Die Zukunft an die Wände schreiben: Die Erinnerung und Prophezeiung der Wandgraffiti

Auch in den scheinbar fortschrittlichen liberal-kapitalistischen Metropolen der Welt tragen Wandgraffiti düstere Eindrücke von der Zukunft in sich. Das Graffiti von Banksy in London, das einen kleinen Jungen zeigt, der die Worte „eine Nation unter Überwachung“ an die Wand malt – genau neben echten Überwachungskameras –, ist eine stille und ironische Offenbarung des Offensichtlichen in Bezug auf die durch Edward Snowden aufgedeckten Methoden der Massenüberwachung. Ein weiteres Werk desselben Künstlers an der Sperranlage im Westjordanland – die inoffiziell, aber zutreffender „Mauer der Schande“ genannt wird – zeigt einen „blumengeschmückten Riss“ und verweist prophetisch auf den Tag, an dem auch diese Mauer fallen wird.
Mai 24, 2025
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Die kalten und oft unauffälligen Flächen der Mauern sind im Laufe der Geschichte zu den heißesten Erinnerungsorten oppositioneller Bewegungen geworden. Diese Inschriften oder Darstellungen, die im Moment ihres Entstehens oft als flüchtig erscheinen, sind Träger von Wut, Hoffnung und Imagination, die sich nicht auf Papier bannen lassen. Jeder Ausdruck, der auf einer Mauer Platz findet, durchbricht das als „natürlich“ geltende Schweigen der bestehenden Ordnung und verleiht dem Ort, an dem er sich befindet, eine neue Bedeutung. Dass Wandgraffiti über eine bloße Protestform hinausgehen und die Funktion einer Prophezeiung oder einer frühen Warnung für die Zukunft übernehmen können, verwandelt sie von einem ästhetischen Ausdruck oppositionellen Denkens in eine konkrete Manifestation politischer Weitsicht.

Die an die Wand eines Gasthauses im antiken Pompeji geritzte Aufforderung „Stimmt für Sabinus!“ kann als Vorbote moderner Wahlpropaganda gelten – bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass solche Inschriften nicht nur das politische Klima der Stadt dokumentierten, sondern auch Hinweise auf den zukünftigen Verlauf öffentlicher Handlungsfähigkeit lieferten. Die sozialen Spannungen Roms lassen sich ebenso aus Beleidigungen an den Mauern ablesen wie aus prägnanten Slogans darüber, was die Bürger von welchem Kandidaten erwarteten. Diese bei archäologischen Ausgrabungen ans Licht gebrachten Schriftzüge überliefern ein alternatives Geschichtsbild, das im Widerspruch zur offiziellen Rhetorik der Epoche steht, und werfen ein Licht auf politische Umbrüche vergangener Zeiten. Walter Benjamins Engel der Geschichte sieht nicht nur den Trümmerhaufen, der sich vor ihm auftürmt – im Rückblick nimmt er zugleich das Kommende wahr. In diesem Sinne fungieren Wandgraffiti als Zeugnisse, die sowohl die Vergangenheit festhalten als auch die Zukunft vorwegnehmen.

James C. Scotts Begriff der „verdeckten Transkripte“ bringt die stillen Erzählungen des Widerstands ans Licht, die sich im Schatten der Macht entfalten. Wandinschriften sind die sichtbarste Form dieser verdeckten Texte. Ein Satz, der um Mitternacht auf einer Mauer erscheint, artikuliert am Tage eine Wahrheit, die alle kennen, aber niemand auszusprechen wagt. Der in den letzten Jahren der Sowjetunion auf Moskaus Straßen häufig zu lesende Slogan „UdSSR – ein Land ohne Zukunft“ war eine rebellische Fußnote unter der halb-offiziellen Hoffnungssprache der Glasnost-Ära. Der Zusammenbruch im Jahr 1991 bestätigte diese Prophezeiung in historischer Perspektive. In der postsowjetischen Welt begannen Historiker sogar, Wandgraffiti als Frühwarnarchive neben offiziellen Archiven zu untersuchen, denn im Gegensatz zu bloßen Gerüchten aus der mündlichen Überlieferung spiegelten die Spuren auf den Wänden das kollektive Gedächtnis wider. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Miglena Ivanovas Aufsatz „Graffiti and the Symbolic Dismantling of the Berlin Wall“.

