Die Türkei – Was hat sie in Syrien gemacht?

Die größte Herausforderung für das neue Syrien ist die Frage, welche Regierungsstruktur ein Land mit so vielen ethnischen Gruppen, verschiedenen Glaubensrichtungen und Religionen haben wird. Angesichts der bitteren Erfahrungen in Ländern wie Irak, Libanon, Libyen und Afghanistan ist es entscheidend, ein ähnliches Chaos zu vermeiden. Die Türkei hat in dieser Hinsicht eine äußerst entschlossene Haltung eingenommen, da ein instabiles Syrien mit 900 km gemeinsamer Grenze und fast 4 Millionen syrischen Flüchtlingen vor allem die Türkei schwer belasten würde.
Dezember 22, 2024
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Die Aussagen des neuen US-Präsidenten Donald Trump über Präsident Erdoğan und die Türkei sorgten nicht nur in der Türkei, sondern weltweit für Überraschung:

„Niemand weiß wirklich, wer der Gewinner ist, aber ich denke, die Türkei hat gewonnen. Erdoğan ist ein sehr kluger und harter Mann… Assad war ein Metzger. Wir haben gesehen, was er den Kindern angetan hat… Der Schlüssel zu Syrien liegt in den Händen der Türkei.“ 

Als Trump diese Worte äußerte, war ich gerade aus Syrien zurückgekehrt. Ich hatte fast alle Städte bereist und anschließend ein Interview mit dem neuen Führer der Revolution, Ahmed al-Sharaa (Golani), geführt. In den Fernsehsendungen, an denen ich teilnahm, und auf meinen Social-Media-Kanälen sagte ich: „In Syrien gibt es ein strategisches Denken, aber dieses Denken gehört weder den USA, noch Israel oder Großbritannien. Ich habe gesehen, dass die Türkei vor Ort diese strategische Rolle einnimmt.“

Doch was genau hat die Türkei in Syrien gemacht? Wie konnte sie so einflussreich werden? Über die Details spricht kaum jemand.

DER GRÖSSTE LEIDTRAGENDER DES SYRISCHEN BÜRGERKRIEGS WURDE ZUM SCHLÜSSELLAND

Die Türkei war der größte Leidtragende des syrischen Bürgerkriegs. Über 13 Jahre hinweg nahm das Land ununterbrochen Geflüchtete auf, und die Zahl der syrischen Migranten in der Türkei überschritt 3,5 Millionen. Paramilitärische Gruppen, die dem Assad-Regime angehören, sowie Geheimdienstmitarbeiter führten zahlreiche Bombenanschläge in der Türkei durch, bei denen viele Menschen ihr Leben verloren.

Iran und Assad-Sympathisanten betrieben über Jahre hinweg gezielte Propaganda, um die Regierung von Erdoğan zu schwächen. Aufgrund der syrischen Geflüchteten kam es in vielen Städten zu massiven Protesten, Diskussionen und Konflikten. Bei den letzten Kommunalwahlen führten die Oppositionsparteien Kampagnen gegen die Migranten, was dazu führte, dass Erdoğans Partei erhebliche Stimmenverluste erlitt und wichtige Städte an die Opposition verlor.

Trotz all dieser Entwicklungen weigerte sich Präsident Erdoğan, die Geflüchteten zwangsweise nach Syrien zurückzuschicken. Er stand hinter ihnen und machte keine Kompromisse.

Doch er tat noch etwas, das weitgehend unbeachtet blieb: Erdoğan setzte weiterhin auf Investitionen in die syrische Opposition und in die Stabilisierung innerhalb Syriens.

TÜRKEI INVESTIERTE IN DAS INNERE SYRIENS

Die Türkei führte mehrfach grenzüberschreitende Operationen gegen die Angriffe der PKK/YPG aus Syrien durch und richtete dabei sichere Zonen ein. Durch die Astana- und Sotschi-Abkommen unterstützte sie in Städten wie Jerablus, Azez, Afrin und al-Bab den Aufbau von Verwaltungsstrukturen der Opposition, die Sicherung der Gebiete und die Schaffung wirtschaftlicher Kreisläufe.

In diesen Städten ließ die Türkei weiterführende Schulen und Universitätsgebäude errichten. Sie schuf Systeme, die den Syrern den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, kommunaler Verwaltung und Sicherheit ermöglichten, und bot umfassende Unterstützung an. So baute beispielsweise die Stadtverwaltung von Gaziantep die Straßen in al-Bab, während das türkische Gesundheitsministerium die medizinischen Einrichtungen bereitstellte. Zahlreiche türkische Nichtregierungsorganisationen leisteten vor Ort Hilfe, führten kulturelle und bildungsorientierte Aktivitäten durch.

