Der Wandel in der türkischen Außenpolitik in den letzten zehn Jahren hat nicht nur die institutionellen Strukturen verändert, sondern auch den strategischen Einfluss individueller Akteure gestärkt. In diesem Zusammenhang tritt Hakan Fidan als eine besondere Figur hervor, die nachrichtendienstliche Erfahrung mit diplomatischer Tradition verbindet. Sein Diskurs trägt die diskursiven, theoretischen und strategischen Reflexionen des türkischen Bestrebens, seine globale Rolle neu zu definieren. Berücksichtigt man, dass er am 4. Juni 2023 sein Amt angetreten hat, so ist er seit zwei Jahren im Amt. Angesichts der Vielzahl politischer und geopolitischer Herausforderungen in diesem Zeitraum ist es von Bedeutung, Fidans zunehmend sichtbaren Diskurs zu analysieren. Betrachtet man die von ihm verwendeten Begriffe, seinen Stil, seine Ausdrucksweise und seine Art der Beziehungsführung, lassen sich sieben grundlegende Themenfelder identifizieren.
Von der Nachrichtendiensttätigkeit zur Diplomatie
Hakan Fidans umfassende Erfahrung als Leiter des Nationalen Nachrichtendienstes (MİT) prägt seinen außenpolitischen Diskurs mit einem ausgeprägten sicherheitspolitischen Reflex. Er versteht Außenpolitik nicht nur als Bereich diplomatischer Höflichkeit, sondern als ein Feld, das eng mit Sicherheit, Stabilität und staatlicher Handlungsfähigkeit verknüpft ist. Dieser Ansatz rückt geheime Diplomatie, verdeckte Ausbalancierung und langfristige strategische Planung in den Vordergrund. Die in seinem Diskurs häufig betonte „datenbasierte Staatsvernunft“ lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass Entscheidungen nicht reaktiv, sondern auf Grundlage von Analyse und Information getroffen werden.
Sein Nachrichtendiensthintergrund spiegelt sich deutlich in der Maßhaltung seiner Sprache, indirekten Ausdrucksweise und strategischen Vorsicht wider. Der Übergang von einem solchen Apparat in die Diplomatie bringt eine strategische Haltung mit sich, die technisches Denken mit ausgewogener Kommunikation verbindet. Diese Herangehensweise lässt sich als sicherheitszentrierte Staatsvernunft beschreiben. In einer Konstellation, in der globale Sicherheitsbedenken zunehmen und in der inner- und zwischenallianzlichen Beziehungen zunehmend im sicherheitspolitischen statt im normativen oder politisch-prioritären Rahmen definiert werden, kann dieser Hintergrund als Vorteil gelten.
An dieser Stelle verdienen zwei Aspekte besondere Beachtung. Erstens besteht die Möglichkeit, dass der Reflex zur Abschottung, der aus der Nachrichtendienstarbeit stammt, die Dimensionen von Diplomatie, Interaktion und Wahrnehmungssteuerung in der Außenpolitik beeinträchtigen könnte. So notwendig und unabdingbar Abschottung im Nachrichtendienst ist, so erforderlich ist in der Diplomatie eine Offenheit, die operative Sensibilitäten berücksichtigt. Eine Außenpolitik, die auf offener Kommunikation und transparenter Information basiert, kann die öffentliche Wahrnehmung positiv beeinflussen. Wird dies jedoch nicht in ausreichendem Maße umgesetzt und tritt stattdessen Verschlossenheit und Vorsicht – geprägt vom nachrichtendienstlichen Reflex – in den Vordergrund, birgt dies das Risiko, dass positive Leistungen nicht wahrgenommen und entsprechend gewürdigt werden und dass andere Akteure entstehende Leerstellen ausfüllen.
Zweitens kann die Hervorhebung sicherheitspolitischer Aspekte durch den Nachrichtendienstreflex das Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft bzw. zwischen Freiheit/Demokratie und Sicherheit zugunsten von Staat und Sicherheit verschieben. Eine solche Verschiebung könnte dazu führen, dass die bürokratische Identität gegenüber der politischen Rolle überwiegt. Letztlich ist das Ministeramt ein politisches Amt.
Strategische Autonomie und die neue Multipolarität
Einer der auffälligsten Aspekte im Diskurs Hakan Fidans ist die Definition der Türkei als ein unabhängiger und autonom handelnder Akteur im globalen System. Der Begriff der „strategischen Autonomie“ beschreibt einen flexiblen und multidimensionalen außenpolitischen Kurs, der sich an den eigenen nationalen Interessen orientiert. Dieser Diskurs bringt nicht nur den Anspruch der Türkei zum Ausdruck, ein ausgleichender Akteur in der neuen multipolaren Weltordnung zu sein, sondern auch ihre Vision von einer „gerechteren Welt“.
