Irans und Nahosts Schicksalswende

Unabhängig von den direkten Folgen dieses Krieges kann sich Iran schneller erholen und zu einem widerstandsfähigeren Akteur werden – vorausgesetzt, es überdenkt seine Politiken im Irak, im Jemen und in Syrien, verabschiedet sich vom sektiererischen Expansionismus und dem Streben nach Vorherrschaft, und positioniert sich stattdessen als ein organischer Bestandteil des weiten islamischen Raums. Dies wäre nicht nur Irans Rettung, sondern würde auch den Völkern der gesamten Region den Weg in eine kostengünstigere und hoffnungsvollere Zukunft ebnen.
Juni 27, 2025
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Die Wiedergeburt der Geschichte – Iran und die Schicksalswende im Nahen Osten
Manchmal wird Geschichte am gleichen Punkt neu geboren.
Der möglicherweise durch den Angriff der USA zu Ende gehende Iran-Israel-Krieg führt uns gedanklich zurück zum 8. August 1988 – dem letzten Tag des Iran-Irak-Krieges. Damals hatte Iran unter schweren Verlusten eingestanden, nicht weiter vorstoßen zu können, und den Krieg beendet. In den darauffolgenden Jahren zog sich das Land zurück und widmete sich der Heilung seiner Wunden. Doch mit der US-Invasion im Irak 2003 griff Iran erneut nach regionalen Ambitionen.
Heute steht das Land abermals an einem historischen Scheideweg: Wie viele Jahre wird die Erholung diesmal dauern? Oder schlägt Iran diesmal einen ganz neuen Weg ein?

Iran ist aus den offenen Konfrontationen mit den USA und Israel schwer beschädigt, aber nicht zerstört hervorgegangen. Es zeigen sich Rückzüge in der interventionistischen Politik, und selbst die Sorgen um expansionistische Strategien sind – wenn auch nur vorübergehend – abgeklungen. Diese Konstellation eröffnet Iran ein seltenes geopolitisches Fenster.

Wie können die Länder der Region dieses fragile Gleichgewicht zu ihrem Vorteil wenden?
Wenn Iran in diesem historischen Moment seine konfrontative Außenpolitik aufgibt und sich auf inneren Frieden und Entwicklung konzentriert, könnte die gesamte Region eine stabilere und friedlichere Grundlage finden.

Eine Chance für Irans Nachbarn: Stille Diplomatie und gemeinsame Zukunft

Irans erschütterte, aber immer noch widerstandsfähige Struktur bietet den Nachbarländern eine strategische Gelegenheit. Diese sollte jedoch nicht durch traditionelle Konfrontation, sondern durch klug ausgearbeitete diplomatische und entwicklungsorientierte Schritte genutzt werden.

•⁠ ⁠Bedingte Diplomatie und Sicherheitsdialog

Die sogenannte Track-II-Diplomatie kann vertieft werden – mit Schwerpunkten wie der Reduzierung grenzüberschreitender Konflikte, dem Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und dem Schutz der Energie- und Seewege im Golf.

•⁠ ⁠Regionale Entwicklung und gemeinsame Infrastruktur

Es könnten Projekte ins Leben gerufen werden, an denen auch Iran beteiligt ist – etwa in den Bereichen Stromnetze, Eisenbahnverbindungen und grenzüberschreitende Logistikzentren. Diese Beteiligung sollte jedoch an klare Bedingungen geknüpft werden: Beendigung der Unterstützung für Milizen und Achtung der staatlichen Souveränität.
Mit Milizen sind Gruppen wie Fatemiyoun, Zeynabiyoun, Hashd al-Shaabi oder bewaffnete Gruppierungen in Nigeria gemeint – allesamt bewaffnete Formationen im sunnitischen Raum.

•⁠ ⁠Nationale Einheit und institutionelle Resilienz

Die Nachbarstaaten sollten ihre eigene innere Widerstandskraft stärken, um mögliche Einflussräume für Iran oder andere externe Akteure zu schließen.

Ein neuer strategischer Kurs für Iran: Vom Expansionismus zur Entwicklung

Iran steht heute vor zwei Wegen: Entweder es verstrickt sich erneut im Sumpf von Stellvertreterkriegen und ideologischer Außenpolitik – oder es wendet sich nach innen und wird zum Vorreiter eines multikulturellen, entwicklungsorientierten Modells.