Die Türkei bereitete zudem ein flexibles Fundament für die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen der Türkei und Nordsyrien. Dadurch wurde es ermöglicht, dass alle notwendigen Materialien für Bereiche wie Kommunikation, Verkehr, Lebensmittelversorgung, Gesundheit und Bildung aus der Türkei bezogen werden konnten.

Ein weiteres Projekt der Türkei zielte auf die Sicherung der Städte in Nordsyrien ab. Die Türkei unterstützte die Gründung und Ausbildung der Syrischen Nationalarmee (SNA), deren militärische Schulung sowie die Versorgung mit Waffen. Darüber hinaus wurden Polizeibehörden in den Städten aufgebaut, und türkische Koordinatoren halfen bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit vor Ort.

Die Freie Syrische Armee (FSA) kontrollierte nach einiger Zeit ein Gebiet von mehreren tausend Quadratkilometern, in dem mehrere Millionen Menschen lebten. Am 17. November, als die Operation gegen Assad begann, startete die Freie Syrische Armee auch im Norden Operationen, um Gebiete unter Kontrolle der YPG/PKK zurückzuerobern.

EIN KRITISCHES THEMA: DIE BEZIEHUNGEN DER TÜRKEI ZU HTS IN IDLIB

Als Aleppo 2016 an das Assad-Regime fiel und eine massive Flüchtlingswelle in Richtung Türkei auslöste, war ich vor Ort in Syrien. Ich sah die Zeltlager und notdürftigen Unterkünfte in den ländlichen Gebieten von Idlib. Damals war Idlib ein kleiner, weitgehend unbekannter Ort. Doch durch die enorme Zahl von Geflüchteten aus Aleppo und Umgebung wurde Idlib plötzlich zu einer Stadt mit einer Bevölkerung von über einer Million Menschen.

Damit nicht genug: In den Jahren 2017 kamen Massenflüchtlinge aus Hama, 2018 aus Damaskus und Daraa, die sich ebenfalls in Idlib niederließen. Laut Berichten der Vereinten Nationen hat Idlib heute eine Bevölkerung von 4,1 Millionen Menschen.

Die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) war in Idlib bereits zuvor aktiv. Doch infolge der Angriffe von Hisbollah, dem Assad-Regime und Russland auf ihre Stellungen in Aleppo, Hama, Damaskus und Daraa zog HTS all ihre militärischen Kräfte nach Idlib zurück und baute dort eine starke Präsenz auf.

Die Türkei, die gemäß den Astana- und Sotschi-Abkommen als Garantiemacht in Idlib fungiert, knüpfte daher Beziehungen zu dieser Region. Allerdings kam es in Idlib zu Konflikten zwischen Einheiten der Syrischen Nationalarmee (SNA) und einigen Gruppen innerhalb von HTS. Die Türkei stufte HTS, die sie als Nachfolgerin der Nusra-Front betrachtet, daher als Terrororganisation ein.

Doch aufgrund ihrer Rolle als Garantiemacht und der Präsenz von Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) in der Region war die Türkei gezwungen, Beziehungen zur Verwaltung von Idlib aufzubauen. Dieser Prozess leitete die Transformation von HTS ein.

WIE HTS SICH VOM RADIKALISMUS ENTFERNT HAT UND SICH TRANSFORMIERTE

Idlib war ein Gebiet, das häufig von den Streitkräften des Assad-Regimes und Russlands bombardiert und belagert wurde. Angesichts dieser Situation hatte die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) keine andere Wahl, als sich der Türkei anzunähern, um das Überleben der Stadt mit 4 Millionen Einwohnern zu sichern.

Die Türkei verlangte, dass die ausländischen Kämpfer und extremistischen Elemente aus HTS entfernt und die Organisation zentralisiert werde, da diese Gruppen sowohl Angriffe auf die Türkei verübten als auch Konflikte mit der Syrischen Nationalarmee (SNA) verursachten. Der HTS-Anführer Golani zeigte sich diesen Vorschlägen gegenüber pragmatisch und leitete die Säuberung ausländischer und radikaler Elemente aus den Reihen der HTS ein. Teilweise führte dies zu Kämpfen, teilweise wurden diese Personen verhaftet.

