“Deutschland: ‘Fokus auf Indien’”

Die wirtschaftliche Krise, in die Deutschland geraten ist und die vom Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Robin Winkler, als „der offensichtlichste Rückschritt seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnet wird, muss weit über das hinaus bewertet werden, was in der türkischenÖffentlichkeit sichtbar wird, wie zum Beispiel die Absage des Projekts der deutschen Automobilriesen Volkswagen, eine Autofabrik in Manisa zu bauen, und die anschließende Ankunft des chinesischen UnternehmensBYD.
Dezember 25, 2024
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Übersetzung und Präsentation: Cengiz Sözübek

Im vergangenen Oktober veröffentlichte die deutsche Bundesregierung einDokument mit dem TitelFokus auf Indien“.

Die wirtschaftliche Krise, in die Deutschland geraten ist und die vom Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Robin Winkler, als „der offensichtlichste Rückschritt seit dem Zweiten Weltkriegbezeichnet wird, muss weit über das hinaus bewertet werden, was in der türkischenÖffentlichkeit sichtbar wird, wie zum Beispiel die Absage des Projekts der deutschen Automobilriesen Volkswagen, eine Autofabrik in Manisa zu bauen, und die anschließende Ankunft des chinesischen UnternehmensBYD.

Berichte über die Insolvenzen der zweihundertjährigenFamilienunternehmen, die das Rückgrat der deutschen Industrie bilden, oder deren Rettung durch Hilfen der Bundesregierung sind mittlerweilefast zur Normalität geworden.

Das „gemeinsame Schicksal“, das Europa und insbesondere die beiden zentralen Länder Deutschlands und Frankreichs erleben, fasst der ehemalige französische Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg prägnantzusammen: „China hat Frankreich ruiniert.“

Das von Deutschland im Jahr 2023 nach der Veröffentlichung seinerChina-Strategie herausgegebene Dokument zu Indien ist auch in Bezugauf die Position Deutschlands in der sich grob abzeichnenden neuenglobalen Achse von Bedeutung. In dem im vergangenen Jahr vorgestelltenDokument mit dem TitelStrategie zu China“ wurde diese Situation wie folgt beschrieben: „Die Gestaltung der internationalen Ordnung wird in dieser Region (Indo-Pazifik) in größerem Maße entschieden als anderswo.“

Das „strategische Bündniszwischen Deutschland und Indien ist eine Notwendigkeit zwischen einem Deutschland, das sich wirtschaftlichnahezu in einem „heißen Krieg“ mit China befindet, und einem Indien, dasnahezu sicher mit China in Konflikt geraten wird, da es an der Seite eines Trump-geführten (oder auch Trump-losen) Amerikas steht. In der deutschen Strategie zu China wurde die Sorge um Trump beinahe so ausgedrückt: „Die Feindseligkeit zwischen China und den USA widerspricht den Interessen Deutschlands.“

Die Tatsache, dass beide Länder (Deutschland und Indien) sehr speziellestrategische Bündnisse mit Israel haben, eröffnet die Möglichkeit eines trilateralen Bündnisses, das auch im Zusammenhang mit Indiens Ambitionen auf eine Führungsrolle im „Globalen Süden“ gesehen werdenkann.

Das von Deutschland veröffentlichte Dokument wurde von Amrita Narlikar, einer Senior Fellow der in Indien ansässigen Denkfabrik ORF (ObserverResearch Foundation), analysiert. Narlikar, die ihre akademische Karriere in europäischen Ländern aufgebaut hat und sich vor allem auf die Beziehungen zwischen Indien und Europa spezialisiert, beginnt ihrenArtikel mit dem TitelIst die indisch-deutsche Partnerschaft endlich bereitfür den Aufschwung?“ mit der Unterüberschrift: „Die Beziehungenzwischen den beiden Ländern waren lange Zeit voller unerfüllterVersprechen. Das könnte sich nun ändern.“

Sie beschreibt die bisherige Phase der Beziehungen der beiden Länder mit dem deutschen AusdruckLuft nach oben“ – „Raum für Entwicklung“ – und gliedert ihre Analyse in drei Unterkapitel:

1.Zunächst identifiziert sie die Hauptprobleme, die in den letzten Jahren trotz vieler positiver Faktoren, die die beiden Länder zu natürlichen Verbündeten machen sollten, zu einer schwachen Leistungder indisch-deutschen Beziehungen geführt haben.

