Die Spinnennetz-Operation der Ukraine

Die Operation zeigte, dass jeder, der unbemerkt eindringen, sich verstecken und kleine Drohnen einsetzen kann, Ziele hinter den feindlichen Linien angreifen und die Luftstreitkräfte eines Gegners sabotieren kann.
Juni 9, 2025
image_print

Die Explosionen an mehreren russischen Luftwaffenstützpunkten tief im Landesinneren am 1. Juni 2025 waren eine deutliche Warnung für Moskaus Militärstrategen.

Der ukrainische Angriff auf Russlands strategische Bombenflugzeug-Fähigkeiten könnte die traditionellen Kriegsregeln auf den Kopf stellen: Er zeigt kleineren Armeen, wie sie durch Angriffe tief hinter der Frontlinie die Luftüberlegenheit eines Gegners untergraben können.

Die sogenannte Spinnennetz-Operation bestand aus 117 ferngesteuerten Drohnenangriffen, die über einen Zeitraum von 18 Monaten heimlich auf russisches Territorium gebracht und aus großer Entfernung auf abgestellte Flugzeuge gelenkt wurden.

Laut Kiewer Behörden wurden dabei mehr als 40 strategische Bomber des Typs Tu-95, Tu-160 und Tu-22M3 sowie ein Frühwarnflugzeug vom Typ A-50 zerstört oder funktionsunfähig gemacht – das entspricht etwa einem Drittel der russischen Langstreckenflotte und einem Materialwert von rund sieben Milliarden US-Dollar.

Selbst wenn Satellitenbilder die Zahl der Verluste später nach unten korrigieren sollten, ist das Ausmaß des Schadens nicht zu übersehen. Noch schwerer wiegt die strategische Botschaft hinter dem Angriff.

Moderne konventionelle Kriegsführung basiert auf Tiefe. Die kämpfenden Staaten bauen ihre militärische Stärke in rückwärtigen Gebieten auf, oft Hunderte oder Tausende Kilometer hinter der Front – etwa in logistischen Knotenpunkten, an denen neue Einheiten gebildet und Langstreckenbomber stationiert werden, wie jene, die am 1. Juni Ziel des ukrainischen Angriffs waren.

Seit der Invasion der Ukraine im Jahr 2022 hat der Kreml seine Bomberbasen bis zu 2.000 Meilen hinter der Frontlinie intensiv genutzt. Diese Taktik wurde mit massenhaften Angriffswellen iranischer Shahed-Drohnen kombiniert, um ukrainische Städte Nacht für Nacht unter Bedrohung zu halten.

Die russische Siegesstrategie ist brutal simpel: überwältigende Luftmacht. Wenn Raketen und Kamikaze-Drohnen oft genug auf Kiew niedergehen, soll die Moral der ukrainischen Zivilbevölkerung sinken – selbst wenn die russischen Bodentruppen an der Front feststecken.

Für die ukrainischen Militärplaner hingegen ist die Zerstörung der Abschussplattformen eine kostengünstigere und effektivere Antwort auf diese Taktik – und weitaus günstiger als das teure Abfangen jeder einzelnen Rakete in der Luft mit westlichen Abwehrsystemen, die bereits einen Wirkungsgrad von rund 80 Prozent erreicht haben, aber zunehmend Mangelware werden.

Die Verwundbarkeit von Luftwaffenstützpunkten

In der modernen Kriegsführung sind Luftwaffenbasen seit jeher kritische Ziele – denn am Boden sind Bomber und Kampfjets besonders verwundbar und vergleichsweise leicht zu treffen.

Bereits im Zweiten Weltkrieg zerstörte der britische Special Air Service (SAS) in der nordafrikanischen Wüste mit Jeep-Raids und Zeitzündern rund 367 feindliche Flugzeuge – die deutsche Luftwaffe konnte diese Verluste nie wieder vollständig ausgleichen. Im selben Jahr nahmen deutsche Fallschirmjäger die Flugfelder auf Kreta ein und verhinderten damit, dass die britische Royal Air Force dort einen Vorposten errichten konnte – ein Ereignis, das den Verlauf der gesamten Inseloperation veränderte.