Ähnlich schreiben auch die Mauern Lateinamerikas eine visuelle Chronik des Widerstands gegen den Imperialismus und sind voller Beispiele, die als Vorboten der Zukunft gelesen werden können. In David Alfaro Siqueiros’ Wandgemälde América Tropical, das er 1932 in Los Angeles schuf, ist ein Indigener zu sehen, der unter den Klauen eines amerikanischen Adlers gekreuzigt wurde. Auch wenn es sich nicht um eine Schrift, sondern um ein Bild handelt, ist América Tropical sowohl eine Allegorie auf die koloniale Herrschaft seiner Zeit als auch eine prophetische Darstellung der noch bevorstehenden antiimperialistischen Kämpfe.

Die sogenannten bici-Graffiti in Argentinien kündigten ihrerseits an, dass die Diktatur von 1976 bis 1983 nicht straflos bleiben würde. Tatsächlich wurde mit dem von Néstor Kirchner im Jahr 2003 eingeleiteten Prozess juicio y castigo (Rechtsprechung und Bestrafung) die in den Wandinschriften zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Gerechtigkeit in ein konkretes politisches Programm übersetzt.

Der Arabische Frühling wiederum bot vielleicht die unmittelbarsten Bestätigungen der prophetischen Funktion von Wandgraffiti. Gleich nach der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi in Tunesien erschien der Slogan „Das Volk will das Regime stürzen“ an den Wänden von Sidi Bouzid. Innerhalb weniger Tage wurde er zur nationalen Hymne des Aufstands – und breitete sich von Tunesien nach Ägypten, Libyen und schließlich über die gesamte Region aus. In Syrien war es der Satz „Doktor, jetzt bist du dran!“, mit Sprühfarbe an die Wand einer Schule in Daraa geschrieben, der eine direkte Drohung an Baschar al-Assad formulierte – nachdem zuvor die Führer in Tunesien und Ägypten gestürzt worden waren. Diese Prophezeiung gründete nicht auf romantischer Verklärung, sondern auf einem praktischen politischen Instinkt: Die in Graffiti verkörperte kollektive Psychologie sagte, „Ist es einmal im Gange, gibt es kein Zurück.“ Und tatsächlich – wenn auch mit mehr als zehnjähriger Verzögerung – kam schließlich auch Assads Ende.

Auch in den scheinbar fortschrittlichen liberal-kapitalistischen Metropolen der Welt tragen Wandgraffiti düstere Eindrücke der Zukunft in sich. Das Graffiti von Banksy in London, das einen kleinen Jungen zeigt, der den Satz „eine Nation unter Überwachung“ an eine Wand malt – exakt neben echten Überwachungskameras –, ist eine stille und ironische Offenlegung der von Edward Snowden enthüllten Methoden der Massenüberwachung. Ein weiteres Werk desselben Künstlers, der „blumengeschmückte Riss“ an der Sperrmauer im Westjordanland – treffender „Schandmauer“ genannt –, symbolisiert die Hoffnung und Prophezeiung, dass auch diese Mauer eines Tages fallen wird.

Henri Lefebvre betont in Die Produktion des Raums, dass die emotionale, soziale und symbolische Beschaffenheit der Stadt ständig Schauplatz eines Machtkampfes ist. Das Wandgraffiti erscheint in diesem Ringen wie eine Wunde, die als „anormal“ übermalt wird – und doch nie heilt, sondern immer wieder hervortritt. Die unter dieser Wunde verborgene Prophezeiung lässt sich auch mit Michel de Certeaus Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik lesen: Gegenüber der raumgreifenden Strategie der Macht hinterlassen oppositionelle Subjekte taktische Spuren, durch die sich die Zukunft erahnen lässt. Der im Moment des Widerstands gelebte Taktikakt verwandelt sich durch den Wunsch, die Zukunft zu erobern, in eine dauerhafte Strategie. Wandinschriften sind die schriftlichen Zeichen dieses dynamischen Prozesses.