Diese Haltung war deutlich in der Vermittlerrolle der Türkei im Russland-Ukraine-Krieg sowie in ihrer Position während des NATO-Beitrittsprozesses Schwedens und Finnlands erkennbar. Die Türkei ist zwar Mitglied des westlichen Bündnisses, bemüht sich jedoch, ihre Bündnisposition mit ihren eigenen politischen Prioritäten in Einklang zu bringen. Die Beobachterrolle in östlich geprägten Formaten wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist ein weiteres Zeichen dieser strategischen Flexibilität.
Fidans Stellungnahmen zeigen nicht nur geopolitisches Anpassungsvermögen, sondern auch ein moralisches Selbstverständnis, das auf den Globalen Süden, Afrika, den Nahen Osten und andere Teile Asiens ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang finden Begriffe wie „Gleichgewicht“, „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ häufige Verwendung in seinem Diskurs.
Institutionelle Kontinuität und technische Transformation
Während Hakan Fidan die unter der Führung von Präsident Erdoğan geformte außenpolitische Vision fortführt, misst er zugleich der Institutionalisierung und technischen Weiterentwicklung dieser Vision große Bedeutung bei. In diesem Zusammenhang erklärt er die Kontinuität der Staatsvernunft nicht durch individuelle Präferenzen, sondern durch institutionelle Kapazität. So bringt beispielsweise seine Aussage „Die Außenpolitik der Türkei wird nicht von tagespolitischen Entwicklungen bestimmt“ sowohl ein Bekenntnis zur Stabilität als auch zur institutionellen Ernsthaftigkeit zum Ausdruck. Dieser ganzheitliche Ansatz deutet auf eine Abkehr von einer personalisierten Diplomatie der Vergangenheit hin und auf eine langfristige Planung. Seine Zurückhaltung gegenüber personalisierten außenpolitischen Diskursen wird insbesondere bei öffentlichkeitswirksamen Erklärungen deutlich.
Fidans Betonung, dass Entscheidungen im Rahmen der „Staatsvernunft“ und „institutionellen Koordination“ getroffen werden, vermittelt die Botschaft, dass die Außenpolitik nicht von individuellen Vorlieben, sondern auf Grundlage institutioneller Strategien gestaltet wird. In dieser Hinsicht ist ein Bestreben erkennbar, das institutionelle Gedächtnis und das professionelle diplomatische Personal zu stärken. Sein Ansatz spiegelt zudem ein Staatsführungsverständnis wider, das Vorausschau, Kohärenz und rechtliche Legitimität in den Vordergrund stellt. Gleichwohl können bürokratische Reflexe und eine übermäßige Betonung der Theorie, wenn sie nicht durch politische Filterprozesse verlaufen, auch eigene Probleme erzeugen. Sein bürokratischer Hintergrund erleichtert es ihm, diese potenziellen Risiken zu erkennen.
Ein vielschichtiger Ansatz zur Regionalpolitik
Der Diskurs zu Regionen wie Syrien, Irak, dem Kaukasus und Afrika umfasst nicht nur eine sicherheitsorientierte Perspektive, sondern auch Elemente des Staatsaufbaus, der Stabilisierung und der multilateralen Zusammenarbeit. Formulierungen wie „Achtung der territorialen Integrität der Nachbarländer“ und „gemeinsamer Kampf gegen den Terrorismus“ zeigen, dass die Türkei nicht nur ihre eigene Sicherheit, sondern auch die regionale Ordnung als Ganzes in den Blick nimmt. Dieser vielschichtige Ansatz verdeutlicht, dass nicht auf vereinfachende Lösungen zurückgegriffen wird, sondern die komplexe Realität der jeweiligen Regionen berücksichtigt wird – mit dem Anspruch, nicht nur teilnehmender, sondern auch ordnungsschaffender Akteur zu sein.
So verfolgt die Türkei in Syrien eine Politik, die sicherheitspolitische, humanitäre und politische Lösungsprozesse parallel vorantreibt. Im Fall des Irak zeigt die gleichzeitige Kontaktaufnahme mit der Zentralregierung, der Regionalregierung Kurdistans und den turkmenischen Gemeinschaften, dass ein multi-aktorielles Diplomatiemodell verfolgt wird.