Eine Generation später, im Vietnamkrieg, drangen Einsatzkommandos der Vietcong und der Nordvietnamesischen Armee wiederholt in die Umgebung amerikanischer Stützpunkte wie Phan Rang, Da Nang und Bien Hoa ein. Ausgerüstet mit Handgranaten und Mörsern setzten sie abgestellte Kampfjets in Brand und zwangen tausende US-Soldaten, sich auf die Verteidigung der Basen zu konzentrieren.

Angriffe auf Flugzeuge am Boden bleiben auch heute effektiv, weil sie eine Kette kostspieliger Reaktionen auslösen. Jede zerstörte Startbahn und jeder brennende Bomber zwingt das Militär dazu, in teure Schutzmaßnahmen zu investieren – etwa in verstärkte Hangars oder die Verteilung der Flotten auf mehrere Standorte.

Solche Angriffe binden außerdem Kampfjets, die eigentlich an der Front benötigt würden, in Schutz- und Sicherungsaufgaben im Hinterland.

Ein neues Zeitalter der Drohnenkriegsführung

Mit der Operation Spinnennetz verfolgte die Ukraine das Ziel, diese Taktik zu wiederholen und gleichzeitig durch den Überraschungseffekt einen psychologischen Schock und operative Verunsicherung beim Gegner auszulösen. Doch die Operation stützt sich auch auf eine zutiefst zeitgenössische Dimension der Kriegsführung des 21. Jahrhunderts.

Mit dem Eintritt unbemannter Luftfahrzeuge in die Schlachtfelder sprechen Militäranalysten zunehmend vom sogenannten „Air Littoral“ – der Luftküste: eine atmosphärische Zone direkt über den Bodentruppen, aber unterhalb der Höhen, in denen konventionelle Kampfjets und Bomber normalerweise operieren.

Drohnen agieren genau in diesem Raum. Sie sind niedrig genug, um von klassischen radarbasierten Abwehrsystemen kaum zuverlässig erfasst zu werden, und gleichzeitig klein und wendig genug, um vielen Infanteriewaffen zu entgehen – während sie dennoch in der Lage sind, Ziele wie Tankflugzeuge oder strategische Bomber am Boden auszuschalten.

Kiew nutzte diesen Vorteil, indem es mobile Drohnen-Teams in unmittelbare Nähe russischer Startbahnen vordringen ließ und dort provisorische Startplätze tief im russischen Hinterland einrichtete – und überraschte den Gegner damit vollständig.

Der wirtschaftliche Vorteil dieser Taktik ist ebenfalls signifikant: Eine Drohne mit Lithiumbatterie und Sprengkopf kostet oft weniger als 3.000 Dollar – ein Bruchteil der Kosten eines russischen Tu-160-Bombers, der etwa 250 Millionen Dollar wert ist.

Auswirkungen auf Russland

Selbst wenn die Operation Spinnennetz nicht so verheerend gewesen sein sollte, wie von Kiew behauptet, wird sie für Russland spürbare und kostspielige Konsequenzen haben.

Die überlebenden strategischen Bomber müssen verlegt werden. Zum Schutz der Basen vor weiteren Angriffen werden Erdschutzwälle errichtet, radar­gesteuerte 30-mm-Kanonen aufgestellt und elektronische Störsender installiert, die potenzielle Angriffswinkel abdecken sollen.

All das bedeutet erhebliche Ausgaben. Noch schwerwiegender ist jedoch, dass gut ausgebildete Soldaten und Techniker, die eigentlich für die Front im Sommer vorgesehen waren, nun für Sicherungsmaßnahmen im Hinterland abgezogen werden müssen.

Der Angriff hinterlässt zudem eine empfindliche Lücke in Russlands nuklearer Abschreckungskapazität.

