Der Journalist und Autor Kemal Öztürk war in Syrien und erlebte die ersten Tage der Revolution hautnah mit. Er führte das erste Interview in der türkischen Presse mit dem Revolutionsführer Colani (Ahmed Şara) und wurde Zeuge des überraschenden Besuchs des MİT-Vorsitzenden İbrahim Kalın in Damaskus. Unser Chefredakteur Bekir Gündoğdu führte für den Aximedya-YouTube-Kanal ein ausführliches Gespräch mit Öztürk. In diesem Interview, das als Zeitdokument dient, werden die aktuellen Entwicklungen in Syrien, die erlebten Unterdrückungen und die darauffolgende Freude, die möglichen Auswirkungen der Revolution auf Syrien und die Region sowie das sich wandelnde Profil von HTŞ und Colanithematisiert. Wir präsentieren dieses Interview unseren Lesern:
Bekir Gündoğdu: „Heute haben wir einen besonderen Gast in unseremStudio: den Journalisten und Autor Kemal Öztürk. Kemal Öztürk ist geradeaus Syrien zurückgekehrt und war der erste türkische Journalist, der einInterview mit Colani führte. Weltweit war er der zweite Journalist, dem dies gelang. Wir werden über Öztürks Eindrücke aus Syrien sprechen, über die Gefängnisse, das Assad-Regime, die Freude des Volkes und darüber, was die syrische Revolution bringen wird. Außerdem werden wir über die weiterhin präsenten YPG und die USA in der Region sprechen. LieberKemal Öztürk, vielleicht ist es eine Frage, die man am Ende stellen sollte, aber lassen Sie uns damit beginnen: Wie kam das Interview mit Colanizustande? Wie haben Sie sich getroffen?”
Kemal Öztürk: „Natürlich war er eine Person, hinter der die ganzeWeltpresse her war. Auch ich wollte als Journalist ein Interview mit ihmführen. Über meine Kontakte nahm ich Verbindung zu ihm auf, und man teilte mir mit, dass ein Treffen möglich sei. Ich reiste von Reyhanlı nachSyrien ein und traf in der Lobby eines Hotels auf nahezu alle internationalen Journalisten. Dort waren etwa 35 bis 40 Journalistenversammelt, darunter Vertreter der New York Times, Washington Post, CNBC und vieler anderer Medien. Wir warteten, aber ich konnte mir nichtvorstellen, wie dieses Interview mit so vielen Leuten stattfinden sollte. Nach etwa sieben Stunden Warten in der Lobby kam es nicht zum Interview. Am nächsten Tag bemühte ich mich erneut über meine Kontakte, und schließlich fand das Treffen statt. Ich wartete wieder etwavier bis fünf Stunden, und dieses Mal hatte ich ein persönliches Gespräch. Aufgrund der Sicherheitslage und der Umstände konnte ich ihn nicht vordie Kamera bekommen, obwohl ich für NTV dort war. Dennochbeantwortete er meine Fragen. Ich hatte etwa 30 bis 40 MinutenGelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wir machten Fotos, und somit war ichder zweite Journalist weltweit und der erste in der Türkei, der ein Interviewmit ihm führte.”
Bekir Gündoğdu: „Was sind Ihre Eindrücke von Colani, also mit bürgerlichem Namen Ahmed Şara?”
Kemal Öztürk: „Zunächst fand ich ihn besser vor, als ich erwartet hatte. In der Türkei gibt es seit Jahren ein bestimmtes Bild von HTŞ und ihrenFührern, die als Terrororganisation eingestuft werden. Er trägt einen Anzug, zwar ohne Krawatte, aber dennoch einen Anzug. Ich glaube, daserste Mal, dass er im Anzug zu sehen war, wurde durch mein Interviewfotoverbreitet. Ich sah einen politisch denkenden Menschen, der pragmatischhandeln kann. Nicht wie ein Guerillakämpfer oder Militanter aus einerKonfliktkultur, sondern jemand, der die Welt politisch betrachten kann. Das sehe ich als positiv an. Er ist ein Führer, der die Welt verstehen und die Entwicklungen erkennen kann. Ob er ein Weltführer werden kann, weiß ichnicht; es ist zu früh, das zu sagen. Aber wenn man die letzten zehn Tageder Revolution betrachtet, sind seine Erklärungen äußerst vernünftig und treffend. Die Maßnahmen vor Ort sind sehr positiv und berücksichtigen die Gesellschaft. Aussagen wie “Wir werden niemandem an Leib und Leben schaden, niemandes Arbeit stören, wir werden gemeinsam leben” habendie Menschen sehr beruhigt. Es gab eine Gruppe, die befürchtete, dassHTŞ kommen und uns köpfen würde. Diese Erklärungen haben alle beeindruckt. Solche Aussagen können nur von einem Staatsverstandgeplant werden. Als wir die Ereignisse in der Türkei verfolgten, fragten wiruns, wie das möglich sei. Da muss ein Staatsverstand dahinterstecken, anders sind solche Erklärungen und Maßnahmen nicht möglich.”
Bekir Gündoğdu: „Einige Gruppen führen das auf die USA, Großbritannien oder sogar Israel zurück. Sie tun so, als ob die Türkei nicht im Spiel wäreund alles von äußeren Mächten gesteuert würde.”
Kemal Öztürk: „Ja, tatsächlich gibt es dort einen Staatsverstand, der den Prozess beeinflusst. Aber das ist weder Großbritannien, noch die USA oderIsrael, sondern die Türkei. Ich habe das vor Ort gesehen, im Interview mit Colani und in der Umgebung. Ich habe es bei den türkischen Akteurengesehen.”