Stille Macht: Technischer und ausbalancierter Diskurs
Fidans Sprachstil ist frei von emotionalen oder populistischen Tönen – er ist technisch, ruhig und maßvoll. Begriffe wie „rationale Analyse“, „Gleichgewichtspolitik“ und „geostrategische Notwendigkeit“ gehören zu seinem regelmäßigen Vokabular. Dieser Ton zielt nicht auf Aufwiegelung der Öffentlichkeit, sondern auf Aufklärung und Positionsbestimmung der Türkei. In dieser Hinsicht lässt sich sein Diskurs als ein gelungenes Beispiel für das Konzept der „stillen Macht“ interpretieren. Diese Auffassung stellt geopolitische Rationalität in den Mittelpunkt, anstelle eines gefühlsbetonten Konfliktdiskurses. Öffentliche Äußerungen Fidans basieren in der Regel auf technischen Daten, Normen des Völkerrechts und Gleichgewichtsbegriffen. Dadurch wird Außenpolitik nicht dramatisiert, sondern mit institutioneller Ernsthaftigkeit vermittelt. Auch seine persönliche Haltung stützt diese Sprache. Dennoch ist es offensichtlich, dass die Kombination aus technischem Wissen und politischer Positionsbestimmung innerhalb der Aussagen von zentraler Bedeutung ist.
Die globale Subjektwerdung der Türkei
Fidans Rhetorik macht deutlich, dass er die Türkei nicht nur als regionale, sondern zunehmend als globale Macht positionieren möchte. Mit Begriffen wie „spielgestaltend“, „friedensstiftend“ und „ausgleichende Kraft“ betont er, dass die Türkei nicht als passiver, sondern als richtungsweisender Akteur agiert. Außenpolitik wird in diesem Rahmen nicht nur als Ausdruck nationaler Interessen, sondern als Vision verstanden, die auf globaler Gerechtigkeit, gleichberechtigter Repräsentation und Multilateralismus basiert.
Besonders die Sprache, die im Rahmen der Afrika-Politik verwendet wird, unterstreicht das Bemühen, die Türkei als globalen Akteur mit Entwicklungs-, gleichberechtigtem Partnerschafts- und institutionellem Unterstützungsanspruch darzustellen. Über Instrumente wie TİKA, die Maarif-Stiftung oder militärische Kooperationsabkommen versucht die Türkei, ihr eigenes Modell in der nichtwestlichen Welt sichtbar zu machen.
Seine Wortwahl zeigt, dass durch Verweise auf die historische und kulturelle Tiefe der Türkei eine globale Sichtbarkeit angestrebt wird – und dies nicht in konfrontativem, sondern in konstruktivem Ton. Dabei besteht allerdings die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen dem selbstbewussten außenpolitischen Sprachgebrauch und der technisch-institutionellen Kapazität, diese Rhetorik auch faktisch zu unterfüttern. Faktoren wie die wirtschaftliche Krise, welche die Leistungsfähigkeit des Staates einschränkt, oder militärische Kapazitätsgrenzen angesichts regionaler Hochrisikoszenarien, machen es erforderlich, dass diese Lücke durch Diplomatie überbrückt wird.
Suche nach Legitimität im Rahmen des Völkerrechts
Fidans Diskurs enthält Kritik an der selektiven Anwendung des Völkerrechts. Die operativen Maßnahmen der Türkei werden zumeist auf der Grundlage juristischer Prinzipien wie dem in Artikel 51 der UN-Charta verankerten „Recht auf Selbstverteidigung“ legitimiert. Dieser Ansatz zielt darauf ab, außenpolitische Entscheidungen auf eine rechtliche Grundlage zu stellen und den Anspruch auf Legitimität zu untermauern. Gleichzeitig wird er durch Kritik an den strukturellen Defiziten der Vereinten Nationen flankiert. Besonders die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrates angesichts der zivilen Opfer im Gazastreifen sowie die Doppelmoral westlicher Staaten verdeutlichen die Legitimationskrise des Systems.
Die Öffnung humanitärer Kanäle und der völkerrechtlich fundierte Waffenstillstandsappell der Türkei in diesem Kontext spiegeln diesen normativen Anspruch im Handeln wider. Gleichzeitig bemüht sich die Türkei um eine rechtsbasierte Erzählung, die der westlichen Doppelmoral entgegenwirkt. Somit basiert Fidans Diskurs sowohl auf einer moralischen Grundlage als auch auf einer strategisch-rechtlichen Ausrichtung.
