Die weiche Stelle des neuen Syriens: Minderheiten

Syrien hat, wie in der Vergangenheit, erneut auf blutige Weise erfahren, wie zerstörerisch das Machtverhältnis der Minderheiten sein kann. Jetztwird es versuchen, seine Wunden zu heilen. Vor Syrien liegt eine glänzende Zukunft, die jedoch auch Risiken birgt. Wenn es gelingt, die unterschiedlichen Gruppen als eine Stärke zu nutzen, könnte Syrien trotzbegrenzter Ressourcen, einer fragmentierten Demografie und Sicherheitsrisiken durch Israel schnell wiederaufgebaut werden und möglicherweise die einzige Demokratie in der arabischen Welt entstehenlassen.
Dezember 20, 2024
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Syrien hat, wie in der Vergangenheit, erneut auf blutige Weise erfahren, wie zerstörerisch das Machtverhältnis der Minderheiten sein kann. Jetztwird es versuchen, seine Wunden zu heilen. Vor Syrien liegt eine glänzende Zukunft, die jedoch auch Risiken birgt. Wenn es gelingt, die unterschiedlichen Gruppen als eine Stärke zu nutzen, könnte Syrien trotzbegrenzter Ressourcen, einer fragmentierten Demografie und Sicherheitsrisiken durch Israel schnell wiederaufgebaut werden und möglicherweise die einzige Demokratie in der arabischen Welt entstehenlassen.

Syriens Zersetzender Strudel: Minderheiten

Syrien ist unabhängig von den jüngsten Entwicklungen ein wichtiges Land. Der syrische Staat, der auf diesem strategischen Landstück im östlichenMittelmeer gegründet wurde, ist ein gespenstisches Relikt der Region Bilad al-Sham, die im osmanischen Verwaltungssystem als solche definiertwurde und durch die Kolonialmächte verfälscht und stark verkleinertwurde. Als Kreuzungspunkt von Asien, Europa und Afrika ist Bilad al-Sham heute in fünf Staaten unterteilt: Syrien, Jordanien, Israel, Palästina und Libanon. Syrien ist das größte Land sowohl in Bezug auf Fläche als auchBevölkerung unter diesen Staaten. Mit der Gründung des Libanon und Israels ist es jedoch vom wichtigen Mittelmeerküstengebiet isoliert, lebtunter der Nusayri-Diktatur von Assad, ist von der Welt abgeschottet und hat eine fragile, weitgehend landwirtschaftlich orientierte Wirtschaft, knappe Ressourcen und eine auf eklektischer Vielfalt basierendeDemografie. Es ist offensichtlich, dass Syrien, wie im letzten Jahrhundert, weiterhin das Zentrum politischer Unruhen in der arabischen Welt bleibenwird.

Da die 54-jährige Nusayri-Diktatur unter Assad zu Ende gegangen ist, istes nun sinnvoll, den Prozess ruhig und mit nüchternem Blick zu betrachten. Dabei sollte der Fokus auf die strukturellen Merkmale der syrischen Gesellschaft gelegt werden, die in ihrer Soziologie und Geographie miteinander verflochten sind und das düstersteDiktaturregime der Geschichte hervorgebracht haben.

Die von den Westlern als Levante bezeichneten Küstenregionen Syriensund des Libanon sowie die angrenzenden Binnengebiete weisengeographische und demographische Merkmale auf, die sich deutlich von denen der arabischen Wüste unterscheiden. Diese Geographie und Demographie, die sich im Laufe der Zeit immer wieder miteinandervermischte und deren Form in den letzten 1000 Jahren entstanden ist, kann nicht ohne Bezug zum islamischen Kulturraum betrachtet werden. Die enge Verknüpfung von Geographie, Wirtschaft und Politik hat eine demographische Struktur hervorgebracht, die durch eine scharfeTrennung von Küsten-/Flachlandgebieten und Bergen/Wüsten geprägt ist. Mit einer Bevölkerung von 22 Millionen und einer Fläche von 185.000 Quadratkilometern ist Syrien der konkrete Ausdruck einer politischenStruktur, die aus den geographischen und demographischenUnterschieden entstanden ist und durch harte, umkämpfte und konfliktbeladene politische Dynamiken gekennzeichnet ist.