Bekir Gündoğdu: „Es wurde viel darüber gesprochen, dass unser MİT-Vorsitzender, Herr İbrahim Kalın, mit dem Auto zur Umayyaden-Moscheegekommen ist. Waren Sie Zeuge davon?”
Kemal Öztürk: „Ja, ich war Zeuge. Die Türkei hat eine Operationdurchgeführt, fast so, als ob sie es der Welt demonstrieren wollte, als obsie es ihr unter die Nase reiben wollte. Sie schickte den MİT-Vorsitzendennach Damaskus, in die Umayyaden-Moschee. Er wurde durch die Straßenvon Damaskus geführt. Es gibt dort den Kasyun-Hügel, den Israel aus sehr kurzer Entfernung angegriffen hat. Sie stiegen auf diesen Hügel und ließenFotos machen. Das bedeutet Folgendes: Ich bin nicht nur in Azaz oderJarablus präsent. Ich bin in Damaskus. Ich bin im Herzen von Damaskus. Und an meiner Seite ist der neue Führer Syriens.
Dieses Bild war auch eine Botschaft an diejenigen, die den Staatssinn in anderen Ländern suchen. Es war ein Signal und eine Fahne an all jene, die immer dachten, dass Syrien nur von anderen Staaten beeinflusst werdenkönne. Die Türkei hat dies operativ durchgeführt und am nächsten Tag auch diplomatisch umgesetzt. Die Türkei war der erste Staat, der die Fahne in der zuvor geschlossenen Botschaft gehisst hat.
Dies sind äußerst gut durchdachte, geplante und berechnete Botschaften. Ich habe die erfolgreichsten Auslandseinsätze der Türkei in den letztenJahren immer als Aserbaidschan betrachtet, wie die Karabach-Operation, oder als Libyen. Aber ich denke, ab jetzt wird dies als Syrien bekannt sein. Die wichtigste und erfolgreichste Auslandsoperation des türkischenStaates ist nun Syrien. Hoffentlich wird sie auch so abgeschlossen.”
Bekir Gündoğdu: „Diese Woche beginnen die Flüge. Der Wiederaufbauund die Erneuerung Syriens werden diskutiert. Welche Position könnte die Türkei Ihrer Meinung nach dabei einnehmen?”
Kemal Öztürk: „Als ich in Aleppo war, sah ich Händler aus Antep, die über ein Hotel verhandelten. Sie wollten dort ein Hotel eröffnen. Wenn wir jetztgeopolitisch denken, stellen wir uns die Karte von Syrien vor. Es gibt eine große Grenze zu Irak. Doch im Irak gibt es eine schiitische Regierung, und aufgrund der Beziehungen zu Iran haben sie schlechte Erfahrungengemacht. Die Schiiten-Milizen hatten große Bewegungsfreiheit, was zu vielBlutvergießen führte. Eine enge Beziehung mit Irak ist daher derzeit nichtmöglich. Es gibt auch die Grenze zum Libanon, aber das Land ist schonzerstört. Gegen Israel können sie sowieso nichts unternehmen. Die Grenzezu Jordanien ist auch vorhanden, aber auch Jordanien hat nicht viel Machtund ist eng mit den USA verbunden. In dieser Zeit war die Beziehungjedoch nicht besonders gut. Bleibt nur noch die Grenze zu Türkei mit 900 km. Geopolitisch gesehen bleibt also nur noch die Türkei. Doch dasWichtigste ist dies: In den letzten 5-6 Jahren, also seit dem Fall von Aleppo, als die Welt das Interesse an Syrien verlor, zog ein großer Teil der Bevölkerung von Aleppo nach Idlib. HTŞ zog ebenfalls nach Idlib und eingroßer Teil ging in die Türkei. Doch in Idlib geschah etwas: HTŞ übernahmdort die Verwaltung. Diese Gruppe, die von der Türkei offiziell alsTerrororganisation eingestuft wurde, verwandelte sich trotz der Bombardierungen durch das Regime und Russland in ein Übungsfeld. Sie betrieben Kommunalverwaltung, bauten Straßen, betrieben Krankenhäuserund etablierten Gesundheitssysteme. Sie sammelten dort wertvolleVerwaltungserfahrungen.”
BG: „Das war also wie eine zehnjährige Ausbildung.”
Kemal Öztürk: „Ja, nach dem Fall von Aleppo verwandelte sich dieser Ort in ein Trainingsgebiet. Und hier war die Türkei. Sie drangen tief und leiseein und veränderten, transformierten alles. Ich war 2013 auch in Syrien, mitten im Krieg. Damals hatte ich viele Themen mit HTŞ- und Al-Nusra-Kämpfern besprochen. Ich gebe Beispiele für ihre Denkweise: Zum Beispiel schossen sie auf diejenigen, die Zigaretten rauchten – in ihrer extremen religiösen Lesart galt das Rauchen als haram. Heute rauchenHTŞ-Kämpfer selbst Zigaretten. Das ist ein ironisches Beispiel. Aber wennman sich die Erklärungen von Colani anschaut, sieht man noch etwasanderes. Es scheint einen tiefgreifenden Wandel in ihrer Denkweisegegeben zu haben. Nach einem blutigen Hintergrund betritt man Städteund nimmt keine Rache. Man führt keine Exekutionen auf den Straßendurch. Er sagt, dass die Kurden die wahren Elemente Syriens sind. Er sagt, dass sie sich nicht in den Glauben anderer einmischen werden. Er sagt, dass wir alle zusammen leben werden und setzt das auch um. Es gibtkeine Plünderungen. Das zeigt, dass sich Colani verändert hat, dass sichHTŞ verändert hat. Zum Beispiel auch die Aussagen des Gouverneurs von Damaskus. Er sagt, es gibt keinen islamischen Staat, und tatsächlichexistiert er auch nicht. Er sagt, wir müssen ein freies Syrien gemeinsamaufbauen. Der Gouverneur von Aleppo sagt Ähnliches. Sie haben eine Ausbildung durchlaufen, wurden beeinflusst und verändert. Und das hat die Türkei ermöglicht, das hat die Türkei erreicht.”
