogar mehr Zeit zum Nachdenken hatten als wir.
Die Erforschung von „Wilden“ (!) war nicht nur von wissenschaftlicher Neugier motiviert, sondern wurde auch von ideologischen Anliegen geprägt. Besonders im 19. Jahrhundert führte der Konflikt mit der katholischen Kirche zu radikalen Ansätzen bezüglich der Ursprünge der Religion. Die Hoffnung bestand darin, durch mythologische Erklärungen der frühen Menschheitsgeschichte die Grundlage von Glaubenssystemen als irrational und überholt zu entlarven, was letztlich zur Delegitimierung der Kirche führen sollte. Obwohl viele dieser Theorien heute an Bedeutung verloren haben, trugen sie zur Entwicklung von Disziplinen wie Archäologie, Anthropologie und Religionsgeschichte bei.
Zu den einflussreichen Denkern dieser Zeit gehören Max Müller (1823–1900), der die Ursprünge moderner Religionen mit der Natur in Verbindung brachte, und Edward Tylor (1832–1917), der die Religion auf den Glauben an Geister zurückführte und ihre institutionalisierte Entwicklung als einen evolutionären Prozess betrachtete. Herbert Spencer argumentierte, dass die Ahnenverehrung die Quelle aller Religionen sei, während Emile Durkheim Religion als ein gesellschaftliches und nicht individuelles Phänomen betrachtete und den Totemismus als Symbol für Gesellschaft und Religion definierte. Wilhelm Schmidt behauptete, der Monotheismus sei die älteste Form der Religion. Auguste Comte hingegen erklärte, dass institutionalisierte Religionen ihren Zweck erfüllt hätten und eine positivistische „Religion der Menschheit“ die Zukunft prägen würde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führten Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften zu heftiger Kritik an den Erkenntnissen der viktorianischen „Schreibtischtheoretiker“. Insbesondere der Begriff „primitiv“, der über Jahre hinweg verwendet wurde, um außereuropäische Kulturen zu beschreiben, die keinen Kontakt mit der Moderne hatten, wurde wegen seiner negativen Konnotationen kritisiert. Stattdessen wurden neutralere und kulturell sensiblere Begriffe wie „schriftlose Völker“, „indigene Völker“, „traditionelle Gesellschaften“, „archaische Gesellschaften“ oder „kleinskalige Gesellschaften“ vorgeschlagen. Dennoch ist offensichtlich, dass auch diese Begriffe mit Vorurteilen und vereinfachenden Annahmen behaftet sind, da sie durch Generalisierung zu einer reduktionistischen Sichtweise führen.
Kritik konzentriert sich insbesondere auf die westlich-zentrierte Perspektive dieser Begriffe, ihre kolonialistische Funktion und ihre Tendenz, außereuropäische Gesellschaften und Institutionen als einfach und monolithisch darzustellen. Seit den 1950er Jahren haben jedoch anthropologische Forschungen gezeigt, dass Gemeinschaften, die als „wild“ bezeichnet wurden, in Wirklichkeit hochkomplexe soziale Strukturen, tiefgreifende Wissenssysteme und entwickelte Kulturen besitzen. Zudem wurde deutlich, dass diese „Wilden“ in ihrer Beziehung zur Umwelt nicht nur pragmatische Überlegungen anstellen. So etwa konnte in der Dogon-Gesellschaft in Afrika beobachtet werden, dass ein junger Mensch Pflanzen in 22 Familien einteilte und diese zusätzlich in Unterkategorien ordnete. Ebenso ist bekannt, dass nordamerikanische Indigene Schlangen zwar nicht als Nahrung nutzen, aber dennoch detailliertes Wissen über sie besitzen. Dies zeigt, dass sie Pflanzen und Tiere nicht nur unter dem Aspekt des Überlebens betrachten, sondern komplexe Beziehungen zu ihrer Umwelt entwickeln.
Die Annahme, dass alle Gesellschaften denselben evolutionären Prozess durchlaufen und auf dasselbe Ziel hinarbeiten, wird dadurch als fehlerhaft entlarvt. Unterschiedliche Gesellschaften haben sich durch Anpassung an ihre jeweilige Umwelt verschiedene Lebensweisen angeeignet. Während einige Gruppen auf Jagd und Sammeln setzten, entschieden sich andere für Ackerbau. Die Vorstellung jedoch, dass Fortschritt ein universelles Ziel ist, führt zu einer statischen und linearen Geschichtsbetrachtung.
Ein Großteil dieser Theorien wurde jedoch von Forschern aufgestellt, die keinen direkten Kontakt zu den „wilden“ Gemeinschaften hatten. Wie Evans-Pritchard es ausdrückt, gleicht dies einem „Chemiker, der niemals ein Labor betritt, aber dennoch Theorien entwickelt.“ Solche „Schreibtischstudien“ vernachlässigten die Realität vor Ort. Besonders in Theorien zur Religion wurde der sogenannte „primitive Mensch“ unterschätzt. Im Rahmen des Fortschrittsgedankens wurde der „Steinzeitmensch“ als kindlich, abergläubisch und irrational dargestellt, der ein Leben voller Ängste durch Magie und Gebete zu bewältigen suchte. Um diese Theorien wirklich zu verstehen, muss man die Denkweise der Theoretiker und den religiösen Kontext, in dem sie lebten, kennen. Obwohl viele dieser Denker jüdischen oder christlichen Traditionen entstammten, waren die meisten agnostisch oder atheistisch. Religion betrachteten sie als eine Täuschung der Menschheit, und in diesem Licht interpretierten sie auch die „primitiven Religionen“.
In der Moderne zeigt sich mitunter das gegenteilige Phänomen, nämlich die übermäßige Verherrlichung des „primitiven Denkens“. Denker wie John Zerzan idealisierten vorkoloniale Gesellschaften und präsentierten sie als Beispiele für ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur. Doch auch solche romantisierenden Ansätze sind problematisch. Es zeigt sich, dass die Vergangenheit nicht bloß Vergangenheit ist, sondern das Potenzial hat, die Gegenwart und Zukunft zu formen.
Seit Jahren „opfert“ der Westen angeblich seine Soldaten in Afghanistan und im Irak, um „die Wilden“ zu zivilisieren (!). Welch großer Dienst, nicht wahr – diese „Wilden“ mit Demokratie und Zivilisation zu verbinden…