•⁠ ⁠Entwicklungsmodell mit innerem Fokus

Beispiele wie Vietnam oder Indonesien zeigen: Länder, die einst im Zentrum von Konflikten standen, gewannen durch die Aufgabe außenpolitischer Ansprüche und Konzentration auf inneren Wohlstand neue regionale Anerkennung. Auch Iran könnte widerstandsfähiger werden, wenn es sich vom Narrativ des „Exportes der Revolution“ verabschiedet und auf Wohlstand setzt.

•⁠ ⁠Ethnische und konfessionelle Öffnung

Mit nicht-persischen Bevölkerungsgruppen (Aseris, Belutschen, Kurden, Arabern) sollten gerechte Dialogräume im Rahmen nationaler Einheit geschaffen werden. Diese Bemühungen sollten auf systeminterne Reformen zielen, nicht auf einen Systemwechsel.

•⁠ ⁠Integration in regionale Institutionen

Iran sollte wieder in Plattformen wie die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) oder die Islamische Entwicklungsbank integriert werden – jedoch unter klaren, überprüfbaren Bedingungen. Beteiligung muss sowohl gefördert als auch kontrolliert werden.

•⁠ ⁠Islamischer und humanitärer gemeinsamer Diskurs

Ein neuer Diskurs sollte aufgebaut werden, der auf der Einheit der Umma, interkonfessionellem Frieden und gemeinsamen Werten basiert – und der direkt das iranische Volk anspricht. Die religiöse Legitimation für Milizen und Stellvertreterkriege sollte hinterfragt, stattdessen die Brüderlichkeit der Völker in den Vordergrund gestellt werden.

Strategisches Gleichgewicht zur Sicherung der Kontinuität und zur Vermeidung des Rückschritts

  • Es sollten nicht schnelle Öffnungen, sondern gesicherte Übergänge angestrebt werden.

  • Militärische Abschreckung muss erhalten bleiben, jedoch im Gleichgewicht mit politischer Flexibilität stehen.

  • Konflikte dürfen nicht als Nullsummenspiele verstanden werden; es sollten Grauzonen geschaffen und der Wandel schrittweise gestaltet werden.

  • Internationale Übereinkünfte müssen auf dem Prinzip der Unabhängigkeit beruhen und dürfen keine neue Abhängigkeit von außerrregionalen Mächten erzeugen.

Die gegenwärtig gefährlichste Option für Iran wäre es, den Umfang dieses Krieges auszuweiten. Denn jeder Schritt, den die USA unternehmen, dient letztlich Israels Sicherheit. Selbst wenn Irans Vergeltung direkt auf die USA zielt, könnte dies strategisch nutzlos sein.
Lenkt Iran seine Wut jedoch auf das Besatzungsregime Israel, kann es sowohl an Legitimität gewinnen als auch eine indirekte Antwort an die USA senden. Eine Schwächung Israels würde auch die strategischen Pläne der USA in der Region untergraben.

Fazit:
Unabhängig von den direkten Folgen dieses Krieges: Wenn Iran seine Politiken in Irak, Jemen und Syrien überdenkt, dem sektiererischen Expansionismus und dem Streben nach Hegemonie abschwört und sich als organischen Teil der islamischen Welt positioniert, kann es sich schneller erholen – und zu einem widerstandsfähigeren Akteur werden.

Das wäre nicht nur Irans Rettung, sondern würde auch den Völkern der Region den Weg in eine kostengünstigere, hoffnungsvollere Zukunft ebnen.

Und man darf nicht vergessen:
Wenn historische Chancen verpasst werden, verlieren nicht nur die Völker – es verliert ein ganzes Zeitalter.

Turan Kışlakçı

Turan Kışlakçı absolvierte sein Hochschulstudium in Islamabad und Istanbul. Seine journalistische Laufbahn begann bereits in der Mittelschulzeit. Er arbeitete als Auslandsredakteur bei der Zeitung Yeni Şafak. Kışlakçı ist Gründer der Plattformen Dünya Bülteni und Timeturk. Er übernahm leitende Funktionen bei mehreren bedeutenden Medieninstitutionen: Als Leiter der Nahost- und Afrika-Berichterstattung bei der Anadolu Ajansı sowie als Generalkoordinator bei TRT Arabisch.

Zudem war er Vorsitzender der Türkisch-Arabischen Journalistenvereinigung sowie der MEHCER-Stiftung und bekleidete das Amt des Staatssekretärs im katarischen Kulturministerium. Derzeit moderiert er die Sendung „Fildişi Kule“ (Elfenbeinturm) beim Sender Ekol TV und schreibt regelmäßig für die arabischsprachige Zeitung al-Quds al-Arabi. Er ist Autor von zwei Büchern über den Nahen Osten.

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