Die psychologischen Barrieren in der Kurdenfrage

Stellen wir uns Folgendes vor: Vor einem Jahr hätte jemand gesagt: „Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli solle einen Appell an Öcalan richten, damit er aus dem Gefängnis kommt und im DEM-Block eine Rede hält.“ Was hätten wir von dieser Idee gehalten? Hätte auch nur eine Person gesagt, dass dies möglich wäre? Nein.
Januar 19, 2025
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Stellen wir uns Folgendes vor: Vor einem Jahr hätte jemand gesagt: „Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli solle einen Appell an Öcalan richten, damit er aus dem Gefängnis kommt und im DEM-Block eine Rede hält.“ Was hätten wir von dieser Idee gehalten? Hätte auch nur eine Person gesagt, dass dies möglich wäre? Nein.

Wir hätten gesagt: „Wenn Bahçeli so eine Erklärung abgibt, würden die Nationalisten auf die Barrikaden gehen, die MHP würde auseinanderbrechen, das Chaos wäre perfekt, und das Bündnis würde zerbrechen“, oder?

Außerdem hätte es sicherlich auch Stimmen gegeben, die sagten: „Der DEM-Block würdedem niemals zustimmen, daran glauben oder es akzeptieren.“

Das ist tatsächlich eines der eindrucksvollsten Beispiele für die psychologischen Barrieren in unseren Köpfen.

Mentale Tabus

Wir erinnern uns sicherlich alle: In den 1990er Jahren, als das Sprechen der kurdischen Sprache offiziell verboten war, hätte wohl kaum jemand geglaubt, wenn jemand gesagt hätte: „Eines Tages wird das Verbot aufgehoben, und der Staat wird sogar auf TRT und durch die Anadolu-Agentur Sendungen auf Kurdisch ausstrahlen.“

Wenn man damals gesagt hätte, dass es in den Schulen Wahlfächer für Kurdisch geben wird, Kurdischkurse eröffnet werden könnten und jeder, der möchte, eine kurdische Zeitung odereinen Fernsehsender gründen könnte, hätte das wohl niemand für möglich gehalten.

Das war ähnlich wie in der Zeit des 28.-Februar-Regimes, als die Vorstellung, dass das Kopftuchverbot aufgehoben würde und Frauen mit Kopftuch als Polizistinnen, Richterinnen oder Lehrerinnen arbeiten könnten, vielen absurd erschien.

In jener Zeit existierten Tabus, die in den Köpfen der Menschen unüberwindbar schienen. Doch während der Regierungszeit der AKP wurden diese Tabus, die als unverrückbar galten, sowie die psychologischen Barrieren überwunden. Es brach weder Chaos im Land aus, noch kam es zu einem Bürgerkrieg, noch ging das Land verloren.

Die Wahrheit ist, dass diese Tabus nicht im Volk, sondern im Kopf der Staatsführung existierten. Das Volk hatte die Probleme längst überwunden, so weit, dass Kurden und Türken heirateten. Doch der Staat sah in der kurdischen Sprache immer noch die Gefahr der Zersplitterung des Landes.

Während Kopftuchträgerinnen und Frauen ohne Kopftuch problemlos miteinander lebten, betrachtete der Staat die Aufhebung des Kopftuchverbots als ersten Schritt zur Einführung der Scharia.

Die Denkweise des Staates war immer anders als die des Volkes. Tatsächlich war das Volk in allen Epochen dem Staat geistig stets einen Schritt voraus.

Die psychologischen Barrieren in der Kurdenfrage

Mit seiner unkonventionellen Aussage hat Devlet Bahçeli die psychologische Barriere in den Köpfen der Nationalisten und Ultranationalisten durchbrochen. Schauen Sie nicht auf die wenigen Kritiker: Die Mehrheit ist der Ansicht, dass in einem Umfeld, in dem die Waffen schweigen, jedes Thema diskutiert werden kann.

Ähnlich dem Prinzip „Alles existiert durch sein Gegenteil“ können in dieser Angelegenheit die gegensätzlichen Positionen diese Barrieren überwinden.

Bahçelis Aussage, dass „Öcalan aus dem Gefängnis kommen könnte“, war ein paradigmatischer Bruch, der sich direkt an die türkische Gesellschaft richtete – und sie hat eine Reaktion hervorgerufen. Nun muss auch jemand aus der kurdischen Gemeinschaft einen ähnlichen Schritt wagen, die Denkmuster durchbrechen und die psychologischen Barrieren auf dieser Seite überwinden.