Syrien; Eine lebende Galerie archäologischer Kulturen

Zunächst einmal waren Syrien und Libanon, beginnend mit den Phöniziern, über verschiedene Epochen hinweg immer wieder zentrale Knotenpunkteglobaler Handelsnetzwerke. Mit diesen großen Handelsrouten wurdenunterschiedliche Kulturen, politische Strömungen und Demographien von der arabischen Wüste einerseits und dem Mittelmeer sowie Europa andererseits hin- und hertransportiert. Diese Bewegungen führten dazu, dass sich viele dieser Kulturen nicht dauerhaft in Syrien niederließen, sondern vielmehr nur als kurze Zwischenstationen verstanden werdenkönnen. Von 300 v. Chr. bis zu den 60er Jahren v. Chr. prägten Alexander der Große und seine Nachfolger die Region, zwischen den 100er Jahren v. Chr. und den 600er Jahren n. Chr. dauerte der Persisch-Römische Kriegüber 700 Jahre, während in dieser Zeit das Christentum entstand und die Region neu prägte. Ab den 700er Jahren begannen die islamischenEroberungen, gefolgt von den Kreuzzügen ab den 1100er Jahren, den Mongolen und der Schiitenwelle aus dem Iran, die die Region verwüsteten. All diese Ereignisse trugen zur Entstehung einer lebendigen Geographieund Kulturlandschaft bei, in der riesige Armeen, enormeMenschengruppen und rivalisierende Religionen, Kulturen und politischeSysteme aufeinandertrafen, miteinander kämpften und sich gegenseitigtransformierten. Syrien war vielleicht die wichtigste Bühne dieserbewegten Geschichte. Diese Bühne war fast immer ein Transitpunkt für Armeen, Karawanen, Religionen und Glaubensrichtungen, “manchmal einHalt, meist aber eine Brücke”. Diese Übergänge und Zwischenaufenthaltehinterließen nachhaltige und tiefgreifende Spuren nicht nur in der Politik, sondern auch in der Demografie, der Kultur, den Glaubensrichtungen und der Wirtschaft. Man könnte sagen, dass Syrien das Erbe all dieserInvasionen und dieser großen militärischen und zivilenMenschheitsbewegungen ist.

Syrien, das beinahe ein Mikrokozmos des Nahen Ostens darstellt, ist eine lebendige archäologische Kulturgalerie, die mit dieser reichen Geschichte, diesen „lebenden Fossilien“, immer wieder vermischt wird – nicht nur mit mittelalterlichen, sondern auch mit prähistorischen Kulturen und Glaubensvorstellungen. Tatsächlich sind es trotz der sozialen und politischen Risiken, die sie mit sich bringt, genau diese Vielfalt und diese strukturellen Merkmale, die Syrien zu dem machen, was es ist.

In Syrien ist jede Glaubensrichtung, Religion und ethnische Gruppe mit bestimmten geographischen Regionen verbunden. Im Zentrum des Landes, in den Städten Damaskus, Hama und Homs, leben vor allem sunnitische Araber. Im Süden, im Druzengebirge, lebt die heterodoxeDruzen-Gemeinschaft, die sich in jeder Epoche gegen die DamaskuserHerrschaft auflehnte und enge Verbindungen zu den benachbartenLändern Jordanien und Israel pflegt. Im Norden des Landes befindet sichAleppo, ein kosmopolitisches Handels– und Marktzentrum, das eine großeZahl an Kurden, Turkmenen, arabischen Christen, Armeniern, Tscherkessen und Juden beheimatet, die sich eher mit Mossul, Bagdadund Anatolien als mit Damaskus verbunden fühlen. Im Westen, in der Region Latakia im Norden des Libanon, leben die Nusayri im Nusayri-Gebirge. Salamiyeh, ein Vorort von Hama, ist das wichtigste Zentrum der Nizari-Ismailiten in Syrien. Die Nusayri, Druzen und Ismailiten sind die Überreste der schiitischen Welle, die vor tausend Jahren die Region überschwemmte.

