Auf der Weltkarte, die sich von Bosnien bis Ruanda, von Birma bis Gaza erstreckt, existiert eine mit Blut gezeichnete, schmerzhafte Geografie. Hinter den Massakern, die auf diesem Boden verübt wurden, stehen nicht nur bewaffnete Kräfte, despotische Regime oder imperialistische Politiken – sondern auch Journalisten und Intellektuelle, die ihre Feder verloren, ihre Stimme eingebüßt und ihr Gewissen zum Schweigen gebracht haben. Vielleicht sind sie es, die die eigentliche Schuld tragen – weil sie weggesehen, die Agenda verzerrt und die Wahrheit hinter Vorhängen erstickt haben…
Diese „Wissenden“, die über alles sprechen, aber nichts selbst erlebt haben, sind die stillen Mittäter der Morde unserer Zeit.
Heute, während die Welt den Blick auf den Genozid in Gaza richtet, ziehen es manche Journalisten und Intellektuelle vor, die Realität weiterhin beharrlich zu ignorieren. Doch was ist ein wahrer Journalist, wenn nicht ein Zeuge seiner Zeit? Und was für ein Intellektueller ist derjenige, der beim zerstörerischen Feuer der Wahrheit schweigt?
Der berühmte Philosoph Bertrand Russell erhob 1970, kurz vor seinem Tod, noch einmal seine Stimme gegen das Massaker Israels in Palästina – mit einem kranken Körper, aber einem wachen Gewissen, bei einer Protestkundgebung. Sein Schrei erinnerte jene, die ihr Mitgefühl vergessen hatten, daran, was mit Schweigen und was mit Aufschrei entsteht.
Heute sind es Persönlichkeiten wie die bekannte Hollywood-Schauspielerin Susan Sarandon oder der amerikanische Autor Chris Hedges, die weiterhin Gazas Stimme sind.
Denn Krieg wird heute nicht nur auf dem Boden geführt – sondern auch auf dem Bildschirm, im Wort, im Bild, in der Erzählung. Es gibt Menschen, die nicht durch Bomben, sondern durch das Schweigen der Nachrichten getötet werden. Was die Kamera nicht zeigt, fällt aus der Geschichte; und was aus der Geschichte fällt, lässt sich umso leichter vernichten.
Manchmal bewirkt ein einziges Wort mehr als tausend Kugeln. Deshalb ist Journalismus nicht nur das Schreiben von Nachrichten – es ist Wache halten über die Wahrheit.
Einige wenige Journalisten leisten mit dieser Wachsamkeit Widerstand gegen das Vergessen. Einer von ihnen ist Ed Vulliamy, Reporter des Guardian. Als er am 5. August 1992 gemeinsam mit Penny Marshall und Ian Williams vom britischen Sender ITN das Konzentrationslager Omarska in der bosnischen Stadt Prijedor betrat, sah die Welt der Schande ins nackte Gesicht. Die Schlagzeile „Die Schande des Omarska-Lagers“ war nicht einfach eine Nachricht – sie war ein Spiegel der Menschlichkeit.
In den Tagen der Belagerung Sarajevos war es CNN-Reporterin Christiane Amanpour, die in einer Live-Sendung den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton scharf kritisierte – ihr Mikrofon war das der Moral, nicht der Kamera. Selbst der „Schlächter von Bosnien“, Ratko Mladić, zögerte nicht, seine Unzufriedenheit über Amanpours Berichterstattung offen zu zeigen. Denn die Wahrheit stört die Täter – immer.
Zur selben Zeit, als in Bosnien berichtet wurde, wurden in Ruanda innerhalb von nur hundert Tagen fast eine Million Menschen abgeschlachtet. Doch während Bosnien ein gewaltiges Medienecho erfuhr, blieb Ruanda nahezu unsichtbar. In jenen Tagen beschäftigten sich die amerikanischen Medien mit einer Eisläuferin, die ihre Konkurrentin attackiert hatte, mit dem Gerichtsprozess eines Footballspielers und mit Mandelas Präsidentschaft. Der Genozid verkümmerte leise – in der Ecke des Bildschirms, am Rand des Weltgeschehens.
