Der Westen ist nicht blind, aber er kann nicht sehen
Im aufrichtigen Dialog mit Jeffrey D. Sachs
Ich habe viele Texte über die Übergangsgesellschaft verfasst, in der wir leben. Jedes Mal kommt mir Antonio Gramscis berühmter Gedanke in den Sinn: Das Alte ist noch nicht ganz verschwunden, das Neue hat sich noch nicht vollständig durchgesetzt; die Übergangszeit ist die Zeit der krankhaften (in manchen Übersetzungen als „Monster“ bezeichneten) Erscheinungen. Doch das, was in der Welt geschieht, bringt mich zunehmend dazu, die Nützlichkeit des Begriffs „Übergang“ zur Beschreibung unserer Zeit in Frage zu stellen. Immer mehr neige ich zu der Überzeugung, dass – wenn wir schon auf berühmte und prägnante Formulierungen zurückgreifen müssen, um unsere Lage zu beschreiben – Goyas Aquatinta aus dem Jahr 1799 El sueño de la razón produce monstruos („Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“) die treffendere Wahl wäre. Statt einer Metapher der Bewegung, eine Metapher des Zustands.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine stimme ich der Analyse von Jeffrey Sachs (JS) zu, und wir haben sogar über die Punkte, in denen sich unsere Ansichten überschneiden, Nachrichten ausgetauscht. In seinem am 11. April auf OtherNews veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Die Geburt einer neuen internationalen Ordnung“ verwendet JS den Begriff „Übergang“, um unsere Zeit zu beschreiben: der Übergang von einer unipolaren Welt – seit dem 15. Jahrhundert vom Westen, im letzten Jahrhundert insbesondere von den USA dominiert – hin zu einer multipolaren Welt, deren Zentrum in Asien, Afrika und Lateinamerika liegt. Der zentrale Vorschlag von JS zur Ermöglichung dieses Übergangs besteht im Aufstieg Indiens (den er positiv mit dem Chinas vergleicht) und in der geopolitischen Umgestaltung, die Indien einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verschaffen soll.
Ich bin nicht gegen den Vorschlag von JS; aber es ist problematisch, Indien in einem Moment zu rühmen, in dem es – durch den politischen Hinduismus – über 20 % seiner Bevölkerung (die Muslime) zu Bürgern zweiter Klasse degradiert und die schlimmste Phase seiner demokratischen Geschichte erlebt. Zudem teile ich nicht die Bedeutung, die JS diesem Vorschlag beimisst. Sein Vorschlag beruht leider auf zwei fehlerhaften Prämissen: Erstens, dass die Vereinten Nationen noch eine gewisse Wirksamkeit besitzen; und zweitens, dass wir es mit einer tatsächlich existierenden unipolaren Weltordnung zu tun haben. JS glaubt vielleicht aus Verzweiflung weiterhin an die internationale Rolle der UNO. Doch wie kann man nach dem seit über einem Jahr täglich live übertragenen Völkermord in Gaza noch an die UNO glauben? Wie kann man nach all den tolerierten Lügen auf dem Balkan, im Irak, in Syrien, in Libyen, im Jemen, in Afghanistan und in der Ukraine noch an die UNO glauben? Erinnern wir uns an zwei tragische Wahrheiten: All diese Lügen wurden im Moment ihrer Verbreitung zuverlässig aufgedeckt, und diejenigen, die sie aufdeckten, zahlten einen hohen Preis: Sie wurden zum Schweigen gebracht, ausgewiesen, durch Medien und Justiz unter Druck gesetzt. All diese Lügen wurden Jahre später – oft von denselben Institutionen oder deren Sprecher:innen, die sie einst verbreiteten – bestätigt: sei es die New York Times, die Washington Post oder deren riesige Echokammern, die der hegemonialen Weltpresse Signale senden. Niemand entschuldigte sich bei jenen, die in einer Zeit, in der Wahrheit verboten war, die Wahrheit sagten. Und keine Entschädigung wurde den Völkern gezahlt, die auf Grundlage dieser Lügen zerstört wurden. Wer erinnert sich noch daran, dass Libyen einst eines der besten öffentlichen Gesundheitssysteme der Welt hatte?
Die zweite Prämisse ist die Annahme, dass eine unipolare Weltordnung existiert.
Selbst während des Bestehens des sowjetischen Blocks lässt sich hier nicht im Detail diskutieren, ob die Weltordnung wirklich unipolar war. Wie dem auch sei, für eine gewisse Zeit existierte eine solche Ordnung tatsächlich. Zum Beispiel im Jahr 2005, als Narendra Modi aufgrund von Menschenrechtsverletzungen (das Massaker an Muslimen in Gujarat 2002) die Einreise in die USA untersagt wurde – in dieser Zeit gab es eine solche Ordnung. Aber existiert diese Ordnung heute noch, wo ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher vom US-Kongress mit stehenden Ovationen empfangen wird?
Wenn die Welt als unipolar gilt, nur weil das mächtigste Land zugleich das größte Chaos verursacht, ist das dann nicht eher eine Welt-Unordnung? Kann man heute wirklich glauben, was über China gesagt wird, wenn das, was vor fünf Jahren über China gesagt wurde, tatsächlich stimmte (selbst wenn das, was heute ans Licht kommt, schon lange im Hintergrund vorbereitet wurde)? Kann man ernsthaft an die Stabilität einer unipolaren Ordnung glauben, die auf einer Dichotomie zwischen Demokratie und Autokratie beruht, wenn der Präsident des angeblich stärksten demokratischen Landes ausschließlich Autokraten zu seinen „besten Freunden“ zählt?
