Warum tut sich die NATO so schwer damit, sich neu zu erfinden?

Die schwierigste Aufgabe ist zugleich die dringendste: das Chaos zu verhindern, das ein einseitiger Rückzug der USA aus der NATO auslösen würde. Vor dem NATO-Gipfel im Juni muss die finanzielle und militärische Last in einer Weise auf Europa verlagert werden, die für die USA akzeptabel ist. Die Diskussionen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden kann, müssen alle Themen umfassen – von der nuklearen Abschreckung bis hin zu den Problemen, die sich aus dem Konflikt in der Ukraine ergeben.
April 10, 2025
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Die schwierigste Aufgabe ist zugleich die dringendste: das Chaos zu verhindern, das ein einseitiger Rückzug der USA aus der NATO auslösen würde. Vor dem NATO-Gipfel im Juni muss die finanzielle und militärische Last in einer Weise auf Europa verlagert werden, die für die USA akzeptabel ist. Die Diskussionen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden kann, müssen alle Themen umfassen – von der nuklearen Abschreckung bis hin zu den Problemen, die sich aus dem Konflikt in der Ukraine ergeben.

 

In den Jahren nach der Gründung der NATO im Jahr 1949 verfolgten die USA und ihre europäischen Mitglieder einen gemeinsamen Ansatz der kollektiven Verteidigung – vor allem mit dem Ziel, Westeuropa gegen die Sowjetunion zu schützen. In dieser Zeit setzten sowohl die USA als auch Europa auf internationale Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Probleme und stützten sich auf die Stabilität des internationalen Systems.

Spult man über 70 Jahre vor, wird klar: Die Zeit zur Neugestaltung des transatlantischen Bündnisses wird knapp.
Die Sicherheit Europas ist nicht mehr gleichzusetzen mit der Sicherheit des von den USA geführten NATO-Bündnisses. Die jüngsten Äußerungen amerikanischer Führungspersonen, Europa solle für seine eigene Sicherheit zunehmend selbst verantwortlich sein, stießen in Europa auf Unbehagen.

Für manche stellt dies eine längst überfällige Gelegenheit dar, die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen grundsätzlich neu zu überdenken. Für andere jedoch zeichnen diese Aussagen – vor dem Hintergrund von Trumps russlandfreundlicher Haltung – ein beunruhigendes Bild. Trumps Forderungen wirken bestenfalls drohend.

NATO-Generalsekretär Mark Rutte betonte kürzlich die Notwendigkeit, eine „stärkere, gerechtere und tödlichere NATO“ aufzubauen. Seiner Ansicht nach schafft die wachsende Zahl globaler Bedrohungen eine gefährlichere Welt.

Seit ihrer Gründung durch zwölf Staaten am 4. April 1949 konzentrierte sich die NATO bis zum Ende des Kalten Krieges auf eine einzige Aufgabe: die Abschreckung sowjetischer Aggression. Die Allianz hatte ein einziges Ziel, einen einzigen Feind, eine einzige Bedrohung, ein einziges Einsatzgebiet und ein zentrales Machtinstrument.

Diese Konstellation ermöglichte es den USA, dauerhaft eine zentrale Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu spielen – und hinderte sie zugleich daran, zu ihrer isolationistischen Außenpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg zurückzukehren.

Zwar schwankte die Haltung der USA in dieser Zeit: Ursprünglich wollten sie sich nur mit begrenztem militärischem Engagement vorübergehend in der NATO einbringen und drängten die westeuropäischen Mitglieder dazu, frühzeitig mehr Verantwortung für ihre eigene Verteidigung zu übernehmen.

Doch die massive nukleare Bedrohung durch die Sowjetunion führte zu einer deutlichen Kurskorrektur. NATO wurde zum entscheidenden Instrument für die Fähigkeit der USA, eine sowjetische Invasion in Westeuropa zu verhindern. Ebenso zentral war der Marshallplan – ein gewaltiges Wiederaufbauprogramm für Europa, das zusammen mit der NATO das Bestreben der USA symbolisierte, gemeinsam mit ihren europäischen Partnern die Region zu stabilisieren und Demokratie zu sichern.

In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde die NATO ein Eckpfeiler der US-Außenpolitik. Zwar hatte das transatlantische Verhältnis immer auch einen „Verhandlungscharakter“, doch dieser ging nie zulasten der zugrunde liegenden gemeinsamen Werte – vielmehr stärkte es sowohl die nationalen Interessen der USA als auch die regionalen Interessen Europas.

