Im vergangenen August wurde von Wladimir Putin ein Dekretunterzeichnet, das Westlern, die „den neoliberalen Idealen entkommenund in ein Russland ziehen wollen, in dem traditionelle Wertevorherrschen“, das Recht auf eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnisgewährt.
Während Russland seinen eigenen Bürgern, die das Land aus der Perspektive der neoliberalen Welt betrachten und diese verbreiten, verschiedene Sanktionen auferlegt – bis hin zu Gefängnisstrafen –, lässtsich im Hintergrund dieses interessanten Schritts, den Russland mit diesem Dekret gemacht hat, auch die Stimmung eines neo-sowjetischenTraums erkennen.
Hätte es Anfang der 2000er Jahre Putin nicht gegeben, wäre der kommunistische Flügel höchstwahrscheinlich zumindest ein mächtigerKoalitionspartner geworden. Doch Putin selbst hat – wie er es ausdrückte– die Nostalgie für den Kommunismus als „eine Dummheit, die man zwarvermissen, aber nicht zurückhaben will“ in die verstaubten Regale des Kremls verbannt. Deshalb braucht Russland, das sich gegenüber dem Westen fast wie in einem neuen „Kalten Krieg“ positioniert, ein neues„Schlagwort“.
Während der Begriff „tiefer Staat“, der auf globaler Ebene oft mit der Türkei in Verbindung gebracht wird, schon lange als Thema diskutiert wird und mit Trump beinahe zu einem Schreckgespenst wurde, hat er in Russland seine Entsprechung gefunden – und zwar unter dem allgemeinenBegriff des „Neoliberalismus“. Russland ist das einzige Land, das sich im Bereich des wirtschaftlichen Modells – einer Ideologie, von der selbstChina, wie es scheint, von der Faszination der neoliberalen Politik mitgerissen wurde – bis zu Trump bemühte, den Diskurs des Kampfesgegen den Neoliberalismus als ideologische Waffe zu nutzen.
Russlands gleichzeitige Ost-West-Identitätssuche mit der Türkei wird in dieser Konjunktur, in der das Land weitgehend auf Kriegswirtschaftumgestellt hat, noch komplizierter. Einerseits besteht Russland darauf, eine multipolare Welt zu fordern und eine Führungsrolle im Kampf gegenden Neoliberalismus einzunehmen, während es andererseitsbeispielsweise Slogans wie „Die Welt ist größer als fünf“ ausrufen kann. Gleichzeitig vertieft es jedoch durch seine Orientierung an der iranischenGeopolitik anstelle von Allianzen mit der Hauptachse der islamischen WeltGräben – sowohl zu seinen muslimischen Bürgern als auch zu den muslimischen Nachbarregionen.
Der Journalist Andrey Winokurow von der Zeitung Kommersant griffRusslands Suche nach einer Identität unter der Überschrift „Auf der Suchenach der richtigen Zivilisation“ auf. Die Frage „Wie kann Russland gerettetwerden?“, die der Philosoph Alexander Solschenizyn – ein Träger des staatlichen Preises, den Putin ihm verlieh, und jemand, von dem Putin erklärte, er habe sich von ihm inspirieren lassen – 1990 in seinemgleichnamigen Buch stellte, steht auch heute noch im Mittelpunkt von Russlands Identitätssuche. Solschenizyn schrieb in seinem Buch, dassRussland sich von den „nicht-slawischen Republiken“ lösen müsse. Heuteführt Russland Krieg gegen die Ukraine, die vielleicht das „urtypischsteSlawenvolk“ ist – und zwar als Teil eines „Krieges gegen den Westen“. Das Modell Solschenizyns war auf das Glück eines reinen slawischen Volkesausgerichtet, das in 40 zentralisierten Städten lebte und von der populären westlichen Kultur (heute würde man sagen: vom Neoliberalismus) ferngehalten wurde. Wir wissen, dass Putin den Nobelpreisträger und seine Ideen genau verfolgt. Auch Trump scheint von diesem Modell stark beeinflusst zu sein.
Auf der Suche nach der richtigen Zivilisation
Seit zwei Jahren ist meine berufliche Aufmerksamkeit nicht nur auf einen ideologischen, sondern in gewisser Hinsicht auch auf einen philosophischen Prozess gerichtet: den Versuch des Kremls, das Konzepteines Russland als eigenständige Zivilisation zu schaffen. Dieser Prozessbegann kurz nach der Einleitung der „Spezialoperation“ (SMO), doch die Entwürfe für dieses Projekt existierten offensichtlich schon früher. Der scharfe und gegenseitige Bruch Russlands mit dem Westen hat sie lediglich aktualisiert.
Unsere Behörden benötigten eine ideologische Rechtfertigung für dasGeschehen, um ihre historische Richtigkeit zu beweisen und aktuelleEreignisse darauf zu stützen. Meiner Meinung nach brauchten die Schöpfer dieses Konzepts das Gefühl von Berechtigung mindestensebenso sehr wie diejenigen, auf die dessen „philosophische und ideologische“ Wirkungen abzielen. Zudem war es notwendig, den Bürgern– insbesondere der Jugend, sowohl der gegenwärtigen als auch der künftigen – zu erklären, für welche höheren Ziele sie die durch die genannte Spaltung verursachten Schwierigkeiten ertragen. Schließlichstrebt der russische Staat schon lange – und insbesondere in den letztenzwei Jahren – danach, sich als eigenständige und autarke Entität zu stärken und wahrzunehmen. Das bedeutet, dass wir ein Konzeptbrauchten, das diesen Weg rechtfertigt. Die klassischen westlichen Ideeneignen sich dafür weniger, da sie meist mit Gesellschaftsvertrag und Menschenrechten verbunden sind. Wir hingegen benötigten eine Fokussierung auf staatliche Zentralität.