Die auf Zweifel, Angst und Hass basierende Verbrechensdiktatur: Assad und die Nusayri

Diese kontrastierende Vielfalt hat zwar gelegentlich durch Assimilationeine Form von Harmonie erreicht, doch besonders im Hinblick auf die Nusayri-Minderheit rückt die Dissimilation (Taqiyya) als alternativeStrategie der Anpassung in den Vordergrund. So wurde es ermöglicht, alte Überzeugungen und Lebensweisen unter neuen Verhaltensweisen zu bewahren. In der Tat haben die religiösen Führer der Nusayri gesagt: „El kitman cihaduna“ (Verheimlichung ist unser Dschihad).

In einer möglichen Machtkomposition, die auf Minderheiten basiert und in der gegenseitige Misstrauen und Hass vorherrschen, war ein anderesMachtgefüge als ein chaotisches Diktat nahezu unmöglich. Als Hafiz al-Assad 1970 durch einen weiteren Putsch die Macht übernahm, schuf sichgenau diese chaotische Situation. Doch Assad hatte eine „Minderheitenarmee“, die seine chaotische Machtstruktur stabilisierte. Die Struktur der modernen syrischen Armee, die aus den Überresten der „Levant Special Forces“ (Troupes Speciales du Levant) hervorging, die während des französischen Mandats ausschließlich aus Minderheiten, vorallem Nusayri, bestand, war bestens positioniert, um ein solchesDiktaturregime zu schützen. Wie jeder Diktator, der in Angst vor einem Putsch lebt, engte Assad seinen Kreis ein. So war es nicht nur die Nusayri-Minderheit, auf die er sich stützte, sondern auch seine eigeneStammesgruppe, die Hayyatin, seine Heimatstadt Kardaha, und schließlichseine enge Familie – die Assads, die Mahloufs (die Familie seinerSchwiegereltern). Er schuf ein Machtkokon um sich. Innerhalb dieses Kokons überstand er die schwierige Zeit des Kalten Krieges, die durch den Komfortbereich der Sowjetunion, die Expansion des schiitischen Iran ab den 90er Jahren und die letzten drei Jahre, in denen er das Land fastumsonst an Russland und Iran vermietete, geprägt war.

Während der 54 Jahre währenden Herrschaft der Assad-Dynastie wurdendie verschiedenen Schichten der syrischen Gesellschaft in diesem immerenger werdenden Kokon, der zunehmend in Kriminalität verwickelt war, mit Blut und Gewalt überzogen. Schließlich hinterließ dieses schmutzige und kriminelle Regime, das keine andere Möglichkeit für Veränderung ließ alsWaffen und Gewalt, eine Geschichte mit einer Million Toten, zerstörtenStädten, einer kollabierenden Wirtschaft und einem Land, das an die Kolonialmächte verkauft wurde.

Die Nusayri Hafiz und sein Sohn Bashar, die Syrien in den letzten fünfzigJahren unterdrückten, sind wie eine Art Reinkarnation des „Ältesten des BergesRashid al-Din Sinan, des Führers der Assassinen von Masyaf, der jahrzehntelang Terror in Syrien verbreitete.

Die Prophetie des Nusayri-Führers Salih al-Ali, die er vor dem Abzug der Franzosen machte, hat sich erfüllt. Als ihm die Franzosen vorwarfen, die Führung zu übernehmen, sagte Salih al-Ali zu den führenden Nusayri: „Ohne sich auf eine fremde Macht zu stützen, kann keine religiöse, ethnische oder parteipolitische Gruppe Syrien regieren. Wer dies tun will, wird sowohl die Zerstörung seiner eigenen Minderheit als auch die des Landes herbeiführen.“

