Syrien: Ein Hoffnungsschimmer für ein stabiles Nahost

Während die USA entschlossen sind, ihre militärischen und strategischen Investitionen im Nahen Osten auf ein Minimum zu reduzieren, und die NATO sich zunehmend auf die Sorgen in Europa konzentriert, darf die Möglichkeit, eine der jüngsten und instabilsten Konfliktzonen der Geschichte zu stabilisieren, nicht außer Acht gelassen werden. Trotz aller Risiken und vieler Unbekannten sollte die Priorität einer Strategie für Syrien darauf liegen, eine stabile und kompetente Zentralregierung aufzubauen, die mit ihren Nachbarn integriert ist und in der Lage ist, ihre eigenen Probleme kollektiv zu lösen. Europa und der Nahe Osten haben diese Entscheidung bereits getroffen – und auch die USA sollten denselben Weg einschlagen. Sollte sich die Trump-Administration entschlossen diesem Engagement anschließen, erhöht sich die Chance auf Fortschritte in Richtung Stabilität in Syrien erheblich.
Juni 5, 2025
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Ein Hoffnungsschimmer für ein stabileres Nahost in Syriens fragiler Übergangsphase

Seit fast einem halben Jahrhundert steht Syrien als offene Wunde im Herzen des Nahen Ostens: Es schürt Instabilität, nährt Konflikte und unterdrückt sein eigenes Volk mit brutaler Härte. Im Laufe des nunmehr vierzehn Jahre andauernden syrischen Bürgerkriegs haben zahlreiche Kettenreaktionen der Instabilität auf die Nachbarländer und schließlich auf die gesamte Welt ausgestrahlt. Der oft gebrauchte Satz „Was in Syrien geschieht, bleibt nicht in Syrien“ brachte die scheinbar unlösbare Krise des vergangenen Jahrzehnts auf den Punkt.

All das änderte sich am 8. Dezember 2024, als Baschar al-Assad überraschend und in aller Eile aus seinem Palast in Damaskus floh und in Russland Zuflucht suchte. Nach einem plötzlichen und blitzartigen Angriff stürzte eine Koalition bewaffneter Oppositionsgruppen das Assad-Regime innerhalb von nur zehn Tagen wie ein Kartenhaus. Damit stand die internationale Gemeinschaft vor einer historischen und strategischen Chance, das Herz des Nahen Ostens in eine stabilere, stärker integrierte und konstruktivere Region zu verwandeln.

Der aktuelle Übergangsprozess in Syrien ist äußerst fragil. Er birgt große Herausforderungen und stellt zugleich ein Dilemma für die internationale Gemeinschaft dar. Von Beginn an wird dieser Übergang maßgeblich von Hayat Tahrir al-Scham (HTS) geleitet und dominiert – einer Bewegung, die aus dem sogenannten Islamischen Staat im Irak und in der Levante (ISIL/ISIS) hervorgegangen ist und einst mit al-Qaida in Verbindung stand. Diese historische Herkunft wirft Bedenken hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit den Übergangsstrukturen in Syrien auf.

Doch das heutige HTS ist das Ergebnis eines fast zehnjährigen Wandlungsprozesses. Nach der Abspaltung von ISIL im Jahr 2013 kämpfte HTS offen gegen diese Terrororganisation. 2016 kappte es öffentlich seine Verbindungen zu al-Qaida, erleichterte den Eintritt Tausender türkischer Soldaten in die von ihm kontrollierten Gebiete, akzeptierte und hielt einen langanhaltenden Waffenstillstand unter Vermittlung der Türkei und Russlands ein, gründete im Nordwesten Syriens eine technokratische „Rettungsregierung“, die im Vergleich zu anderen Regionen höhere Standards bei öffentlichen Dienstleistungen etablierte, führte harte Maßnahmen gegen sowohl ISIL als auch al-Qaida durch und nahm schließlich erste verdeckte Kontakte zur internationalen Gemeinschaft auf. Im Laufe dieser Entwicklung, besonders nach 2016, vollzog HTS eine ideologische Wende, wie sie in der Geschichte dschihadistischer Bewegungen kaum je gesehen wurde: Es wandte sich nicht nur vom globalen Dschihad ab, sondern positionierte sich aktiv dagegen und übernahm die Ideale der syrischen Volksrevolution – samt ihrer grünen Fahne.