Der Verlust eines Dutzends atomwaffenfähiger Tu-95- und Tu-160-Bomber ist strategisch peinlich und könnte den Kreml dazu veranlassen, die Frequenz seiner Langstreckenluftpatrouillen neu zu bewerten.

Abgesehen vom materiellen und operativen Schaden hinterlässt der ukrainische Angriff auch einen starken psychologischen Eindruck. Nach mehr als drei Jahren russischer Versuche, die ukrainische Moral zu brechen, beweist diese Aktion, dass Kiew in der Lage ist, komplexe Operationen tief im russischen Territorium durchzuführen.

Der ukrainische Sicherheitsdienst plante die Operation mit Geduld und Präzision: Über 18 Monate hinweg wurden Drohnen und Batterien in harmlos wirkenden Lieferungen versteckt über die Grenze geschmuggelt, wo sie über Wochen hinweg unauffällig montiert wurden. Die Kamerawinkel der Startfahrzeuge wurden so gewählt, dass sie in kommerziellen Satellitenbildern nicht vom normalen Lagerverkehr zu unterscheiden waren.

Anschließend steuerten die Operatoren ihre Fahrzeuge zu den vorher festgelegten Startpunkten und setzten die Drohnen in Baumhöhe ein.

Da es sich bei jeder Drohne um eine Einwegbewaffnung handelte, konnten ein Dutzend Piloten gleichzeitig, sowohl in der Nähe als auch aus der Ferne, arbeiten und die Live-Videosignale auf parkende Bomber ausrichten. Die veröffentlichten Aufnahmen zeigen nahezu gleichzeitige Einschläge über eine weite Fläche der Rollbahn – schnell genug, um Sicherheitskräfte vor Ort zu überfordern und ihre Reaktion mit leichten Waffen wirkungslos zu machen.

Eine neue Frontlinie?

Für die Ukraine markiert dieser Vorfall eine potenziell wiederholbare Methode, tief im russischen Hinterland gut geschützte Ziele anzugreifen. Dieselbe Strategie ließe sich theoretisch auch auf Raketendepots und – noch bedeutsamer – auf die Fabriken anwenden, in denen Russland die Schahid-Drohnen in Serie produziert.

Kiew musste in den vergangenen Monaten dringend eine Antwort auf Drohnen- und ballistische Raketenangriffe finden, die mehr Schaden anrichteten als russische Marschflugkörper. Laut dem „Missile War Project“ des Center for Strategic and International Studies (CSIS) sind Schahid-Drohnen aktuell die am häufigsten eingesetzte und kosteneffizienteste Luftwaffe in Russlands Kampagne.

Die Auswirkungen der Operation Spinnennetz reichen jedoch weit über den Ukraine-Krieg hinaus – denn sie erschüttern das überkommene Verständnis, dass rückwärtige Gebiete in der Tiefe eines Landes sicher seien. Vom eigenen Territorium aus gestartete, relativ günstige Drohnen zerstörten Flugzeuge, die Milliarden wert sind und das Rückgrat von Moskaus Langstreckenangriffen und nuklearer Abschreckung bilden. Es ist eine Strategie, die von anderen Akteuren gegen andere Länder leicht kopiert werden könnte.

Jeder, der in der Lage ist, unbemerkt zu infiltrieren, sich zu verstecken und kleine Drohnen einzusetzen, kann die Luftangriffskapazität eines Gegners sabotieren. Luftstreitkräfte, die sich auf große, ortsfeste Basen stützen, stehen nun vor einer Entscheidung: ihre Stützpunkte massiv zu befestigen, ihre Einheiten zu verteilen – oder anzuerkennen, dass ihre Landebahnen längst die neue Frontlinie darstellen.

*Benjamin Jensen ist Professor für Strategische Studien am College für Advanced Warfighting der Marine Corps University und Gastwissenschaftler an der School of International Service der American University.

Quelle: https://asiatimes.com/2025/06/ukraines-operation-spider-web-redefined-the-front-lines-of-war/