Analysten, die mit dem Kreml zusammenarbeiten, freuten sich darüber, mit der Lösung dieses Problems zu beginnen. Die besten Experten wurden in die öffentliche Arena des ideologischen Kampfes geschickt, ebenso wie langjährige Verteidiger der russischen Zivilisation, beispielsweise der Philosoph Alexander Dugin. Doch in der Realität stellte sich heraus, dassalles weitaus komplizierter war. Das Konzept eines Russland alseigenständige Zivilisation ist in der Gesellschaft nicht weit verbreitet.
In öffentlichen Debatten zu diesem Thema gibt es nur wenigegrundlegende Thesen, die unsere Einzigartigkeit als Zivilisation betonen. Danach gleitet die Diskussion oft in eine einfache Kritik am Westen ab. Wie Alexander Dugin beklagte, als er eine meiner Fragen beantwortete, wechseln russische Denker, sobald sie über dieses Thema zu sprechenbeginnen, in die Sprache westlicher Begriffe. Das Problem liegt darin, dassder gewählte Weg zur Erfüllung dieser ideologischen Aufgabe von Anfangan innere Mängel aufwies. Die russische Gesellschaft ist äußerst vielfältig– sie umfasst sowohl Befürworter westlicher als auch slawophilerAnsichten sowie Vertreter linker und rechter Ideen.
Darüber hinaus stelle ich bei der Beobachtung der Aussagen der Verfechter dieses Konzepts fest, dass die Teilnehmer an diesenDiskussionen, gelinde gesagt, sehr unterschiedliche Meinungen vertreten. Es ist verständlich, dass es für sie schwierig ist, zu einem einheitlichenParadigma zu gelangen, das alles erklärt, und dies dann auch ihrem Publikum zu vermitteln. Bedeutet das, dass es unmöglich ist, die Gesellschaft auf einer philosophisch–ideologischen Ebene zu vereinen? Ichglaube das nicht. Das Schwierige ist lediglich, den Ansatz zu ändern. Natürlich gibt es die Erfahrung aus der Sowjetzeit, als versucht wurde, eine einzig wahre Sichtweise zu etablieren – aber hat uns das zu etwasGutem geführt?
Sollen die Westler mit den Slawophilen streiten, die Rechten mit den Linken; soll einer Peter den Großen kritisieren, während ein andererKatharina die Große lobt, oder genau umgekehrt. Sollen manche sogar ausLenins Werken zitieren. Führt das nicht vielleicht plötzlich dazu, dass in diesen Debatten neue, brillante Konzepte entstehen? Und wird nicht jeder, unabhängig von seiner Weltanschauung, erkennen, dass er in Russland einen Platz hat?
Schließlich gibt es im zivilisatorischen Ansatz an sich nichts Falsches. Große Denker wie Nikolai Danilewski haben sich ihm verschrieben. Doch all diese Konzepte sind gerade deshalb wertvoll, weil sie im Raum der Debatte entstanden sind – nicht als einzig gültige Wahrheit, sondern alsinteressante Perspektiven, die im Kontext anderer untersucht werdenkönnen. Und nun ein wenig über die Staatszentriertheit. Dies ist einer der wenigen Thesen, die die Befürworter dieses Konzepts mehr oder wenigerselbstbewusst vertreten: Der russische Staat hat in den Augen seinerBürger einen eigenständigen Wert. Ich verstehe die Ursprünge dieserThese ungefähr und beobachte selbst ein hohes Maß an Paternalismus in der russischen Gesellschaft: Bürger (und sogar junge Menschen) nehmenden Staat – grob gesagt – als eine Art Vaterfigur wahr. Doch hier gibt es einen entscheidenden interpretativen Wendepunkt. In einer glücklichenFamilie läuft es schließlich etwas anders. Kinder und andereFamilienmitglieder wollen nicht, dass ihnen ständig vorgeschrieben wird, was sie zu tun haben. Sie möchten vielmehr, dass man sie so akzeptiert, wie sie sind – mit all ihren Eigenschaften und sogar Eigenheiten. Sie wünschen sich einen fürsorglichen Vater, der sie nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten herumschubst oder versucht, sie zu etwas zu formen, das sie nicht sind. Außerdem, wenn die Staatszentriertheit unsereinziges und zentrales Merkmal ist, bedeutet das, dass alle Bürger im Wesentlichen in zwei Klassen aufgeteilt werden: die Privilegierten, die für den Staat arbeiten, und den Rest, der den Interessen dieser Gruppe dienensoll. Dieses Bild spricht definitiv nicht jeden an. Doch wenn man dieses Konzept ein wenig umdreht, könnte es vielleicht funktionieren.