Obwohl HTS und ihr Anführer Ahmad al-Sharaa heute in Damaskus die Verwaltung kontrollieren, zögerte ein Großteil der internationalen Gemeinschaft nicht, den Kontakt zu suchen – denn weit verbreitet war die Überzeugung, dass Dialog und Engagement größere Einflussmöglichkeiten auf den fragilen Übergang böten als politische Isolation. Die Europäische Union, das Vereinigte Königreich und die Schweiz machten den Anfang, indem sie zahlreiche Sanktionen gegen die syrische Wirtschaft lockerten – in der Hoffnung, dem Land neues Leben einzuhauchen. In dieser Phase erließ auch die scheidende Biden-Regierung im Januar 2025 eine sechsmonatige „allgemeine Lizenz“, die einige restriktive Maßnahmen vorübergehend aussetzte. Doch diese Initiative hatte keine nennenswerte Wirkung im Hinblick auf die praktischen Abläufe mit den syrischen Verwaltungsstrukturen.

Nach Jahren erbitterter Auseinandersetzungen ist die syrische Wirtschaft faktisch kollabiert, und die humanitäre Krise hat ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. 90 % der syrischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze; 70 % sind auf humanitäre Hilfe angewiesen; der Wert des syrischen Pfunds ist um 99 % eingebrochen; rund 50 % der grundlegenden Infrastruktur des Landes ist zerstört; und die Treibstoffreserven sind nahezu vollständig erschöpft. Ganz gleich, wer den Übergangsprozess in Syrien anführt – ein erfolgreicher Ausweg aus dieser Katastrophe ist ohne eine Lockerung der Sanktionen unmöglich. Länder der Region, allen voran Saudi-Arabien, die Türkei und Katar, stehen bereit, um Investitionen, Erdöl, Elektrizität und Finanzmittel bereitzustellen – doch die US-Sanktionen stehen dem im Wege.

Die historische Gelegenheit, die sich aus dem Sturz Assads ergibt, erfordert die Abkehr von kurzfristigen taktischen Ansätzen und die Annahme einer langfristigen Perspektive, die auf Stabilität in Syrien und der gesamten Region abzielt. Am 8. Dezember bestand die Übergangsverwaltung in Damaskus ausschließlich aus HTS-Mitgliedern. Drei Monate später hatte sich einiges verändert: Es wurde ein nationaler Dialog samt Konferenz abgehalten; breit aufgestellte Ausschüsse wurden zur Ausarbeitung einer verfassungsgebenden Erklärung eingerichtet; und eine Übergangsregierung wurde gebildet, die sowohl ministerielle Repräsentation als auch technokratische Führung in Syrien erheblich erweiterte. Diese Entwicklung manifestierte sich darin, dass nur 4 der 23 Minister HTS-Mitglieder waren. Mehr als die Hälfte der neuen Kabinettsmitglieder verfügte über akademische Abschlüsse und berufliche Erfahrungen aus Europa oder den Vereinigten Staaten. Insgesamt deutete dies klar auf eine Verschiebung hin zu einer tatsächlich technokratischen Regierungsführung.

Trotzdem bestehen gewisse Instabilitäten fort. Tief verwurzelte sozio-politische und konfessionelle Spannungen bleiben ein ernstzunehmendes Problem; allerdings war der Ausbruch von Gewalt am 7. und 8. März 2025 nur von kurzer Dauer. Eine Regierungskommission wurde eingesetzt, um Verantwortlichkeiten für diese Vorfälle zu untersuchen. Unterdessen bestehen strukturelle Herausforderungen wie Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR), der Umgang mit ausländischen Kämpfern, die anhaltende Bedrohung durch den IS sowie der bewaffnete Widerstand alawitischer Gruppen weiterhin fort. Dennoch bleibt der fragile Übergangsprozess die beste Hoffnung auf einen schrittweisen Weg zur Stabilität.