Allerdings birgt die Faszination solcher prophetischen Metaphern auch die Gefahr, Wandgraffiti zu romantisieren. Nicht jede Inschrift oder jedes Kunstwerk enthält eine realistische Voraussicht. Manche versprechen tatsächlich eine bevorstehende Revolution, andere dagegen werden selbst Jahre später noch durch neue Schichten von Hoffnung übermalt. Selbst das „Jetzt bist du dran, Doktor“ brauchte vierzehn Jahre, um sich zu bewahrheiten. Prophezeiung ist daher ein vielschichtiger Prozess, der sich nicht auf das binäre Schema von richtig oder falsch reduzieren lässt. Umso wichtiger ist es, hinter dem poetischen Glanz auch die konstitutive Realität zu erkennen: Wandinschriften erzeugen in erster Linie ein öffentliches Emotionsregime. Sie erneuern und stärken kollektiven Mut. Durch den in der politischen Psychologie bekannten Erwartungseffekt tragen sie dazu bei, dass die vorhergesagte Zukunft allein durch ihre Artikulation wahrscheinlicher wird. Kurz: Wandgraffiti sind ein Akt, der die Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu verkürzen vermag.

Im digitalen Zeitalter vervielfältigt sich diese Handlung – beschleunigt durch die Dynamik der sozialen Medien – in Form virtueller Wände. Ein Protestgraffito, das auf Instagram geteilt wird, kann sich innerhalb von Minuten in ein globales Symbol des Widerstands verwandeln. So bewahren Hunderte sich viral verbreitender Bilder in der digitalen Sphäre die ursprüngliche Wand als eine Art sakrales Erbe. Selbst wenn die originale Inschrift übermalt wird, hallt ihre visionäre Stimme im digitalen Gedächtnis unaufhörlich wider.

An dieser Stelle verdient auch die „Gedächtnispolitik“ der Wandgraffiti Aufmerksamkeit. Im Vergleich zum monolithischen Granit offizieller Denkmäler wird die Zerbrechlichkeit von Wandinschriften zur Quelle ihrer Würde. Die Drohung der Auslöschung ist gerade das, was sie stark macht. In Regimen, in denen das kollektive Gedächtnis vereinheitlicht wird, schaffen Wandgraffiti einen inoffiziellen Erinnerungsraum. Die Wandgemälde des chilenischen Künstlers Alejandro González während des Volksaufstands 2019 aktualisierten den Stil der Brigada Ramona Parra – ein Erbe der Pinochet-Zeit – und verwandelten sich in das visuelle Manifest der Forderung nach einer neuen Verfassung in Chile.

Andererseits versuchen Machtapparate stets, diese prophetischen Inschriften zu tilgen oder durch ihre Vereinnahmung zu entschärfen. Dass ein Teil der Berliner Mauer nach ihrem Fall in die East Side Gallery verwandelt und zu einer touristischen Ausstellung gemacht wurde, zeigt die Möglichkeit, dass sich eine erfüllte Prophezeiung in eine Ware verwandeln kann. Dennoch bleibt auch dies ein Bote neuer Weissagungen: Inmitten der Blitzlichter, die aus Touristenbussen aufflackern, ist der Slogan „This wall will fall“ (Diese Mauer wird fallen) noch immer zu lesen. Und obwohl die Berliner Mauer längst gefallen ist, steht dieser Satz heute auch auf der Schandmauer im Westjordanland geschrieben.

Wandgraffiti sind somit wie Derwische, die die Grenzen des Raums überschreiten. Der Slogan eines gestürzten Regimes in einem Land wird zur Inspirationsquelle für eine ersehnte Freiheit in einem anderen. Die Zukunft ist an die Wände geschrieben.

Dr. Ensar Kıvrak

Ensar Kıvrak wurde 1992 in Ankara geboren. Er absolvierte 2015 das Fachgebiet Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung an der Universität Kocaeli. 2018 schloss er seinen Masterabschluss in Politikwissenschaft an der Universität Sakarya ab. Im Jahr 2024 erlangte er dort mit seiner Dissertation „Die soziopolitischen Möglichkeiten des patriotischen Engagements ohne Nationalismus: Eine theoretische Diskussion“ den Doktortitel. Derzeit arbeitet er als Forschungsassistent im Fachbereich Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung an der Universität Sakarya. Er ist verheiratet und Vater von drei Töchtern.

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