BG: „Wir sehen das syrische Volk, wie es auf den Straßen Freudenfeiernfeiert. Also ein revolutionärer Prozess, der 2011 begann, und Menschen, die seit 12-13 Jahren leiden, aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie haben Todesfälle erlebt. Können diese Wunden geheilt werden? GlaubenSie, dass Syrien in naher Zukunft eines der wertvollsten Länder der Region werden kann?”
Kemal Öztürk: „Zweifellos wird es sehr schwierig für sie. Man kann die Zerstörung vor Ort nicht vollständig begreifen, ohne das syrische Terrainzu sehen. Etwa 6 Millionen Menschen sind aus Syrien geflüchtet. Abermehr als 6 Millionen Menschen sind innerhalb Syriens umgezogen. Zum Beispiel war Afrin früher eine kurdisch dominierte Stadt, heute ist sie eine arabisch dominierte Stadt. Kobane und Ayn al-Arab, die früher von Arabern bevölkert waren, sind heute von Kurden dominiert. Die Demografie ist völlig durcheinander geraten. Sie mussten ihre Häuser und Felder verlassen, die im Krieg zerstört wurden. 6 Millionen Menschenhaben ihren Wohnort gewechselt, und wenn man die 6 Millionen im Ausland hinzuzählt, bewegt sich und verteilt sich die Hälfte der Bevölkerung des Landes – 12 Millionen Menschen. Die Bevölkerungbeträgt 22 Millionen. Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, diese Menschen wieder zusammenzubringen, sie an ihren alten Ortenunterzubringen und ihre ehemaligen Häuser zu finden. Aber was unserstaunen sollte, ist folgendes: Es gibt ein 61 Jahre altes Baath-Regime, einen 14 Jahre andauernden Bürgerkrieg, und trotzdem ist Aleppo in zweiTagen wieder normal geworden. Damaskus war in drei Tagen wiedernormal.“
BG: „Wir sehen die jungen Menschen, die mit Besen und Blumen in den Parks aufräumen und die Straßen fegen.“
Kemal Öztürk: „Ja, das mag symbolisch sein. Aber was mich persönlich am meisten beeindruckt hat, war genau das. Halep, das seit 6-7 Jahren unterder Kontrolle des Regimes war – was ist dort passiert? Halep hat sehr gelitten. Als ich während des Krieges dort war, sah ich die Zerstörung und das große Leid. Kann man innerhalb von zwei Tagen wieder ins normale Leben zurückkehren? Die Stadtverwaltung arbeitet, die Ampelnfunktionieren, es gibt Verkehrspolizisten. Es ist wirklich seltsam. Und auchDamaskus ist ähnlich. Es ist die Festung des Regimes, das Zentrum, der Ort, an dem alle Investitionen gemacht wurden. Innerhalb von drei Tagenöffneten die Märkte. Die Leute gingen wieder ihren normalen Tätigkeitennach. Auf den Straßen waren junge Menschen, Kinder – alles fröhlich und lebendig. Ich fragte besonders Colani: ‚Wie konnte das so schnellgeschehen? Wie habt ihr das gemacht? Und wie habt ihr Damaskus so schnell erobert?‘ Zuerst einmal hatte HTŞ nicht erwartet, dass sie Damaskus so schnell einnehmen würden. Damaskus war nicht einmal in ihren Zielen.“
BG: „Wirklich?“
Kemal Öztürk: „Ja, das war nicht Teil ihres Plans. Ich denke nicht, dassHalep überhaupt ein Ziel war. Sie wollten die ländlichen Gebiete einnehmen, die Umgebung erobern und so weiter. Zu dieser Zeit gab es das Regime eigentlich nicht mehr. Das bedeutet, dass sie, als sie sich in Richtung Halep bewegten, sahen, dass die Armee des Regimes tatsächlichzusammengebrochen war. Sie sahen das auf dem Schlachtfeld. Sie warenalso nicht mehr da. Sie sahen die Verrottung vor Ort. Plötzlich fiel es, plötzlich fiel es. ‚Lass uns nach Homs gehen, nach Aleppo, nach Hama.‘ Und dann, anstatt alles andere, sagte jemand: ‚Geht nach Damaskus.‘ Das Ganze entwickelte sich spontan. Ich bin mir absolut sicher. Damaskus war nicht Teil ihres Plans. Als sie die Verrottung und das Elend des Regimesauf dem Schlachtfeld sahen, beschlossen sie, Damaskus zu erobern. Colani sagte mir, dass das Volk es satt hatte. Das Volk hatte genug von diesem Regime. Sie hatten so viel Leid ertragen und so großeSchwierigkeiten durchgemacht, dass sie auf uns warteten. Ich habe erstverstanden, wie sehr das Volk gelitten hat, als ich in Damaskus war. Ichhabe schreckliche Geschichten gehört. Über das Geheimdienstregime, dasRegime der Angst.“
BG: „Sie sind also auch ins Sednaya-Gefängnis gegangen?“
Kemal Öztürk: „Großes Leid, unbeschreibliches Leid. Das Sednaya-Gefängnis allein ist ein Ort, der die Angst, die dieses Regime erzeugt hat, beschreiben kann.“
BG: „Wir haben auf sozialen Medien und im Fernsehen Pressmaschinengesehen, Säuren gesehen. Einige behaupten, dass das nicht stimmt, dasses sich um Spekulationen handelt. Was ist Ihre Meinung dazu?“