2.Im zweiten Abschnitt erklärt sie, warum diese beiden strategischen Partner möglicherweise in eine neue Phase der Zusammenarbeit eintreten.

3.Im dritten Abschnitt gibt sie einige Warnhinweise.

Die Hauptpunkte des Artikels lauten:

1. Bilanz bisher: „Luft nach oben

Indien und Deutschland sind seit dem Jahr 2000 strategische Partner. Indien war eines der ersten Länder, das die Bundesrepublik Deutschland anerkannte, und 2021 feierten die beiden Länder das 70-jährige Bestehenihrer diplomatischen Beziehungen. Dennoch blieb die Partnerschaft ausverschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeiten eine eher kraftlosePartnerschaft.

Der häufig verwendete deutsche AusdruckLuft nach obendrängt sichauf, um die Situation zwischen diesen beiden Demokratien zu beschreiben: eine Beziehung, die ausreichend akzeptabel ist, aber vielRaum für Verbesserungen lässt. Besonders im Vergleich zur Wärme der indisch-französischen Beziehungen fällt dieser Kontrast deutlich auf.

Indien war eines der ersten Länder, das die Bundesrepublik Deutschland anerkannte, und 2021 feierten die beiden Länder das 70-jährige Bestehenihrer diplomatischen Beziehungen.

In den letzten Jahren sind unter den verschiedenen störenden Faktorendrei besonders hervorzuheben:

Erstens kann man nicht behaupten, dass Deutschland, das davon spricht, „auf Augenhöhe“ mit Indien zusammenzuarbeiten, in diesem Bereichbesonders erfolgreich gewesen wäre. Deutschlands häufige Fragen zu Werten und die hochgezogene Augenbraue im Hinblick auf den Zustandder indischen Demokratie – wie zum Beispiel vor nur wenigen Monaten im Fall der Verhaftung von Kejriwalhaben den Beziehungen nicht geholfen.

Zweitens enttäuschte Indiens Zögern, die russische Invasion in die Ukraine zu verurteilen, Deutschland, während Deutschlands Enttäuschungwiederum bei den Indern auf Missfallen stieß.

Drittens war im Gegensatz zu den indisch-französischen Beziehungen, die eine starke Komponente der Verteidigungszusammenarbeit enthalten, Deutschlands historische Zurückhaltung in diesem Bereich ein weitererabschreckender Faktor für eine Vertiefung der Zusammenarbeit zwischenden beiden Ländern. Diese Zurückhaltung Deutschlands stellt angesichtsder Herausforderungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und der weiteren Region ein ernsthaftes Problem für Indien dar.

Doch die Dinge könnten sich bald ändern.

1. Zeit für Veränderung?

In der vergangenen Woche veröffentlichte die deutsche Bundesregierungein Dokument mit dem TitelFokus auf Indien“. Dieses Dokument spiegeltdie bedeutenden Veränderungen wider, die derzeit in Deutschland stattfinden, sowie den neuen Ansatz gegenüber Indien.

Erstens bringt das Dokument eine große Wertschätzung für die indischeDemokratie zum Ausdruck. Kapitel 1 trägt den Titel: „Indien – eindemokratischer Partner Deutschlands für Stabilität und Sicherheit“. Der Kommentar zu den für 2024 geplanten Wahlen in Indien ist ein deutlichesZeichen der Unterstützung: „Die Parlamentswahlen 2024 in Indien habeneindrucksvoll die Lebendigkeit der größten Demokratie der Welt unterBeweis gestellt.“ Zudem verzichtet das Dokument darauf, Indien wie gewohnt Lektionen in Wertefragen zu erteilen, und erkennt stattdessen an, dass beide Länder gemeinsame Werte teilen, die sie zu bewahrenversuchen.