Später kamen nur noch Bilder von verwesenden Leichen. Nicht der Tod selbst, nicht die Brutalität in den Augen der Täter, nicht das Schreien der Opfer – nichts davon wurde gezeigt. Das einzige filmische Zeugnis blieb ein zweiminütiges „Genozid-Video“ des britischen Journalisten Nick Hughes. Es entstand fünf Tage nach dem Abschuss von Habyarimanas Flugzeug. Und an jenem Tag befanden sich nur zwei ausländische Journalisten in ganz Ruanda. Das Schlachtfeld war stumm – und die Medien waren taub.
Der Kanadier Allan Thompson fasste die bittere Wahrheit später in seinem Werk „Media and the Rwanda Genocide“ zusammen: Es gab kaum Journalisten vor Ort. Die Aufnahmen kamen spät, da es an technischer Ausrüstung fehlte. Die Menschheit sah den Genozid in Zeitverzögerung. Und eine verspätete Wahrheit spricht oft nur noch mit den Grabsteinen.
Jede Nachricht, die ohne Bodenkontakt geschrieben wird, gleicht einer Geburt ohne Kaiserschnitt: Was keine Wunde gesehen, keinen Staub gerochen, kein Geschrei gehört hat, bleibt nur eine theoretische Leere. So viele Bücher man auch gelesen haben mag – man kann die Tränen einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, niemals adäquat beschreiben. Die Wahrheit hallt in den Sätzen der Journalisten wider, die durch den Staub gehen, zwischen Leichen hindurch und dem Leben trotzen.
Und doch waren es die lokalen Journalisten, die die wahrhaftigste Stimme dieses Grauens waren. Aber sie wurden zum Schweigen gebracht – oder verschwanden im Schatten ihrer „internationalen“ Kollegen. Einige, die das Schlachtfeld nie betreten hatten, reduzierten die Ereignisse einfach: „Ein Stammeskrieg“, sagten sie. „Ethnischer Konflikt“, sagten sie. „Ein arabischer Krieg“, sagten sie. Den Genozid zwängten sie in soziologische Überschriften. Auf diese Weise wurden Täter und Opfer im selben Satz gleichgesetzt. Die Gerechtigkeit ging zwischen den Zeilen verloren.
Man darf nicht vergessen: Genozid richtet sich nicht nur gegen den Körper, sondern auch gegen Gerechtigkeit, Erinnerung und Sprache. Und wenn die Medien eine Region sichtbar machen, dann richtet sich der Blick der Welt auf sie. Aber durch wessen Augen wird diese Sichtbarkeit erzeugt?
In Gaza haben lokale Journalistinnen und Journalisten jahrelang mitten aus dem Tod berichtet. Trotzdem erklärten einige ausländische Korrespondenten: „Uns fehlte der Zugang zu Informationen.“ Doch die Information war da – sie war nur für jene unsichtbar, die nicht hinsehen wollten.
Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet:
Wie kann ein Journalist, der nie das Schlachtfeld betreten hat, den Mut finden, über die Auslöschung eines Volkes zu sprechen?
Und welcher Mut ist das – der welche Wahrheit verdeckt, welche Schuld reinwäscht?
Während die moderne Medienordnung jedes Wort aus dem Westen zur „Wahrheit“ erklärt hat, kündigte die soziale Medienlandschaft eine neue Art von Revolution an.
Lokale Stimmen können heute das globale Gewissen erreichen. Die Wahrheit erklingt nicht mehr aus einem einzigen Zentrum – sie hallt durch den Staub, über Fluchtrouten, zwischen zerstörten Häusern.
Deshalb muss jeder, der über Völkermord sprechen will, zuerst schweigen – und sich dann beugen, um die Erde zu berühren.
Andernfalls bleibt das Gesagte nur ein Märchen – ein seidener Schleier, über eine mit Blut geschriebene Tragödie gelegt…