Kemal Öztürk: „Ich habe mit Menschen gesprochen, die im Sednaya-Gefängnis in Damaskus waren, 10, 15 Jahre. Stellen Sie sich einen Satzvor: In diesem Gefängnis kam ein Oberst und sagte, ‚Ihr werdet mir dieses Mädchen geben‘. Und als wir es nicht gaben, nahmen sie es gewaltsammit. Ein Vater verlangte seine Tochter. Sie wurde gewaltsam in dasGefängnis gebracht. Es war nicht für die Ehe. Sie wurde monatelangvergewaltigt. Systematisch vergewaltigt. Und dann verschwand dasMädchen. Die meisten der Überlebenden, die aus Sednaya herauskamen, waren Männer, keine Frauen. Das fällt auf. Sie erlitten so systematischeVergewaltigungen, dass sie sie töteten, damit niemand darüber spricht, und sie in die Massengräber dort begruben. Ein Überlebender sagte mir zum Beispiel: ‚Wir heben unseren Kopf nicht, wenn wir gehen.‘ Warum? ‚Weil wir möglicherweise auf Sicherheitskräfte treffen und sie uns einfachmitnehmen, wenn sie unser Aussehen oder unseren Blick nicht mögen.‘ Wir sprechen nicht mit erhobenem Kopf, sagte er. Er erzählte auch, dasssie nicht in die Moscheen gingen, zum Beispiel in die Umayyaden-Moschee. Sie wurden von den Schiiten und Alawiten dazu gedrängt, zu kommen, aber sie wussten, dass sie dort verfolgt und überwacht würden, wenn sie beteten. Sie gingen nicht zum Gebet. In Damaskus wurde Brotvor der Revolution rationiert. Können Sie sich das vorstellen? In Syrien gabes Werbung darüber, wie schön das Leben und die Restaurants in der Türkei sind.“
BG: „Der Staat verteilt kostenlos Brot, sagten sie oder so ähnlich.”
Kemal Öztürk: „Ja, ich habe die Rationen gesehen. Ich habe das Brot– und Benzinrationierungssystem gesehen. Das Regime hat den Leuten wirklichextreme Entbehrungen auferlegt. Diese Menschen in Damaskus lebten unter solchen Bedingungen. All das führte zu einer großen Frustration, zu einer tiefen Erschöpfung, sodass die Bevölkerung in die Denkweise verfiel: ‚Es ist egal, wer kommt, hauptsache das Regime geht.‘“
BG: „Ich habe ein Interview mit einem Mädchen gesehen, sie sagt: ‚Habtihr keine Angst vor HTS?‘ Sie antwortet: ‚Kein System, keine Ordnung kann schlimmer sein als das, was wir hatten. Es kann nur besser werden.‘ So verzweifelt sind sie, oder?“
Kemal Öztürk: „Das ist die perfekte Beschreibung eines ‚Regimes der Angst‘.“
BG: „Neben der Angst gab es auch viele Drogenfabriken. Selbst der Keller von Assads Bruder wurde als Drogenlabor genutzt. Eigentlich gab es eherein Drogenkartell als einen Staat. Sie vergiften die Nachbarländer. In der Türkei zum Beispiel wurden unsere Kinder durch Drogen vergiftet. Warumkann der Staat dagegen nicht kämpfen? Warum kann er das nichtstoppen? Es scheint, dass Assad die Drogen über die PKK nach Türkei geschickt hat. Hier wurden sie wie Brot verkauft. Haben Sie irgendwelcheEindrücke oder Beobachtungen diesbezüglich?“
Kemal Öztürk: „Ich bin nicht an den Ort gegangen, wo die Drogenproduziert wurden. Aber jeder weiß, dass die Familie Assad und der Kreisum sie herum wie eine mafiaartige Bande agiert haben. Sie hatten die Macht, mit Waffengewalt überall hinzugehen und zu tun, was sie wollten. Was mir die Überlebenden erzählt haben, war, dass sie ihre Waffe aus der Hüfte nahmen und sie einem Mann ins Gesicht hielten. Sie nahmen ihmeinfach das Restaurant weg. Solche Geschichten habe ich gehört.“
BG: „Es gab auch Entführungen von Geschäftsleuten und späterenEnteignungen von Assads Besitz.“
Kemal Öztürk: „Ja, sie nahmen alles. Und es gab keine Gesetze. Sie töteten, sie zerstörten. Stellen Sie sich vor, wir sprechen von einem Ort, an dem 100.000 Menschen getötet und in Massengräber geworfen wurden.“
BG: „Man spricht von 100.000. Aber was ist mit den anderenGefängnissen? Wie viele solcher Gefängnisse gibt es in Syrien?“
Kemal Öztürk: „In Aleppo, Latakia und Damaskus gibt es großeGefängnisse, in denen solche systematischen Folterungen und Exekutionen durchgeführt wurden. Aber wie viele es insgesamt gibt, weißich nicht.“
BG: „Sie haben die Umayyaden-Moschee besucht. Eine Moschee, die früher ein politisches Streitthema war. Was haben Sie gefühlt, als Sie die Moschee betreten haben? Und außerdem, haben Sie mit Herrn Ibrahim Kalın, unserem MIT-Chef, gesprochen?“
Kemal Öztürk: „Wegen der Diskussionen über das Freitagsgebet und die Bemerkungen, die darüber gemacht wurden, war ich oft Ziel von Kritik. Und ich wurde auch oft wegen der syrischen Politik kritisiert, so dass ichimmer wieder diesen Satz hörte. Wenn es so viele Polemiken gab, war mein erster Reflex, in die Umayyaden-Moschee zu gehen, das Dankgebetzu verrichten und ein Foto zu teilen. Von allen Fotos, die ich aus Syrien geteilt habe, war dieses am meisten gesehen, kommentiert und gefeiert. Eineinhalb Millionen Menschen haben darauf reagiert. Zehn Jahre langhatten sie uns wegen des ‚Freitagsgebets in der Umayyaden-Moschee‘ kritisiert. Und das wollte ich damit sagen. Auch Herr Ibrahim Kalın hat dasgleiche Gefühl gehabt, die AKP und auch der Präsident sind in gleicherWeise betroffen. Sie wurden viel mehr angegriffen und kritisiert. Jetztwollte Ibrahim Kalın mit seinem Besuch in der Umayyaden-Moschee und dem Teilen eines Fotos sagen: ‚Ihr habt uns zehn Jahre lang beleidigt, abernun hat das, was wir gesagt haben, endlich wahr gemacht‘. Das war der Grund, warum er das Foto dort gemacht hat.“
BG: „Haben Sie gesehen, wie er mit diesem berühmten Fahrzeug kam? Waren Sie Zeuge?”
