Solange Gaza marschiert, weigert es sich zu fallen

Jetzt, da der Völkermord mit voller Gewalt von Neuem begonnen hat, gehen die Menschen wieder ziellos auf den Straßen umher. Aber diesmal fürchten sie nicht den Tod. Sie fürchten das Leben – ein Leben, das längst kein „Leben“ mehr ist, sondern ein gnadenloser Abstieg in die Hölle. Und doch marschieren sie weiter. Kein Auto, kein Bus, kein Treibstoff – nur der Wille, voranzukommen.
Mai 29, 2025
image_print

Vor dem Völkermord war das Gehen in Gaza ein Akt der Freiheit; ein einfaches, tröstliches Vergnügen.
Die Straßen waren lebendig – erfüllt von Bewegung, Lachen und Gesprächen. Ich kannte jeden Weg auswendig, jede Ecke war mir vertraut. Ich hatte keine Angst, mich zu verlaufen: Die Straßen Gazas führten mich immer nach Hause.

Jetzt ist das Gehen nicht mehr heilend, sondern schmerzhaft. Die Wege, auf denen einst Schüler, Arbeiter und Familien ihre Spuren hinterließen, liegen nun unter Trümmern begraben. Die Orte, die ich täglich passierte – Geschäfte, Schulen, Häuser – sind zerstört. Zurück bleibt eine unkenntliche und erdrückende Szenerie der Verwüstung.

In Gaza zu gehen bedeutet heute nicht mehr eine vertraute Umarmung, sondern die direkte Konfrontation mit Verlust.

Die Straßen sind nicht nur mit Schutt einstürzender Gebäude übersät, sie sind auch zu offenen Müllhalden geworden, auf denen ungekehrte Abfälle liegen. Die kommunalen Dienstleistungen in Gaza sind zusammengebrochen. Die Müllabfuhr – sofern noch vorhanden – wurde entweder zerstört oder kann aufgrund von Treibstoffmangel nicht fahren.

An jeder Straßenecke türmen sich Müllberge, die in der Sonne verrotten und einen unerträglichen Geruch verbreiten. Aus diesen Abfällen steigen Schwärme von Mücken auf, die unter der ohnehin schon durch Hunger und Mangelernährung geschwächten Bevölkerung Krankheiten verbreiten. Infektionen breiten sich schnell aus, doch es gibt weder Medikamente noch Hilfe, noch Wege, diesen Teufelskreis der Krankheiten zu durchbrechen.

Früher sah ich beim Gehen die Händler, die ihre Ladenfronten fegten, und Kinder, die mit Schulranzen auf dem Rücken herumrannten. Jetzt gehe ich vorsichtig und springe über die Müllhaufen, die einst Überreste einer blühenden Stadt waren.

Die Menschen Gazas, die bereits durch Hunger und Krieg erschöpft sind, versuchen Tag für Tag mit ihren immer schwächer werdenden Körpern, in dieser verfallenden Landschaft ihren Weg zu finden.

Schwarze Sohlen

Beim Gehen achte ich auf die Füße der Menschen um mich herum. Viele laufen barfuß – ihre Füße erzählen schmerzvolle Geschichten, die Sohlen sind von Schmutz dunkel verfärbt.
Diejenigen, die noch Schuhe haben, tragen sie, bis sie zu dünnen Stoffschichten zerfallen und kaum noch zusammenhalten. Neue Schuhe zu besitzen ist inzwischen ein Luxus; die Menschen benutzen das, was sie haben, bis es zerreißt.

In Gaza zu gehen ist heute nicht nur emotional, sondern auch körperlich schmerzhaft. Jeder Schritt ist ein Kampf gegen Müdigkeit, Hunger und Wunden. Die Straßen sind gefüllt mit Menschen, die mit geschwächten Körpern langsam vorankommen – ihre Augen spiegeln den Preis des Überlebens wider.

Ich gehe an einer Tikiyeh, einer Suppenküche, vorbei; Kinder stehen in endlosen Schlangen für eine winzige Mahlzeit. Diese Kinder rannten früher morgens zur Schule, lachten und spielten mit ihren Freunden. Jetzt stehen sie still da; ihre Körper sind zerbrechlich, ihre Augen leer.

Der Hunger hat ihre Kindheit geraubt und ihnen nur eine Existenz des Wartens hinterlassen: Warten auf Essen, auf Wasser, auf das Ende ihres Leids.

Weiter vorne gibt es eine weitere Schlange an einer Wasserstelle. Da kein Treibstoff da ist, um die Pumpen zu betreiben, ist sauberes Wasser äußerst knapp. Die Menschen tragen leere Flaschen, Krüge und Eimer; sie versuchen, alles, was sie finden, zu füllen.

Familien teilen das Wasser sorgsam, denn sie wissen nicht, wann sie wieder Wasser finden werden. Die Dürre Gazas betrifft nicht nur das Wasser, sondern auch das Recht auf ein Leben ohne Betteln für die grundlegendsten Bedürfnisse – einen Durst nach Würde.