Zweitens scheut sich das Dokument nicht, die Unterschiede zwischenIndien und Deutschland in Bezug auf Russland anzusprechen. Es gehtjedoch über die bisherigen Appelle hinaus, dass Indien seine Positionüberdenken solle. Stattdessen nimmt es eine Haltung ein, die von einigen(einschließlich der Verfasserin) seit Jahren empfohlen wird – Deutschland soll zu einem verlässlichen Sicherheitspartner für Indien werden. Dies würde Indien helfen, seine Abhängigkeit von Russland bei militärischenLieferungen zu verringern.

Im Kontext von Indiens Beziehungen zu Russland, aber auch unterBerücksichtigung des Indo-Pazifiks und Indiens „unmittelbarerNachbarschaft“, geht das Dokument das dritte Hindernis der Verteidigungszusammenarbeit klar an:

„Die deutsche Bundesregierung wird daher die Rüstungskooperation mit Indien ausweiten, die Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit der Verfahrenzur Kontrolle von Rüstungsexporten weiter verbessern und die Zusammenarbeit zwischen deutschen und indischenRüstungsunternehmen fördern und unterstützen. Die Bundesregierungwird ihre Entscheidungen im Einklang mit den geltenden nationalen und europäischen Vorschriften treffen.“

Die Erweiterung und Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit mit Indien ist genau das, was benötigt wird.

Das Dokument ist auch in anderen Bereichen, in denen Deutschland bereits mit Indien zusammenarbeitet – wie Multilateralismus, grüneEnergie, Klima, Entwicklungszusammenarbeit, Handel, Migration, Forschung und Wissenschafterfolgreich. Es erkennt Indiens Errungenschaften an, einschließlich der G20 und der International Solar Alliance, und stellt richtigerweise fest, dass Deutschland von Indien lernenkann. Die Sprache in Bezug auf die Umsetzung ist entschlossen; es gehtnicht nur um das, was sein sollte, sondern auch um das, was angestrebtwird.

III. Warnungen und Einschränkungen

Obwohl das Dokument zeigt, dass Deutschland einen wichtigen und positiven Schritt auf Indien zu gemacht hat, bestehen weiterhinHerausforderungen in Bezug auf die Umsetzung und Nachhaltigkeit. Regierungen sind keine einheitlichen Akteure, und das föderale System Deutschlands ist komplex. Die Regierung von Kanzler Scholz besteht ausdrei Parteien, die nicht immer einer Meinung sind.

Selbst ohne diese komplizierten Faktoren wird die öffentliche Beteiligungund das Engagement entscheidend sein, um die im Dokument skizziertenZiele voranzutreiben. Bisher hat Deutschland weit mehr Aufmerksamkeitauf China als auf Indien gerichtet. Dies spiegelt sich in der Finanzierungakademischer Stellen und Forschungseinrichtungen sowie in der Berichterstattung der deutschen Medien über beide Länder wider, sowohlin Umfang als auch in Inhalt.

Es bleibt abzuwarten, ob Deutschland in der Lage sein wird, hochrangigeindische Experten für Indienfragen zu gewinnen und ein öffentlichesBewusstsein zu schaffen, das über klischeehafte Darstellungen des Landes hinausgeht.

Zweitens kann selbst im beeindruckenden Dokument „Focus on India“ nicht übersehen werden, dass gelegentlich alte paternalistischeTendenzen wieder zum Vorschein kommen. Ein Beispiel dafür ist der Verweis auf den Globalen Süden: Nachdem dieser Begriff dreimal erwähntwurde, wird er plötzlich mit dem Zusatzsogenanntversehen. Die Ablehnung des Globalen Südens als Begriff und als Entität hat in den letzten Jahren im Westen an Popularität gewonnen.

Für Indien und die 123 Länder, die am dritten „Voice of the Global South“-Gipfel im August 2024 teilnehmen, gibt es jedoch nichtssogenanntes“ am Globalen Süden. Darüber hinaus handelt es sich hierbei nicht „nur“ um eine Frage der Sprache, sondern es gibt auch konkrete politischeKonsequenzen.

Je mehr Deutschland die verschiedenen Identitäten und Ideen anerkenntund wertschätzt, die Indien an den Verhandlungstisch bringt, desto tieferund bedeutungsvoller wird die bilaterale Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern.

Übersetzt von: Meryem M.

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