Kemal Öztürk: „Ja, ich habe das gesehen. Es war für mich ein sehr interessantes Bild. Ich sah Ibrahim Kalın in einem gepanzerten Fahrzeug, und ich war überrascht, dass er vorne saß. Normalerweise sitzt man hinten im Fahrzeug. Aber als ich den Fahrer sah, wurde mir klar, warum er vornesaß. Colani fuhr das Auto. Natürlich erkannte ich ihn, als ich ihn sah. Alssie aus dem Auto stiegen, war ich noch mehr überrascht. Es gibt eine symbolische Bedeutung dahinter. Es sendet starke Botschaften. Der CIA-Chef in den USA, Mossad, Großbritannien und Russland verstanden, was Ibrahim Kalın damit ausdrücken wollte. Aber in der Türkei versteht dasniemand. Ja, hier wird immer noch gefragt: ‚Warum bist du dorthingegangen?‘ Ein Teil der Leute versteht einfach nicht, was hier passiert. ‚HTS war eine Terrororganisation, warum hast du dich mit ihrem Anführergetroffen? Warum hast du ein Foto gepostet, während du gebetet hast? Warum gehst du nach Damaskus?‘ Sie sind so weit von der Realitätentfernt. Sie haben die veränderte Soziologie nicht verstanden. Sie habendie geänderte Geopolitik nicht erkannt. Und ihre Argumente haben nichtsmit der Realität zu tun. Sie sind völlig unbegründet und haben nichts mit der tatsächlichen Lage vor Ort zu tun.“
BG: „Vor 100 Jahren haben die Imperialisten ein Stück unseres Landes, Syrien, von uns abgetrennt. Haben sie nicht in 100 Jahren all unsereBindungen zu diesem Land zerstört? Das ist jetzt ein anderer Staat. Es wurde von uns getrennt, aber es hat nichts mehr mit uns zu tun. Sie sollen nach Syrien gehen, weg von uns. Der Orient ist ein Sumpf… Jahrelangwurde diese Meinung dem Land eingeimpft. Dabei, noch vor kurzem, wennwir von Aleppo oder Damaskus sprachen, war es, als ob wir von Istanbul oder Bursa sprachen, vor 100 Jahren. Wenn diese Städte erwähnt wurden, kamen uns Städte wie Ankara, Gaziantep oder Maraş in den Sinn. Sie waren auch ein Teil dieser Region. Sie haben uns aus diesem Kontextherausgerissen. Sie haben die geistige Entfremdung, die sie selbsterlebten, über Jahre hinweg der gesamten Gesellschaft aufgezwungen, oder?”