Noch Stehend

Zwischen der Zerstörung sehe ich noch einige Häuser stehen – aber nur teilweise. Die Wände sind gerissen, Dächer eingestürzt, Fenster zerborsten.
Familien ohne einen anderen Ort versuchen, ihre zerstörten Häuser wieder bewohnbar zu machen. Sie hängen Stoffe und alte Kleidungsstücke über die großen Löcher in den Wänden – in der Hoffnung, etwas Privatsphäre und ein Gefühl von Schutz zu schaffen. Diese provisorischen Decken wehen im Wind und bilden eine fragile Barriere gegen die Außenwelt.

Früher waren diese Häuser voller Wärme; der Duft hausgemachter Speisen, die Geräusche spielender Kinder und die Ruhe familiärer Zusammenkünfte erfüllten diese Räume. Jetzt herrschen Kälte und Ruinen; die Bewohner leben in ständiger Angst, dass ein nächster Angriff die Mauern komplett zerstören könnte.

Ich gehe weiter, und mein Weg führt mich zur ägyptisch-palästinensischen Grenze in Rafah. Einst symbolisierte sie die Verbindung zur Außenwelt, ein Tor zur Sicherheit. Heute ist sie eine Sackgasse. Die Grenze, die auf Anweisung Israels geschlossen wurde, verurteilt 2,5 Millionen Menschen zu einem Gefängnis unter freiem Himmel.

Seit Anfang Mai 2024, als Israel die Kontrolle über den Grenzübergang Rafah übernahm, wird die Einfuhr von Medikamenten, Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Gütern verweigert.
Kranken mit dringendem medizinischem Bedarf wird das Recht verweigert, diesen Ort zu verlassen. Studierende, die Stipendien im Ausland erhalten haben, sehen ihre Träume entgleiten. Familien, die ohnehin alles verloren haben, wird gesagt, dass sie jenseits dieser Grenzen keinen Zufluchtsort finden werden.

Das ist eine kollektive Bestrafung: eine vorsätzliche Grausamkeit, die eine ganze Bevölkerung zum Überlebenskampf verdammt.

Früher habe ich nie an die Grenze gedacht. Es gab keinen Grund dazu. Das Leben in Gaza war schwer, aber es gab Bewegung, eine Möglichkeit. Jetzt erinnert jeder meiner Schritte daran, dass wir gefangen sind. Die Straßen führen nicht zur Freiheit, sondern zu mehr Schmerz.

Sie Geht Noch Immer

Der Waffenstillstand war nur eine Illusion. Die Bomben schweigen vielleicht für einen Moment, doch der Schmerz hört niemals auf.
Die Straßen sind immer noch voller Zerstörung, die Märkte mit leeren Regalen, und die Krankenhäuser sind überfüllt mit unbehandelbaren Patienten.
Diejenigen, die in den Süden flohen, in der Hoffnung auf Sicherheit, fanden bei ihrer Rückkehr dieselben Zelte, denselben Hunger und dieselbe Hilflosigkeit vor.

Obwohl Hilfslieferungen zeitweise durchgelassen werden, sind die Preise unvorstellbar hoch. Menschen, die seit über einem Jahr arbeitslos sind, können die verdoppelten Lebensmittelpreise kaum bezahlen.
Es gibt keinen Wiederaufbau, keine Heilung, keine Rückkehr zur Normalität. Der Waffenstillstand hatte nie das Ziel, Frieden zu bringen – er war nur ein kurzer Atemzug vor dem nächsten Angriff.

Jetzt, da der Völkermord mit voller Härte neu begonnen hat, wandern die Menschen erneut ziellos durch die Straßen. Aber diesmal fürchten sie nicht den Tod. Sie fürchten das Leben – ein Leben, das kein „Leben“ mehr ist, sondern ein gnadenloser Abstieg in die Hölle.

Trotzdem gehen sie weiter. Kein Auto, kein Bus, kein Treibstoff – nur der Wille, voranzukommen.
Frauen in Kopftüchern und langen traditionellen Kleidern gehen mit Spuren von Trauer im Gesicht – aber sie lächeln trotzdem.
Kinder tragen Wasserkrüge auf ihren zarten Schultern; ihre Füße sind mit Staub bedeckt, doch sie gehen weiter.

Ich sehe Männer, die alles verloren haben – ihre Familien, ihre Häuser, ihre Existenzgrundlagen – aber sie machen trotzdem einen weiteren Schritt.

Vor dem Völkermord zu gehen war Teil der Heilung. Jetzt ist es das direkte Konfrontieren des Schmerzes.

Doch solange Gaza weitergeht, weigert es sich zu fallen. Selbst zwischen den Trümmern geht Gaza weiter.

Und solange wir weitergehen, sind wir noch hier.

*Asmaa Abdu arbeitet als Projektkoordinatorin bei der Hilfsorganisation Sameer Project.

Quelle: https://electronicintifada.net/content/long-gaza-walks-it-refuses-fall/50692