Zur persönlichen Haltung und strategischen Identität Fidans
Fidan hat sich von einem technokratischen Akteur mit nachrichtendienstlichem Hintergrund zu einem einflussreichen Vertreter der internationalen Diplomatie entwickelt, dessen Identität im Einklang mit den politischen Dynamiken des Landes steht. Seine indirekte Ausdrucksweise, seine rechtlich fundierte Sprache und sein Streben nach Ausgleich unterscheiden sich deutlich von ideologischen oder populistischen Tönen. Drei zentrale Prinzipien prägen seinen Diskurs:
1. Technische Ernsthaftigkeit – ein bewusster Abstand zu politischer Inszenierung,
2. Gelassenheit – die Vermeidung emotionaler Appelle,
3. Strategische Vorsicht – ein Verzicht auf maximalistische Aussagen.
Auffällig ist jedoch, dass in seinen Reden direkte Bezüge zu universellen Normen wie Demokratie, Freiheit oder Rechtsstaatlichkeit nur selten vorkommen. Dies deutet auf eine Außenpolitik hin, die sich nicht normativ, sondern geopolitisch und realistisch orientiert. Auch wenn dieser Ansatz im Kern kohärent ist, wird er sowohl im Inland als auch von westlichen Partnern mitunter kritisiert.
Fidans persönliche Ausdrucksweise zeigt einen Wandel in der türkischen Diplomatie – weg von charismatischer Repräsentanz hin zu institutioneller Verlässlichkeit. Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung, symbolpolitischen Gesten eine professionelle, institutionelle Kommunikation entgegenzusetzen. Diese Haltung wirkt in einem internationalen Umfeld, das von regionalem Chaos und demonstrativem Führungsstil geprägt ist, als Signal für Reife und Verantwortungsbewusstsein. Innenpolitisch kann diese stille Sprache jedoch auch Nachteile mit sich bringen – insbesondere insofern, als sie seine technokratische Identität festigt und die Herausbildung eines voll ausgeprägten politischen Profils verzögern könnte.
Eine von geopolitischer Realität geprägte Rhetorik
Die außenpolitische Rhetorik Hakan Fidans geht über die traditionellen Muster der Diplomatie hinaus. Sie transformiert Parameter wie Sicherheit, institutionelle Vernunft, Geostrategie und globale Pluralität in eine eigenständige Sprache. Anders als bei der Nullsummenspiel-Perspektive der klassischen Diplomatie setzt sie auf Differenzierung. Ein wichtiger Ausdruck dieses inklusiven Ansatzes ist beispielsweise die Auffassung, dass in Bezug auf Syrien nicht nur die Türkei, sondern in erster Linie Syrien und alle Länder der Region eine gemeinsame Strategie entwickeln sollten.
Diese Rhetorik ist weder ideologischen Dogmen verhaftet, noch lässt sie sich von alltäglichen Schwankungen beeinflussen. Gleichzeitig spiegelt sie eine persönliche Haltung wider, die von strategischer Gelassenheit und institutionellem Bewusstsein getragen wird. In einem Umfeld, in dem Sicherheitsrisiken, regionale nationale Empfindlichkeiten, Ängste und Erwartungen stark polarisiert sind, kann diese kühle Haltung sowohl für die Türkei als auch für die Region als wichtige Stabilitätsanker dienen.
Tatsächlich ist Fidans Sprache die Sprache geopolitischer Realität. Wenn diese Rhetorik jedoch auf eine inklusivere und normativere Grundlage gestellt wird, könnte sie gegenüber möglichen Kritiken widerstandsfähiger werden. Eine deutlichere Betonung von Werten wie Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit würde die globale Rhetorikmacht der Türkei festigen. Eine solche Erweiterung verankert die Außenpolitik nicht nur auf der Achse von Macht und Sicherheit, sondern auch von Werten und Legitimität. Dies ist bedeutsam für die Neudefinition der regionalen und globalen Rolle der Türkei, sowohl im Hinblick auf Kohärenz, Wirkungskraft als auch Nachhaltigkeit.
Fidan legt Wert darauf, anstelle von konfrontativen oder ideologisch geprägten Behauptungen eine kalkulierte, institutionell kontinuierliche und geopolitisch bewusste Sprache der Außenpolitik zu etablieren. Seine persönliche Haltung stärkt diese Sprache zusätzlich: bewusst, zurückhaltend, aber entschlossen. Diese Haltung kann die Grenzen der türkischen Diplomatie im 21. Jahrhundert neu gestalten.