Kemal Öztürk: „Ja. Die Geographie hat sich in den Köpfen verändert. Zum Beispiel, was ist weiter entfernt: Ein Flug von Istanbul nach Beirut oder von Istanbul nach Erzurum? Jeder würde sagen, dass Beirut weiter entfernt ist. Aber in Wirklichkeit ist Beirut näher. Wenn man fragt, wie lange es dauert, von Istanbul nach Damaskus zu fliegen, denkt jeder an sieben oder achtStunden. In Wirklichkeit dauert es eineinhalb Stunden. Damaskus ist mit dem Auto nur vier Stunden von Gaziantep entfernt. Zum Beispiel ist Urfa-Halep nur 55 Minuten entfernt. Halep ist also näher an Gaziantep als an Ankara, Erzurum oder Diyarbakır. Diese Städte waren immer miteinanderverbunden. Wie Maraş und Gaziantep heute miteinander verflochten sind, war Halep ein ähnlicher Ort. Ich hatte dieses alte osmanische Wappenringbei mir, als ich dort war. Die Leute, die es sahen, sagten mir, dass es dasosmanische Wappen sei. Sie erinnern sich an die Form der OsmanischenFlagge, nicht nur an die Türkei, sondern an das Osmanische Reich. Und an den Wänden sieht man auch die bearbeiteten Formen dieser Flagge, in der Festung oder der Moschee. Es ist eine sehr tiefe Beziehung, aber kulturellwurde es so weit entfernt und entfremdet, dass die Leute dort denken, es sei ein ganz anderer Ort. In Wirklichkeit sind zum Beispiel die erstentürkischen Luftmärtyrer auf dem Emevi-Moschee-Friedhof in Damaskus begraben. Es gibt dort ein Denkmal. Die Luftmärtyrer, die im ErstenWeltkrieg gefallen sind, sind dort hinter der Emevi-Moschee, neben dem Grab von Saladin Al-Ayyubi, beigesetzt. Dort kann man auch die türkischeFlagge sehen. Ihr Grab ist dort. Am Ende dieser Entfremdung verstehen sie nicht, warum wir so fühlen. Warum wir eine solche Verbindung zu Halep und Damaskus haben. Und warum die Menschen dort uns genauso fühlen. Einige Teile der Gesellschaft in der Türkei können das nicht begreifen.“
BG: „Sie haben sich mit Colani getroffen. Haben Sie auch mit unseremMIT-Präsidenten gesprochen?“
Kemal Öztürk: „Ja, das habe ich. Ich denke, sich in Damaskus mit dem MIT-Präsidenten zu treffen, ist etwas, das nur Journalisten erlebenkönnen, die in der Nacht der Kadir (Kadir Gecesi) geboren wurden. Diese Gelegenheit wurde mir gegeben. Ich wurde jedoch nicht in dieser Nachtgeboren. Ein Interview mit Colani könnte auch eine Gelegenheit für einen Journalisten sein, die nur sehr selten vorkommt. Auch das wurde mir ermöglicht. Die Syrien-Reise war also ein sehr besonderes Ereignis in meiner beruflichen Laufbahn. Ich hoffe, wenn sich die Lage verbessert, wenn die Regierung gebildet ist und das System etabliert ist, dass ich die Gelegenheit haben werde, wieder dorthin zu reisen. In Damaskus gibt es den Umayyaden-Platz, den größten Platz, und dort finden derzeitDemonstrationen und Feierlichkeiten statt. Einer der Mitglieder der neuenVerwaltung dort sagte zu mir: „InshaAllah, wir werden uns eines Tages in Jerusalem treffen.“ Ich hoffe es. Ich würde sehr gerne mit İbrahim Kalın in Jerusalem oder in Gaza treffen. Und ich glaube, dass das kein bloßerTraum ist.“
BG: „Es gibt auch das Problem mit den Gebieten, die von der Terrororganisation PYD und den SDF kontrolliert werden. Das istmomentan in der Türkei das Thema, das am meisten interessiert. Sie sind unter dem Schutz der USA. Wie wird sich die Situation dort entwickeln? Gibt es eine Möglichkeit, dass die Bestrebungen, dort einen Staat zu gründen, in naher Zukunft Realität werden könnten?“
Kemal Öztürk: „Ich sehe die Möglichkeit als null an. Ich halte es für unmöglich, dass die SDF weiter existieren wird. Geografisch gesehen, Deyrez-Zor, im Süden Kobane und Hasakeh-Kamışlı liegen so nebeneinander. Der Süden von Deyr ez-Zor wurde von arabischen Stammesführernübernommen. Raqqa ist belagert. Westlich des Euphrats wird das Gebiet von der Türkei und der Freien Syrischen Armee kontrolliert. Sie sind in einem eingeschränkten Bereich gefangen. Es gibt keine logistischeMöglichkeit, dorthin zu kommen, keine Einnahmequellen. Was man unbedingt tun muss, ist, die syrischen Kurden und die YPG auseinanderzuhalten. Die ideologische Struktur der YPG, ihre Gedanken und Beziehungen sind den syrischen Kurden völlig fremd. Die syrischenKurden sind mit der Türkei befreundet. Aber die PKK hat einen Teil der Menschen dort ideologisch vergiftet und sie in den USA bewaffnet. Sie denken, dass sie die Region mit Waffen kontrollieren können. Aber sie konnten Deyr ez-Zor nicht kontrollieren. Sie konnten Tel Rifaat nichtkontrollieren. Sie konnten Manbij nicht kontrollieren. Und am 14. dieses Monats, bis 17 Uhr, wurde ihnen befohlen, auch die Region um den Suleyman Shah-Tum von Kobane zu verlassen. Das wird ebenfallsgeschehen. Sie werden gezwungen sein, Kobane zu verlassen, es ist nichtmöglich, dort zu leben. Die Türkei hat eine sehr ernste Roadmapangekündigt. Die PKK wird die Region verlassen. Die YPG-Führer werdendie Region verlassen. Alle nicht-syrischen Soldaten und Kämpfer, die in den SDF und YPG sind, werden die Region verlassen. Sie werden ihreWaffen niederlegen. Sie werden der neuen Verwaltung unterstellt. Das istein großes Manifest. Sagen wir, eine Art Regelung. Aber ich sehe auch die gleichen Dinge unter der Führung von HTS. Der HTS-Führer, Ciolani, sagte: „Die Kurden sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Landes, aberdie PKK ist eine Terrororganisation“. Keine bewaffnete Gruppe wird eigenständig bleiben. Sie wird dem Verteidigungsministerium unterstellt.“
BG: „Haben sie dort die Unterstützung der Bevölkerung?“
Kemal Öztürk: „Wir sehen die Proteste in den Nachrichten und in den sozialen Medien. Wenn man die europäische Presse betrachtet, sieht man Schlagzeilen wie „Aleviten werden ermordet“ oder „Kurden werdenmassakriert“. Ebenso gibt es Schlagzeilen, dass Jesiden ermordet werden. Das hat aber nichts mit der Realität zu tun. Die syrischen Kurden habeneinen ontologischen Widerspruch mit der PKK. Sie können nichtzusammenarbeiten. Aus diesem Grund tragen auch die kurdischenStämme derzeit die Revolutionflagge. Sie sind in Konflikte mit der Bevölkerung in Raqqa und Deyr ez-Zor geraten. Sie haben auf Zivilistengeschossen. Ich sehe dort keine Unterstützung. Sie glauben, dass sie mit den Waffen und gepanzerten Fahrzeugen der USA überleben können, aberdas wird nicht so sein. Ich denke, die PKK steht vor dem größtenSäuberungsprozess in ihrer Geschichte. Sie werden entweder in die Berge nach Kandil zurückkehren oder sie werden die Region verlassen, oder es werden große Kämpfe stattfinden und sie werden wieder verlieren.“
BG: „Glauben Sie, dass, wenn ein demokratischer Prozess ablaufen würde, die Kurden eine politische Partei gründen könnten, um zum demokratischen Prozess beizutragen?”
