Israels Nakba-Plan für Gaza und der palästinensische Widerstand

Der von Israel angestrebte „Nakba von Gaza“ stellt eine neue Phase eines ethnischen Säuberungsprozesses dar, der 1948 begann und bis heute in unterschiedlichen Formen fortgeführt wird. Doch was dieses Mal anders ist, ist die Weigerung des palästinensischen Volkes, sich zu ergeben, die Institutionalisierung des zivilen und bewaffneten Widerstands sowie die zunehmende Stärke der internationalen Solidarität. Israels Strategie, Gaza unbewohnbar zu machen und durch massenhafte Vertreibung ethnisch zu säubern, wird durch diesen Widerstand vereitelt.
Mai 27, 2025
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Mit der Gründung Israels im Jahr 1948 begann für das palästinensische Volk die Nakba („die große Katastrophe“), die nicht nur ein historisches Trauma darstellt, sondern zugleich einen bis heute andauernden Prozess kolonialer Unterdrückung und ethnischer Säuberung. Aus Sicht der Palästinenser*innen ist dieser Prozess sowohl durch die physische Vertreibung aus ihrer Heimat als auch durch die systematische Auslöschung ihrer Identität gekennzeichnet. Der seit dem 7. Oktober 2023 andauernde Genozid Israels gegen den Gazastreifen stellt eine aktualisierte, digitalisierte und verschärfte Fortsetzung dieser historischen Zerstörung dar. In vielerlei Hinsicht ähnelt der gegenwärtige Völkermord in Gaza der Nakba von 1948. Was sich heute im Gazastreifen abspielt, ist jedoch nicht nur eine militärische Operation, sondern kann als kollektive Bestrafung eines ganzen Volkes, als Auslöschung seines Gedächtnisses und als Aneignung seiner Zukunft verstanden werden. Im Unterschied zu 1948 leistet das palästinensische Volk heute jedoch Widerstand – sowohl bewaffnet als auch durch zivile und digitale Formen des Widerstands. Daher lässt sich sagen, dass die humanitäre Krise in Gaza bewusst von Israel herbeigeführt wird und dass der darauf reagierende palästinensische Widerstand eine eigene Charakteristik, Struktur und wirksame Mittel entwickelt hat.

Die humanitäre Krise im Gazastreifen

Ähnlich wie während der Nakba von 1948 wird die humanitäre Krise im Gazastreifen heute systematisch von Israel umgesetzt. Die Blockade des Gazastreifens sowie die gezielten Angriffe auf Zivilist*innen und der fortdauernde Genozid zeigen anhand zahlreicher Daten, dass diese Krise geplant und strukturell erzeugt wird. Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) sind 32 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen entweder vollständig zerstört oder funktionsunfähig gemacht worden. Dies stellt nicht nur die Lahmlegung des Gesundheitssystems dar, sondern kann auch als direkter Angriff auf das Recht eines Volkes auf Leben gewertet werden.

UNICEF berichtet, dass etwa 80 % der Schulen und Universitäten im Gazastreifen nicht mehr nutzbar sind und über 100 Akademiker*innen gezielt getötet wurden. Diese Daten verdeutlichen, dass die Angriffe nicht allein militärische Ziele verfolgen, sondern systematisch auf die Zerstörung der Gesundheits-, Bildungs- und Sozialinfrastruktur abzielen.

96 % der Bevölkerung Gazas sind derzeit von akuter Nahrungsmittelknappheit betroffen, und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den Tod zahlreicher Kinder infolge von Hunger bestätigt. In diesem Kontext wird die gezielte Behinderung humanitärer Hilfe faktisch zu einer Politik, die eine Gesellschaft „durch Hunger disziplinieren“ will. Dass die Regierung Netanjahu die „freiwillige Auswanderung“ der palästinensischen Bevölkerung in Drittländer befürwortet, legt die dahinterstehende Absicht dieser Krise offen. Diese Politik ist eine direkte Fortsetzung der Vertreibungs- und Enteignungspraktiken von 1948. Heute jedoch sind die Methoden raffinierter, technologischer und versuchen sich auf globaler Ebene zu legitimieren.