Ein Ausspruch des syrischen Migranten Udi Ala Muhammad, den er mir vorJahren sagte, ist aufschlussreich, weil er den einzigen Weg für eine mögliche Stabilität in einer so zersplitterten Gesellschaft aufzeigt: „Unterden Ismailiten wird für die Sunniten der AusdruckMutter der Sekten‘ verwendet. Wenn Minderheiten alleine sind, ist Konflikt unvermeidlich, weilwir alle theologische und historische Feindschaften haben. Wir sind alle engstirnig und ohne Flexibilität. Nur unter den Sunniten gibt es Toleranz.“ Diese ehrliche Feststellung ergibt ein erschreckendes Bild, besonders im Hinblick auf die letzten zehn Jahre des schweren Konflikts: Die Druzen misstrauen den Nusayri, die Nusayri hassen die Ismailiten, die Christen verachten alle, die Orthodoxen haben untereinander zahlreiche strittigeSekten… Dieses Bild setzt sich fort.

Die Revolution, die mit dem Blut des syrischen Volkes erkämpftwurde, und die Chancen

In Syrien ist das Gefühl einer klar abgegrenzten Heimat im Vergleich zu den religiösen, ethnischen und konfessionellen Identitäten weit wenigerausgeprägt. Tatsächlich ist das Konzept der Heimatals ein klardefiniertes, territoriales Gebiet, das durch moderne Nationalstaatengeschaffen wurde – eine Neuerung im gesamten Nahen Osten, doch in Syrien ist es besonders schwach ausgeprägt. Betrachtet man die grundlegenden strukturellen Merkmale der syrischen Gesellschaft, wird dies noch deutlicher. Trotz der jahrzehntelangen Indoktrination durch die Baath-Ideologie (arabischer Nationalismus), der Urbanisierung durch die moderne Lebensweise, der Entwicklung von Verkehrsnetzen, der weitverbreiteten Kommunikationstechnologien und der teilweisemodernisierten sozioökonomischen Struktur, konnte der Einfluss der obenerwähnten geschlossenen Minderheitengruppen nie vollständig gebrochenwerden. Dies ist zum einen auf esoterische Theologien zurückzuführen, vor allem jedoch auf die Art und Weise, wie die Assad-Diktatur die Ängsteder Minderheiten als Mittel zur Absicherung ihrer Macht instrumentalisierthat. Ethnische und konfessionelle Unterschiede allein sind noch kein Konfliktgrund. Diese Unterschiede werden in der Regel durch einpolitisches Machtzentrum genutzt, das sie zu einem Element des Konflikts, einer Konfliktseite oder sogar zu einem Ziel macht. So war es auch in Syrien.

Die syrische Revolution stürzte das Assad-Regime mit einerGeschwindigkeit, die viele Analysten überraschteinnerhalb von wenigerals einer Woche. Doch es darf nicht vergessen werden, dass dieserschnelle Sturz das Ergebnis von 14 Jahren Widerstand und 54 JahrenKorruption war. In den letzten zwei Jahren war die Armee des Regimes, die nicht einmal in der Lage war, ihre Soldaten täglich zu versorgen, zu einerverzweifelten, kriminellen Bande verkommen, die sich mit Schmuggel, Entführungen gegen Lösegeld, Vergewaltigungen und Drogenhandelbeschäftigtealles unter der Führung der Assad-Familie. Diese Banden, die jegliche politische Motivation verloren hatten, verfügten weder über die Stärke noch die Unterstützung oder Motivation, dem Widerstand des syrischen Volkes etwas entgegenzusetzen.

Syrien hat erneut auf blutige Weise erfahren, wie zerstörerisch dasMachtgleichgewicht der Minderheiten sein kann. Nun wird das Landversuchen, seine Wunden zu heilen. Die gesellschaftlichen Traumata, die diese Erfahrung hinterlassen hat, werden wahrscheinlich Jahrzehntenbrauchen, um zu heilen. Doch vor Syrien liegt eine glänzende Zukunft, die zwar Risiken mit sich bringt, aber auch Chancen. Wenn es gelingt, die inneren Unterschiede in eine Quelle des Reichtums zu verwandeln, könnteSyrien trotz seiner begrenzten Ressourcen, der zersplitterten Demografieund den Sicherheitsrisiken durch Israel schnell wieder auf die Beinekommen und möglicherweise die einzige Demokratie in der arabischenWelt aufbauen.

Übersetzt von: Meryem M.

 

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