Die Vereinigten Staaten und die NATO stehen vor einer klaren Entscheidung: Entweder sie beteiligen sich am syrischen Übergangsprozess und unterstützen ihn unter Bedingungen – mit der Erwartung, dass er seine Kontrolle konsolidiert und seine Repräsentation weiter ausbaut – oder sie isolieren diesen Prozess, um eine alternative Lösung zu fördern. Beide Optionen sind mit Risiken verbunden, aber während die zweite garantiert Instabilität mit sich bringt, zielt die erste darauf ab, genau diese zu vermeiden. Präsident Trumps Rede im Mai 2025 in Saudi-Arabien, in der er die Absicht verkündete, sämtliche Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, war ein deutliches Signal dafür, dass strategische Überlegungen wieder ins Zentrum der US-Syrienpolitik rücken. Die Aussagen von Außenminister Marco Rubio vor dem Kongress untermauerten diesen Kurswechsel: Rubio warnte, dass Syrien in einen neuen Bürgerkrieg abrutschen könnte, sollten die US-Sanktionen nicht aufgehoben werden. Der entscheidende Faktor ist dabei die Zeit: Wie schnell können Exekutivbefugnisse wirksame Ausnahmeregelungen durchsetzen, um die Sanktionen gegen Syriens Wirtschaft tatsächlich zu lockern? Die Entscheidung der Europäischen Union vom 20. Mai, alle Sanktionen aufzuheben, zeigt, dass ein rascher Fortschritt möglich ist. Sollten US-Diplomaten nach Damaskus zurückkehren, könnte Syrien den Weg der Erholung mit neuer Zuversicht beschreiten.

In der Zwischenzeit spielte das US-Zentralkommando (CENTCOM) weiterhin eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) und Damaskus und überzeugte die SDF letztlich, das am 11. März unterzeichnete Rahmenabkommen anzunehmen. Seit Mitte Dezember 2024 umfassen die Kontakte von CENTCOM auch direkte Gespräche mit Ahmad al-Sharaa sowie Kommunikationskanäle mit dem Verteidigungs- und dem Innenministerium. Über diese Kanäle werden Anti-IS-Operationen koordiniert, Konflikte verhindert und strategische Planungen abgestimmt. Seit Januar 2024 hat die Übergangsregierung mit Hilfe US-amerikanischer Geheimdienstinformationen mindestens acht IS-Anschlagspläne vereitelt. Auch der Anstieg von US-Drohnenangriffen im Februar 2025 gegen ehemalige al-Qaida-Kämpfer im Nordwesten Syriens war nahezu sicher ein Ergebnis dieses nachrichtendienstlichen Austauschs.

Auch wenn sich die USA fest vorgenommen haben, ihre militärischen und strategischen Engagements im Nahen Osten zu minimieren, und sich die NATO zunehmend auf Sicherheitsfragen in Europa konzentriert, darf die Chance, einen der kompliziertesten und instabilsten Konfliktherde der jüngeren Geschichte zu stabilisieren, nicht außer Acht gelassen werden. Trotz der Risiken und vieler Unbekannter sollte eine Syrien-Strategie in erster Linie darauf abzielen, eine stabile und kompetente Zentralregierung aufzubauen, die mit ihren Nachbarn kooperieren und innere Herausforderungen kollektiv bewältigen kann. Europa und die Länder des Nahen Ostens haben diesen Kurs bereits eingeschlagen – die USA sollten ihnen folgen. Sollte sich die Trump-Regierung entschlossen für diesen Weg des Engagements entscheiden, steigen die Chancen auf Fortschritte in Richtung Stabilität in Syrien erheblich.

*Charles Lister ist Senior Fellow und Direktor der Syria Initiative am Middle East Institute. Auf X finden Sie ihn unter @Charles_Lister.

Quelle: https://www.atlanticcouncil.org/content-series/ac-turkey-defense-journal/in-syrias-fragile-transition-theres-a-glimmer-of-a-more-stable-middle-east/