Israels Vorgehen nutzt Vertreibung nicht nur als physisches Mittel, sondern auch als symbolisches Werkzeug des Auslöschens: Es geht nicht allein darum, die Bevölkerung Gazas von ihrem Land zu entfernen, sondern auch ihre Identität, Geschichte und kollektive Erinnerung zu zerstören. In diesem Sinne ist Gaza nicht nur ein geografischer Raum, sondern zu einem Laboratorium für Völkermord geworden.

Die Bombardierung ziviler Lager – von Rafah bis Dschabalia –, die absichtliche Herbeiführung von Hungersnöten, der Tod von Kindern und Frauen sowie die gezielten Angriffe auf Krankenhäuser sind Teil dieser strukturellen Vernichtung. Die physische Zerstörung Gazas geht einher mit dem Versuch, das kollektive Gedächtnis eines Volkes auszulöschen.

Die Transformation des Widerstands

Während der Nakba von 1948 wurde das palästinensische Volk weitgehend aufgrund mangelnder internationaler und regionaler Unterstützung zur Massenflucht gezwungen. Heute hingegen zeigt die Bevölkerung Gazas – trotz extrem widriger Umstände – eine historische Abweichung, indem sie sich weigert, ihr Land zu verlassen. Die Palästinenser*innen sind nicht mehr nur Opfer, sondern haben sich zu aktiven Subjekten des Widerstands entwickelt. Zu den wichtigsten Faktoren, die diesen Wandel möglich gemacht haben, zählen die Institutionalisierung des bewaffneten Widerstands sowie die globale Sichtbarkeit des zivilen Widerstands.

Die Rolle von Hamas und anderen bewaffneten Gruppen bei der Verteidigung Gazas gewährleistet die militärische Kontinuität des Widerstands. Trotz der intensiven Luft-, Land- und Seeangriffe durch Israel besteht innerhalb Gazas eine organisierte Verteidigungskapazität. Dieser militärische Widerstand wirkt gleichzeitig moralisch stärkend auf den zivilen Widerstand. Darüber hinaus werden die Geschehnisse in Gaza durch digitale Aktivist*innen und Medien in alle Teile der Welt getragen und tragen zur Erzeugung internationalen Drucks bei. Anders als die Nakba von 1948, die weitgehend im Verborgenen ablief, wird die heutige „neue Nakba“ in hochauflösenden Livestreams der Weltöffentlichkeit präsentiert. Diese Sichtbarkeit ist zu einem der wirksamsten Mittel des Widerstands geworden. Heute gilt jedes Kindergrab, jede zerbombte Schule, jedes niedergebrannte Lager nicht mehr nur als Tragödie Gazas, sondern als Appell an das globale Gewissen. In zahlreichen Ländern haben Menschen den israelischen Genozid verurteilt und Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas organisiert.

Die Nakba ist somit kein abgeschlossenes historisches Ereignis, sondern stellt eine strukturelle Krise dar, die von fortbestehenden kolonialen Akteuren erzeugt wird. In diesem Sinne leistet das Volk Gazas nicht nur physischen Widerstand, sondern auch symbolischen Widerstand auf kultureller und identitärer Ebene. Dieser Widerstand äußert sich darin, dass sie ihre Häuser nicht verlassen, ihre Lager nicht aufgeben, ihre palästinensische Identität bewahren und die Namen der Märtyrer nicht vergessen.

Der Widerstand wird heute nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Erinnerung, Erzählung und Symbolen geführt. Jeder Zeltplatz ist zu einer Schule, jedes Grab zu einem Dokument, jeder Stein zu einem Manifest geworden.

Die Krise Israels

Israel versucht, seinen gescheiterten Versuch einer „Nakba von Gaza“ und den damit verbundenen Genozid im Gazastreifen im Rahmen von „nationaler Sicherheit“ oder „Kampf gegen den Terrorismus“ zu rechtfertigen. Doch diese Erzählung verliert international zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die Schritte von Ländern wie Südafrika, Irland und Spanien, internationale Strafmechanismen gegen Israel in Gang zu setzen, sind konkrete Anzeichen dieses Legitimationsverlustes. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant markiert das Ende der israelischen Ausnahmestellung. Das Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem IStGH zeigt, dass die zionistische Besatzung auch auf diplomatischer Ebene zunehmend hinterfragt wird.

Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in diesem Prozess ist die zunehmende Kritik an Israels Kriegspolitik aus dem eigenen Land. Dass ehemalige israelische Generäle wie Yair Golan oder der Ex-Premier Ehud Olmert die Angriffe auf Gaza als „ethnische Säuberung“ bezeichnen, zeigt, wie stark diese innere Kritik geworden ist. Gleichzeitig verschärft die wachsende Solidarität mit Palästina in den USA und Europa – von Universitäten bis hin zu Massenprotesten auf den Straßen – Israels globale Isolation. Darüber hinaus wurden unter Donald Trump diplomatische Signale gesetzt, die auf eine Distanzierung vom engen Tel-Aviv-Bündnis hinweisen: etwa durch direkte Verhandlungen mit der Hamas zur Freilassung eines US-amerikanischen Geisels aus Gaza, durch die Aufhebung von Sanktionen gegen das Assad-Regime in Syrien unter türkischer Vermittlung oder durch den diplomatischen Fortschritt mit dem Iran unter Vermittlung Omans. Diese Entwicklungen deuten auf mögliche Brüche zwischen Washington und Tel Aviv während der Trump-Ära hin.

Ein weiterer entscheidender Faktor, der Israels Krise vertieft, ist die Kontinuität des palästinensischen Widerstands. Dass sich die Widerstandsgruppen in Gaza nicht aufgelöst haben, dass die israelische Besatzungsarmee erhebliche Verluste erleidet, die Infrastrukturkosten steigen und Israel seine psychologische Überlegenheit einbüßt – all das macht eine Fortsetzung der Besatzung zunehmend unmöglich. Das Scheitern von Projekten wie dem „Gideon-Plan“, mit dem Gaza vollständig entvölkert werden sollte, ist vor allem dem entschlossenen Widerstand der Palästinenser*innen zu verdanken. Dieses Scheitern bedeutet nicht nur ein militärisches, sondern auch ein symbolisches Desaster für Israel und untergräbt dessen hegemoniale Erzählung.

Heute erkennt die Welt immer deutlicher, dass das palästinensische Volk systematisch ausgelöscht werden – ein Umstand, der die moralische Grundlage der Besatzung schwer erschüttert.

Die von Israel angestrebte „Nakba von Gaza“ stellt eine neue Phase des ethnischen Säuberungsprozesses dar, der 1948 begann und bis heute in unterschiedlichen Formen fortgesetzt wird. Doch was heute anders ist, ist die Weigerung des palästinensischen Volkes, sich zu ergeben; der institutionalisierte zivile und bewaffnete Widerstand sowie die zunehmend stärkere internationale Solidarität. Israels Strategie, Gaza unbewohnbar zu machen und durch massenhafte Vertreibung ethnisch zu säubern, wird durch diesen Widerstand vereitelt.

Jedes bombardierte Haus, jede zerstörte Schule, jedes hungernde Kind mag ein Teil des Genozids sein – zugleich aber ist es auch ein Zeugnis für die Entschlossenheit eines Volkes, nicht ausgelöscht zu werden. Dieser Widerstand zielt nicht nur darauf ab, Israels militärische Pläne zu durchkreuzen, sondern auch seine moralische und politische Legitimität zu erschüttern.

Daher kann das Ende der Nakba nicht allein durch die Beendigung der israelischen Besatzungspolitik erreicht werden, sondern auch nur durch die Anerkennung und den Schutz der historischen Rechte des palästinensischen Volkes.

Dr. Mehmet Rakipoğlu

Dr. Mehmet Rakipoğlu schloss 2016 sein Studium im Bereich Internationale Beziehungen an der Sakarya Universität ab. Seine Dissertation mit dem Titel „Verteidigungsstrategie in der Außenpolitik: Die Beziehungen Saudi-Arabiens zu den USA, China und Russland nach dem Kalten Krieg“ wurde erfolgreich abgeschlossen. Rakipoğlu arbeitete als Direktor für Türkei-Studien am Mokha Center for Strategic Studies und ist derzeit Dozent an der Abteilung für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Mardin Artuklu Universität.

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