In dieser Phase intensivierte HTS ihre Beziehungen zur Türkei, insbesondere im Bereich der öffentlichen und sozialen Verwaltung in Idlib. Die Hauptmotivation der Türkei war es, eine neue Migrationswelle aus Idlib infolge der Angriffe des Assad-Regimes zu verhindern. Mit der Zeit verstärkte die Türkei ihre Zusammenarbeit mit HTS, da sie die Veränderung und Transformation der Organisation beobachtete.

Der größte Fortschritt wurde im Bereich der Wirtschaft erzielt. Über die Türkei wurden Stromleitungen nach Idlib gelegt, wodurch viele Infrastruktursysteme wieder funktionierten. Zahlungssysteme wurden so eingerichtet, dass Abonnements über Banken abgewickelt werden konnten, was den Bankensektor belebte.

Durch die Unterstützung der Türkei konnten Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Kleidung und Haushaltswaren in Idlib günstiger bereitgestellt werden als in vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten. Dies führte dazu, dass selbst Menschen aus Latakia und Tartus nach Idlib kamen, um dort einzukaufen. Die Türkei setzte auch in Idlib die Unterstützung öffentlicher Dienstleistungen fort, die sie bereits in Azez, Jerablus und Afrin geleistet hatte, was zu einer sozioökonomischen Entwicklung der Stadt führte und Idlib zu einem attraktiven Zentrum machte.

Die extremistischen Aspekte von HTS wurden nach und nach abgebaut. So wurde beispielsweise das Verbot für Frauen, Fahrzeuge zu fahren, aufgehoben, und ihnen wurde der Zugang zu Bildung ermöglicht. Der Druck auf die Bevölkerung wurde reduziert. Diese Veränderungen wurden in ganz Syrien wahrgenommen und trugen dazu bei, Vorurteile gegenüber HTS teilweise abzubauen.

Eine Organisation, die weltweit als Terrorgruppe stigmatisiert und gefürchtet wurde, veränderte sich durch die Unterstützung der Türkei. In diesem Prozess wandelte sich Golani von einer harten militärischen Figur zu einem zivileren und gemäßigteren Führer.

Die Bemühungen der Türkei, HTS zu transformieren, wurden damit erfolgreich abgeschlossen.

HTS HATTE NIE DAMIT GERECHNET, DAMASKUS EINZUNEHMEN

Während die Welt Syrien in der Phase des Waffenstillstands weitgehend vergessen hatte, spielten sich dort bedeutende Entwicklungen ab. Gleichzeitig veränderten sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse in der Region in den letzten zwei Jahren durch die Kriege in der Ukraine, im Gazastreifen und im Libanon radikal. Drei Akteure, die seit 2015 das Kräftegleichgewicht in Syrien maßgeblich beeinflusst hatten, verloren in dieser Zeit erheblich an Stärke: Russland durch den Ukraine-Krieg, die Hisbollah durch den Libanon-Konflikt und der Iran durch die Auseinandersetzungen mit Israel. Diese Schwächung führte zu einem Machtvakuum auf dem syrischen Schauplatz.

Die YPG versuchte, dieses Vakuum zu füllen, konnte jedoch keinen nachhaltigen Erfolg erzielen. HTS nutzte die Gelegenheit, bereitete sich darauf vor, strategische Gebiete in den ländlichen Regionen Idlibs und um Aleppo zu erobern. Die Türkei überzeugte HTS jedoch, ihre geplanten Operationen aufzuschieben, bis die Kämpfe im Libanon abgeschlossen waren. Nach dem Ende des Libanon-Kriegs begann HTS jedoch, ihre Operationen in Syrien zu intensivieren.

HTS hatte ursprünglich nicht die Absicht, Damaskus oder sogar ganz Aleppo zu erobern. Doch als ihre Kämpfer in der Region aktiv wurden, erkannten sie die Schwäche des Assad-Regimes: Die Armee war korrupt, und die Kampfkraft der Hisbollah, der iranischen Milizen und Russlands war erheblich geschwächt. Angesichts dieser Situation entschied HTS, ihre Offensiven auszuweiten.

Nach der schnellen Einnahme von Aleppo richtete HTS ihre Aufmerksamkeit auf Hama, das ebenso leicht fiel. Danach rückten sie in Richtung Homs vor. Dort plante Golani zunächst, die Offensive zu stoppen und mit dem Assad-Regime zu verhandeln. Doch als er erfuhr, dass von Jordanien und den USA unterstützte Gruppen aus Daraa in den ländlichen Raum von Damaskus eingedrungen waren, befahl er, alle verfügbaren Kräfte auf die Eroberung der Hauptstadt zu konzentrieren.