So wie die Vorstellung „Wenn das Sprechen auf Kurdisch erlaubt wird, zerfällt das Land“ eine unrealistische psychologische Barriere war, gibt es eine ähnliche Barriere in der kurdischen Gemeinschaft. Diese lautet: „Wenn die PKK die Waffen niederlegt, werden wirverschwinden. Wenn wir der PKK sagen, sie solle die Waffen niederlegen, werden wir alsVerräter abgestempelt und getötet.“

Dabei gibt es innerhalb der DEM-Partei oder der kurdischen Politik viele Menschen, die die Vormundschaft der PKK, ihre unüberlegten politischen Entscheidungen und ihre Gewaltanwendung kritisieren und müde davon sind. Doch aufgrund ihrer mentalen Barrieren können sie dies nicht öffentlich äußern.

Die Existenz von Waffen verhindert den Dialog

Trägt die bewaffnete Existenz der PKK zur Diskussion der Kurdenfrage bei oder schadet sie ihr? Welche Themen möchten kurdische Politiker besprechen, bei denen der Staat sie behindert, sodass sie sich auf die Waffen der PKK stützen?

Abgesehen von der Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Staat können derzeit alle Themen wie Muttersprache im Bildungssystem oder die Definition der Staatsbürgerschaft in der Verfassung frei angesprochen und diskutiert werden. Als Journalist, der diese Themen sogar in Live-Sendungen anspricht, sage ich: Wenn wir all das im Fernsehen diskutieren können, wozu brauchen wir dann Waffen?

Die größte Hürde, mit einem Kurden über Bildung in der Muttersprache auf Augenhöhe im Fernsehen zu diskutieren, sind die Waffen der Terrororganisation. Die kurdische Politik mussdiese Realität erkennen.

Nehmen wir ein Beispiel: Wenn heute ein Tscherkesse, Bosniake oder Albaner den Unterrichtin der eigenen Sprache fordert, wie würde das aufgenommen werden? Natürlich würde man die technischen Aspekte, die Notwendigkeit und die pädagogischen Perspektiven diskutieren. Niemand würde diese Menschen als Spalter oder Verräter bezeichnen, die das Land zerstören wollen. Warum? Weil sie keinen Bezug zu Terror, Waffen oder Gewalt haben.

Die Kurden könnten sich in eine ähnliche Position bringen. Doch die Waffen verhindern, dasswir reden, uns austauschen und gemeinsam Lösungen finden können.

Wir brauchen mutige Kurden

Ein Aufruf an die PKK, die Waffen niederzulegen, ist momentan für die Kurden selbst wichtiger als für die Türken. Die PKK ist bereits nicht mehr in der Lage, innerhalb der Türkei Aktionen durchzuführen, und in Syrien und im Irak hat sich alles zu ihrem Nachteil gewendet. Unter den aktuellen geopolitischen Veränderungen und geografischen Bedingungenist das Überleben der Organisation kaum noch möglich. Sie können sich lediglich vorübergehend in Bergen und Höhlen verstecken – und auch das wird bald nicht mehr möglich sein, da die Nachschubwege blockiert werden.

Das Niederlegen der Waffen durch die PKK würde vor allem denjenigen zugutekommen, die in der Türkei, Syrien oder dem Irak eine zivile Politik betreiben und die Kurdenfrage diskutieren möchten. Denn die PKK, mit ihrer organisatorischen Struktur, ihrer Gründungsideologie und ihrem ontologischen Selbstverständnis, ähnelt den autoritären Baath-Regimen, die anderen Meinungen und Menschen keinen Raum lassen.

Denken wir an die derzeit von Zwangsverwaltern geführten Gemeinden: Fast alle abgesetzten Bürgermeister hatten eine kriminelle Verbindung zur Organisation. Hätte die DEM-Parteikeine unbescholtenen Kandidaten aufstellen können? Natürlich hat sie die Kapazitäten dazu. Doch die PKK hat in ihrer archaischen Denkweise darauf bestanden, belastete Personen als Kandidaten aufzustellen, bewusst Zwangsverwaltungen zu provozieren und einKonfliktumfeld zu schaffen. Sie hoffte, durch die Erzeugung von Opferrollen neue Anhänger zu gewinnen.

Die DEM-Partei könnte bei Parlaments- und Kommunalwahlen durchaus Kandidaten mit sauberem Leumund aufstellen, aber die Organisation verhindert dies. Der einzige Weg, sich von dieser Vormundschaft zu befreien, sind mutige kurdische Akteure, die mit unkonventionellen Vorstößen die Denkbarrieren durchbrechen. Es braucht Menschen, die ihreeigenen psychologischen Blockaden überwinden und Tabus aufbrechen.

Jeder Akteur, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und diesen Schritt zu wagen, wird einen großen Beitrag zur Kurdenfrage leisten und sich auf der richtigen Seite der Geschichte positionieren.

 

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