Kemal Öztürk: „Wenn sie ihre Waffen niederlegen, warum nicht? Warumsollte es nicht möglich sein? Diejenigen, die in den Terror verwickelt sind und Blut vergossen haben, sollen gehen. Die Übrigen können dann eine Partei gründen. Wir werden sehen, ob die Kurden diesen Parteien ihreStimmen geben oder nicht. Es wird so nicht laufen. Die Kurden werden den Parteigründungen der SDG-Anhänger nicht so viele Stimmen geben, wie sie erwarten. Das werden wir sehen. Sie müssen sich ins System integrieren, und das bedeutet, dass sie ihre Waffen niederlegen müssen.“
BG: „Trump kommt in Kürze nach Amerika. Kürzlich sagte er in einerErklärung, dass es keine Agenda für Syrien gäbe, dass es ihre innerenAngelegenheiten seien. Bedeutet das, dass sich die US-Soldaten ausSyrien zurückziehen könnten?“
Kemal Öztürk: „Es wird nicht vollständig kommen. Denn das ist einPentagon-Projekt. Ein türkischer General hat es mir so erklärt: „Der Osten des Euphrats gehört dem Pentagon, der Westen der CIA.“ Der Westen hat die CIA verloren, der Osten ist das Operationsgebiet des Pentagon. In dieser Region, Rojava, ist das Projekt zur Errichtung eines Staates durchdie PKK ein Pentagon-Projekt. Auch das Pentagon hatte sich zuvor gegenTrump gewehrt, als er sagte, die USA sollten aus Syrien abziehen. Jetztsagt er es wieder, aber das Pentagon wehrt sich erneut. Aber nach dem 20. Januar glaube ich nicht, dass sie weiterhin Widerstand leisten werden. Die USA werden sich zurückziehen, und sie werden mit der Türkei einAbkommen treffen. Sie haben keine andere Wahl. Geopolitisch können sie dort nicht überleben, wirtschaftlich nicht, politisch nicht. Mit der neuenRegierung können sie sich nicht durchsetzen. Wie werden sie überleben, wenn sie alle Ölquellen verlieren? Die Türen im Irak sind geschlossen, in der Türkei sind sie geschlossen, und die Südgrenze wird von der neuenRegierung kontrolliert. Wie wollen sie dort überleben? Woher werden sie ihre Logistik bekommen? Werden die US-Luftstreitkräfte ständig Flügezum Flughafen in Kamischli machen? Das ist nicht überlebensfähig. Sie verfolgen nur leere Träume. Sie missbrauchen die Kurden. Dieses Spielmuss endlich ein Ende haben. Ich denke, die Türkei und das neue Syrien werden dieses Spiel beenden, und die Kurden werden sich befreien.“
BG: „Wie wird die syrische Revolution die benachbarten Länder beeinflussen? Es gibt ja Nachbarländer wie Jordanien, Irak, Libanon und Ägypten.”
Kemal Öztürk: „Ich sehe einen großen Anstieg der moralischenUnterstützung in der Region. Besonders unter denjenigen, die gegen die Regime sind, gibt es jetzt viel mehr Hoffnung. Die Region hat viel gelitten, Gaza hat uns sehr belastet. Aber es gibt jetzt eine allgemeine Erhebungdes Morals. Wenn die Opposition moralisch gestärkt ist, bedeutet dasauch einen Anstieg in den Regimegegnern und denen, die sich gegenautoritäre Regime stellen.”
BG: „Die Menschen sehen also, dass es möglich ist?”
Kemal Öztürk: „Ja, genau. Wenn Assad gestürzt wird, kann jeder gestürztwerden. Assads Geheimdienst ist weltberühmt, aber die Idee, dass er gestürzt werden kann, hat sich nun verbreitet. Deshalb haben die autoritären Regime Angst. Ich glaube, das wird auch Ägypten beeinflussen. Die neue Generation der Muslimbruderschaft wird sichwahrscheinlich verändern und entwickeln. Ich denke auch, dass sichHamas verändern wird. In Libanon wird es ebenfalls eine großeVeränderung geben. Ich denke, dass die sunnitische Seite, nach dem Verlust von Hizbollahs Macht, stärker in das Land eingreifen wird. Das wird sich mit der Zeit auswirken. Jordanien ist eigentlich eine sehr schwacheKette. Wenn dort eine starke Opposition entsteht, denke ich, dass sichauch Jordanien verändern wird. Wir werden es bald sehen, ich glaube, es wird schnell gehen.”