In den 1990er- und 2000er-Jahren blieb die NATO das bevorzugte Mittel der USA, um ihre militärische Präsenz in Europa aufrechtzuerhalten – mit Stützpunkten, Truppen und Waffen in verschiedenen Mitgliedsstaaten. Auch die Neuausrichtung der NATO nach dem Kalten Krieg wurde maßgeblich von den USA angestoßen und bezog fortan auch ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten wie Polen, Ungarn und Tschechien mit ein.

Heute stellt sich jedoch die Frage: War die US-Führungsrolle in der NATO so sehr auf Europas Sicherheit und die Eindämmung der Sowjetunion fokussiert, dass die Frage der Lastenteilung – wer zahlt wie viel – über lange Zeit vernachlässigt wurde?

Verdrängte Probleme?

Zwei Warnsignale sollten folgen: Erstens zeigten sich bereits unter Präsident Barack Obama klare Anzeichen dafür, dass die US-Regierungen zunehmend unzufrieden mit der NATO waren – insbesondere mit den im Vergleich zu den USA deutlich geringeren finanziellen Beiträgen der europäischen Mitglieder.

Zweitens erfolgte 2014 die Annexion der Krim durch Russland. Obamas erste Warnungen wurden weitgehend ignoriert – und als Russland die Krim besetzte, blieb eine entschlossene Reaktion der NATO auf Putins Expansionismus aus.

Heute steht die NATO erneut im Fokus der amerikanischen Kritik – insbesondere im Hinblick auf die Finanzierung. Trump zeigt sich empört über die aus seiner Sicht unzureichenden Verteidigungsausgaben Europas und ist entschlossen, das transatlantische Gleichgewicht radikal zu überdenken.

Bereits in seiner ersten Amtszeit hatte Trump die europäischen NATO-Mitglieder dazu gedrängt, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen – eine Haltung, die er auch heute wieder vertritt.

Aus europäischer Sicht waren die USA stets ein unverzichtbarer Teil der kollektiven Sicherheitsarchitektur, die Europas Verteidigung und Abschreckung stärkte. Doch dieses System beruht offenbar auf einem Finanzierungsmodell, das zunehmend als überholt erscheint.

Trump hält die NATO für strategisch nutzlos und sieht in den Ungleichgewichten bei den Verteidigungsausgaben einen Beleg dafür, dass das Bündnis eher einem Sicherheits-Schutzgeldsystem („security racket“) gleiche.

Besonders frappierend ist dabei der Kontrast zwischen den USA als einstiger Gründungsnation der NATO – Verfechterin eines regelbasierten internationalen Systems – und Trumps Haltung, jede Verantwortung für globale Führung und Stabilität abzulehnen.

Für viele europäische Mitglieder ist nicht die Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben der größte Schock, sondern die Möglichkeit eines vollständigen US-Rückzugs aus der NATO – ohne den Anspruch, weiterhin eine globale Führungsrolle zu übernehmen oder die bestehende Weltordnung zu verteidigen.

Die Verantwortung für tiefgreifende und schnelle Veränderungen liegt nun bei den europäischen NATO-Mitgliedern. Erste Signale für ernsthafte finanzielle Zusagen, etwa von Deutschland, sind bereits erkennbar. Im vergangenen Jahr stiegen die Verteidigungsausgaben Europas um 11,7 % auf rund 423,3 Milliarden Euro (371 Milliarden Pfund) – und setzten damit ein zehnjähriges Wachstum fort.

Zu den nächsten Schritten zählen stärkere Investitionen in KI-gestützte Technologien, kostengünstige Drohnen, digitale Infrastruktur und gemeinsame Rüstungsprojekte.

Doch die schwierigste Aufgabe bleibt zugleich die dringlichste: das Chaos zu verhindern, das ein einseitiger Rückzug der USA aus der NATO auslösen würde.

Vor dem NATO-Gipfel im Juni muss die finanzielle und militärische Last in einer Weise auf Europa verlagert werden, die für die USA akzeptabel ist. Die Diskussionen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden kann, müssen alle Themen umfassen – von der nuklearen Abschreckung bis hin zu den Problemen, die sich aus dem Konflikt in der Ukraine ergeben.

Ob Rutte und die europäischen Staaten in der Lage sein werden, die Grundlagen kollektiver Sicherheit aus den Anfangsjahren der NATO wirklich zu bewahren, bleibt ungewiss. Sicher ist jedoch: Die heutige Welt ist keineswegs weniger gefährlich als die Welt von 1949.

Quelle: https://theconversation.com/why-nato-is-struggling-to-rebuild-itself-in-an-increasingly-threatening-world-253494

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