George Friedman – Kamran Bokhari – Die Zeit des Aufstiegs der Türkei
Vor etwa 15 Jahren erschien das Buch „The Next 100 Years“ („Die nächsten 100 Jahre“), das vorhersagte, dass in den kommenden Jahrzehnten drei bedeutende Mächte entstehen würden: Japan, Polen und die Türkei. Japans stabile und wachsende Wirtschaft sowie der Fokus auf militärische Entwicklung zeigen, dass seine Macht leise, aber stetig zunimmt. Polen ist heute die fünftgrößte Volkswirtschaft Europas und nimmt eine führende Rolle bei der militärischen Entwicklung des Kontinents ein. Beide Länder stehen jedoch unter dem Druck größerer Mächte: Japan muss sich mit China auseinandersetzen, während Polen mit Russland kämpft, das hinter der Ukraine steht.
Jetzt ist die Zeit für den Aufstieg der Türkei gekommen. Auch wenn das wirtschaftliche Wachstum moderat ist, verfügt die Türkei über eine Armee und eine Wirtschaft, wie sie nur wenige Länder in der Region besitzen – ein Ausdruck ihres strategischen Potenzials. Noch entscheidender aber ist die Tatsache, dass sich für die Türkei eine enorme geopolitische Chance eröffnet hat: Russlands Verstrickung in der Ukraine, die Bemühungen der USA, ihre globale Präsenz zu verringern, Irans Verluste infolge eines komplexen innenpolitischen Führungswechsels und die inneren und äußeren Krisen Israels – all das bedeutet, dass sich der Türkei in nahezu allen Richtungen, in denen sie Kerninteressen verfolgt, neue Möglichkeiten bieten.
In manchen Fällen hat die Türkei diese Chancen bereits genutzt. Schon vor der russischen Invasion in der Ukraine spielte sie 2020 im Krieg um Bergkarabach eine entscheidende Rolle, indem sie Aserbaidschan bei der Niederlage Armeniens unterstützte. Diese Entwicklung markierte eine historische Veränderung des Kräftegleichgewichts am östlichen Flügel. Die Rückeroberung dieser Gebiete durch Baku ermöglichte es sowohl Armenien als auch Aserbaidschan, sich von Russland zu lösen und sich stärker an die Türkei zu binden. Ebenso bedeutend ist das bald zu erwartende Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan, das die Entwicklung des von Ankara angestrebten Zangezur-Korridors erleichtern würde – einer wirtschaftlichen Lebensader, die den Südkaukasus durchquert. Gleichzeitig könnte dieser Korridor der Türkei eine Verbindung zu den Regionen jenseits des Kaspischen Meeres und zu den Randzonen Zentralasiens ermöglichen.
Währenddessen ist die Türkei der größte Gewinner im Konflikt zwischen Israel und Iran. Die Ausschaltung der Hisbollah-Führung und ihrer Fähigkeiten zur Frühwarnung führte zum Zusammenbruch des Assad-Regimes. Die darauffolgenden israelischen Angriffe auf den Iran schwächten die Islamische Republik erheblich. Die Türkei nutzte diese Gelegenheit rasch, um Syrien in ihre eigene Einflusssphäre zu ziehen, und unterstützte eine ihrer Stellvertretergruppen bei der Übernahme der Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus. Gleichzeitig verbesserte Ankara seine Beziehungen zu wichtigen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Türkei vollzog auch einen bedeutenden Schritt in der bilateralen Verteidigungszusammenarbeit, indem sie die Teilnahme Ägyptens am Tarnkappenjägerprogramm KAAN (TF-X) offiziell bestätigte, und begann, ihren Einfluss in Libyen zu verstärken, um ihre Macht bis in den westlichen Mittelmeerraum zu projizieren.
Im Norden versuchen europäische Staaten, eine neue Sicherheitsarchitektur zu entwickeln, nachdem sich die USA zunehmend aus ihren transatlantischen Sicherheitsgarantien zurückziehen. Auch diese Gelegenheit beginnt die Türkei zu nutzen. Erstens sucht sie eine engere Zusammenarbeit mit Polen, um gemeinsame Bemühungen zur Stabilisierung der Ukraine zu koordinieren und ihre eigenen Optionen für eine Nachkriegs-Sicherheitsordnung zu prüfen – ein Ziel, das sich deutlich im Besuch des polnischen Premierministers Donald Tusk im März in Ankara widerspiegelte. Zweitens beschleunigt Ankara in einer Zeit, in der EU und NATO immer unklarer werden, seine Bemühungen, seinen Einfluss auf dem Balkan auszuweiten. So initiierte die Türkei kürzlich die Balkan-Friedensplattform, an deren Eröffnung die Außenminister von Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und dem Kosovo sowie ein stellvertretender Minister aus Albanien teilnahmen.
All dies ist in hohem Maße durch die Schwächung Russlands möglich geworden. Besonders nach dem Einmarsch in die Ukraine zeigen sich Auswirkungen auch an Russlands südlicher Flanke – ein Umstand, von dem die Türkei in einzigartiger Weise profitieren kann. In den kommenden Jahren wird Moskaus Fähigkeit zur Machtausübung im Schwarzmeerraum weiter abnehmen. Ankara hat bereits begonnen, seine Seestreitkräfte im Schwarzen Meer einseitig und zugleich in Koordination mit der NATO zu verstärken. Zudem tritt die Türkei als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine auf. In ähnlicher Weise ist sie dabei, ihre Handels-, Verkehrs- und Sicherheitsbeziehungen mit Georgien, Rumänien und Bulgarien auszubauen.
In der Geopolitik reicht es nicht aus, Macht und Ehrgeiz zu besitzen – entscheidend ist die Gelegenheit, beides zu verwirklichen. Die Türkei scheint ein Land zu sein, das genau diesem Profil entspricht. Ihre strategische geografische Lage an der Schnittstelle zwischen Europa, dem Nahen Osten und dem Mittelmeer hat seit über einem Jahrhundert Druck auf sie ausgeübt. Doch kombiniert mit der heutigen militärischen und wirtschaftlichen Stärke birgt diese Lage das Potenzial, die bisherigen Beschränkungen zu überwinden. Angesichts ihrer inneren Herausforderungen bleibt jedoch ungewiss, ob die Türkei diese historische Chance wirklich nutzen kann.
Quelle: https://geopoliticalfutures.com/turkeys-time-to-rise/