BG: „Was ist mit dem Schiitenbogen? Das Schiitenbogen-Projekt ist nachdem syrischen Aufstand gescheitert, weil Syrien der wichtigste Teil davonwar. Wie wird sich der Einfluss des Irans in der Region nach der Revolution entwickeln? Wird die Revolution in Syrien auch Auswirkungen auf dasiranische Regime und System haben?”
Kemal Öztürk: „Ich denke nicht, dass es einen sehr großen Einfluss habenwird. Ich glaube nicht, dass das iranische Regime ein Regime ist, dasschnell gestürzt werden kann. Obwohl wir dasselbe über Assad gesagthaben, jetzt, wo es so schnell geht, muss man vorsichtig sein. Der Kommandant der Revolutionsgarden sagte sogar, dass das syrischeRegime als letztes von den Revolutionsgarden verlassen wurde, was er alsSieg darstellte. Was den Schiitenbogen betrifft, ich habe nie ganzverstanden, wogegen dieser Bogen gerichtet war. War er gegen Israel? Manchmal wird der Bogen in der Kriegsstrategie verwendet, um den Feindzu umzingeln und zu vernichten. Aber wogegen war dieser Schiitenbogengerichtet?”
BG: „Ich glaube, dieser Schiitenbogen ist wahrscheinlich auf die Umzingelung der Türkei ausgerichtet.”
Kemal Öztürk: „Ja, ich weiß nicht, wogegen genau dieser Bogen gerichtetist, aber der größte Verlierer in der Region ist Iran. Sie haben Libanon verloren, sie haben Syrien verloren, in Irak haben sie große Macht verloren. Nur im Jemen sind die Huthi geblieben, bei denen sie noch Einflussnehmen können. Ansonsten niemand mehr. Heute hat der iranischePräsident angekündigt, dass die Heizungen um zwei Grad heruntergedrehtwerden sollen. Sie haben ein Energieproblem. Ein Öl-Land fordert, die Heizungen herunterzudrehen. Wegen der Luftverschmutzung, der Stromprobleme und des kalten Winters wurden die Schulen geschlossen. All das ist heute passiert. Die wirtschaftliche Krise in Iran erreicht ihrenHöhepunkt. Wenn das Volk erneut stark protestiert, könnte es zu Unruhenin Iran kommen, aber ein Regimewechsel würde nur mit Blut möglich sein. Andernfalls erwarte ich keinen Wandel dort. Solange Khamenei lebt, wird sich dort nichts ändern. Ein blutiger Wechsel würde leider eintreten, und das hoffe ich nicht. Das iranische Volk hat sehr gelitten. Ich hoffe nicht, dass es dort zu etwas Blutigen kommt, aber die Wahrscheinlichkeit, dassKhamenei sich ändert, sehe ich bei null. Ich halte Pezashkian für eine realistischere Option. Alle Vollmachten des Revolutionsführers liegen in seinen Händen. Pezashkian hat keine solchen Vollmachten. Wenn es zu einer Veränderung kommt, wenn Iran sich reformiert und sich mit der Türkei integriert, wird es etwas entspannter, aber ansonsten erwartet Iran eine schwierige Zukunft. Ihr werdet sehen, dass sie auch aus Irak weitgehend abziehen werden.”
BG: „Also, könnten Iran und Russland wegen der Kriegsverbrechen und Massaker, die in Syrien begangen wurden, vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden? Es gibt eine Erwartung, dassinternationale Organisationen, Institutionen, Vereine und Stiftungen die Kriegsverbrechen in Syrien dokumentieren und daraufhin einGerichtsverfahren gegen das Assad-Regime und dessen Unterstützer, Iran und Russland, eingeleitet wird. Glauben Sie, dass auch Iran und Russland dafür zur Rechenschaft gezogen werden?”
Kemal Öztürk: „Ich denke schon. Sie haben ihren Teil der Schuld. Russland hat genauso viele Massaker wie das Assad-Regime begangen. Die Massaker ihrer Hubschrauber und Flugzeuge sind zahllos. Und auch Iran hat mit seinen Milizen nicht weniger verbrecherische Taten begangen, dassagen auch die Syrer. Als Nasrallah starb, verteilten sie deshalbSüßigkeiten. Sie haben sehr gelitten. Ich hoffe, dass wir Assad nichteinfach davonkommen lassen. Die Welt sollte ihn nicht einfach so davonkommen lassen. Der Hauptverantwortliche für dieses grausameRegime muss vor Gericht gestellt werden. Das sollte für alle Diktatoreneine Lektion sein. Vor allem für Netanyahu. Als ich die Haftbedingungen im Gefängnis sah, dachte ich mir, dass man keine weiteren Beweise braucht. Es ist so grausam, so unglaublich. Ich hoffe, dass er vor Gericht gestelltwird, auch in Abwesenheit. Ich hoffe sehr, dass auch die Iraner und Russenvor Gericht kommen. Mal sehen, ob die internationale Gemeinschaft diese Verbrechen erkennen wird. In Deutschland zum Beispiel sehen wir, dassdie Massaker an den Juden während der Hitlerzeit möglicherweise in einem ähnlichen Ausmaß in Syrien begangen wurden. Aber natürlich stelltsich die Frage, ob die Welt das sehen wird. Wir werden erneut die doppelmoralische Haltung des Westens erleben.”
BG: „Herr Kemal Öztürk, vielen Dank.”
Kemal Öztürk: „Ich danke Ihnen. Ich wünsche Ihnen eine gute Sendung.”