Am 8. Dezember 2024 fiel Damaskus. Das 61 Jahre währende Baath-Regime brach zusammen, und Assad floh aus dem Land.

KEINE ERFAHRUNG IN DER STAATSFÜHRUNG, ABER UNTERSTÜTZUNG VON DER TÜRKEI

Ein HTS-Funktionär sagte zu mir: „Es fühlt sich an wie ein Traum, wir können kaum glauben, dass wir Damaskus eingenommen haben.“ Als ich Golani während eines Interviews fragte, wie es möglich sei, das gesamte Gebiet so schnell zu erobern, antwortete er: „Das Regime hat unserem Volk so viel Leid zugefügt, dass sie förmlich auf unser Kommen gewartet haben.“

Die sich verändernden geopolitischen Gegebenheiten hatten das Assad-Regime in eine äußerst schwache Position gebracht, während HTS davon profitierte. Das verrottete System des Regimes konnte mit einem gezielten Schlag zusammenbrechen.

HTS hatte in Idlib erste Erfahrungen in der öffentlichen Verwaltung gesammelt und es geschafft, aus den Fehlern des Bürgerkriegs teilweise zu lernen. So kehrte in Aleppo bereits zwei Tage nach der Einnahme Normalität ein, und es wurde auf Vergeltungsaktionen verzichtet. Das schwächte auch den Widerstand in Damaskus.

Trotz dieser Fortschritte mangelt es HTS jedoch an Erfahrung, Fachwissen und Personal, um einen Staat effektiv zu regieren. An diesem Punkt kam die Unterstützung der Türkei ins Spiel. Die Türkei trug dazu bei, die internationale Wahrnehmung von HTS zu verändern, indem sie betonte, dass HTS keine gefährliche Terrororganisation sei. Durch klug kalkulierte Schritte wurde verhindert, dass Chaos ausbrach.

Ich war überrascht, wie schnell das Leben in Damaskus wieder zur Normalität zurückkehrte. Bereits drei Tage nach der Einnahme wurde auf dem Kasyun-Berg gepicknickt, und die alten Basare in Damaskus erwachten wieder zum Leben. Die Rationierung von Brot und Benzin, die unter dem Assad-Regime an der Tagesordnung war, wurde abrupt beendet.

WIE WIRD DER NEUE STAAT AUSSEHEN?

Die größte Herausforderung für das neue Syrien ist die Frage, welche Regierungsstruktur ein Land mit so vielen ethnischen Gruppen, verschiedenen Glaubensrichtungen und Religionen haben wird. Angesichts der bitteren Erfahrungen in Ländern wie Irak, Libanon, Libyen und Afghanistan ist es entscheidend, ein ähnliches Chaos zu vermeiden. Die Türkei hat in dieser Hinsicht eine äußerst entschlossene Haltung eingenommen, da ein instabiles Syrien mit 900 km gemeinsamer Grenze und fast 4 Millionen syrischen Flüchtlingen vor allem die Türkei schwer belasten würde.

HTS hat drei grundlegende Prinzipien für die neue Regierung verkündet:

  1. Syrien wird als einheitlicher Staat regiert, eine Föderation wird es nicht geben.
  2. Alle bewaffneten Gruppen werden Teil des Verteidigungsministeriums und ihre Waffen niederlegen.
  3. Alle ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien werden in die Regierung integriert. Niemandes Lebensweise wird eingeschränkt.

Diese Prinzipien haben sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die syrische Bevölkerung beruhigt. Die Befürchtung, dass ein “Scharia-Staat” oder ein repressives Regime unter der Kontrolle einer einzigen Gruppe entstehen könnte, schwindet zunehmend, da diese Grundsätze verkündet und bisher eingehalten wurden.

Dennoch bedeutet das nicht, dass alles problemlos verläuft. Der politische, soziale und physische Wiederaufbau Syriens wird ein äußerst schwieriger und langwieriger Prozess sein. Die kommenden Monate werden entscheidend sein.

Das syrische Volk ist müde von den Jahren des Krieges und der Zerstörung und hat unermessliches Leid erfahren. Sie sehnen sich nach einem Regierungssystem und einer Struktur, die Stabilität und Gerechtigkeit für alle bietet. Dies erfordert nicht nur die Anstrengungen Syriens selbst, sondern auch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

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