Seit einigen Jahren (insbesondere seit dem 11. September) wird die amerikanische politische Klasse nicht mehr vom Gedanken einer Weltordnung, sondern vom Gedanken imperialer Vorherrschaft geleitet. Lesen Sie das Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert oder die Wolfowitz-Doktrin; darin wird klar formuliert, dass die USA unilateral handeln müssen, wenn „kollektives Handeln nicht organisiert werden kann“. Das ist kein Prinzip von Ordnung. Das ist ein Prinzip des Chaos.
Die Soziologie der Abwesenheiten: Der Schlaf der Vernunft
Trotz aller Weitsicht von JS führen seine Analysen und Vorschläge zu zwei Abwesenheiten – zwei Realitäten –, die zwar existieren, aber so produziert werden, als ob sie nicht existierten. Daher können sie weder zur Diagnose noch zur Lösung beitragen. Die Abwesenheit solcher Realitäten ist kein Resultat des Willens des Analytikers, sondern entspringt den epistemologischen Voraussetzungen seiner Analyse. Sie ist ein Ergebnis des Schlafs der Vernunft.
Das zentrale Problem des Westens liegt nicht so sehr im gegenwärtigen Zustand der Welt, den er herbeigeführt hat, sondern in dem epistemischen Völkermord (epistemicide), den er im Laufe seiner Geschichte begangen hat – mit anderen Worten, in der aktiven Zerstörung von Weltwissen und -erfahrungen zur Durchsetzung seiner Hegemonie und zur Neutralisierung jeglichen Widerstands. Diese Zerstörung betrifft nicht nur Körper und Lebensweisen. Sie umfasst auch Wissen, Weisheit und ethisches Verstehen; sie betrifft die Weisen des Zusammenlebens von Menschen und Völkern, die Beziehungen zur Natur, zu den Lebenden und den Toten, zu Raum und Zeit – also die Kultur der Beziehungen.
Diese vielschichtige Zerstörung hat eine spezifische Form von Blindheit hervorgebracht: Sehen ohne zu erkennen, erklären ohne zu verstehen, beobachten ohne zu wissen, dass Beobachtung auch beobachtet werden muss. Unter den vielen Abwesenheiten hebe ich zwei besonders hervor: das Andere/Nutzlose, das jenseits der Freund/Feind-Dichotomie liegt, und das Leben und Lebenlassen, das jenseits der Ordnung/Unordnung-Dichotomie steht.
Das Andere und das Nutzlose
Kolonialismus und Kapitalismus sind die Zwillingsformen moderner Herrschaft. Beide beruhen auf hierarchischen Logiken: überlegen/unterlegen, habend/nicht-habend. In beiden Fällen bestimmt die erste Kategorie die zweite. Das Unterlegene ist nur im Hinblick auf das Interesse des Überlegenen unterlegen; nach vielen anderen Maßstäben könnte es überlegen sein, doch diese Überlegenheit ist für den Überlegenen irrelevant. Der Besitzende definiert, was (materiell oder immateriell) als wertvoll gilt und wer was besitzt; der Besitzlose kann viele Dinge besitzen, die aus der Perspektive des Besitzenden als wertlos oder nicht existent gelten.
Diese beiden Logiken zeigen unterschiedliche Seiten der Herrschaft, sind aber untrennbar miteinander verwoben. Überlegen zu sein, ohne über wertvollen Besitz zu verfügen, ist begrifflich ein Widerspruch, ein Oxymoron. Diese beiden Logiken haben zwei Arten dichotomer hegemonialer sozialer Beziehungen hervorgebracht: nützlich und schädlich; Freund und Feind. Die erste wurde gut von Jeremy Bentham, die zweite von Carl Schmitt theoretisiert.
Das koloniale kapitalistische Denken des Westens hat den Menschen systematisch verlernt, die Bedeutung des Anderen und des Nutzlosen zu erkennen; denn diese beiden Elemente passen in keiner Weise in die genannten hierarchischen Logiken. Der Westen hat sie daher entweder völlig ignoriert oder – wenn sie keine Bedrohung mehr darstellten – in jenes Feld verbannt, das er als harmlos betrachtet: die Kunst. Damit hat er ihnen den Anschein der „Überflüssigkeit“ verliehen.
Leben und Lebenlassen
Die beiden oben genannten hierarchischen Logiken des Kolonialismus und Kapitalismus haben seit dem 15. Jahrhundert Leben und Tod bestimmt. Weil das schützenswerte Leben als das Leben der Überlegenen und Besitzenden definiert wurde – und die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung nicht zu diesen Kategorien zählt –, ist die Moderne durch die Erfahrung des Todes geprägt worden, ja sogar durch seine Verwandlung in ein Spektakel. Der Tod betraf nicht nur untergeordnete, enteignete Menschen, sondern auch alle Lebewesen, die Natur und das Leben im Allgemeinen. Der Tod von Flüssen, Bergen und Wäldern – also der natürlichen Ressourcen, die von den Überlegenen akkumuliert wurden – wurde mit theologischen, ethischen, wissenschaftlichen und vor allem ökonomischen Argumenten gerechtfertigt. So sind wir an die Schwelle jenes Zeitalters des ökologischen Zusammenbruchs gelangt, in dem wir heute leben. Die ethnische Säuberung in Gaza ist das jüngste abscheuliche Kapitel in einer langen Geschichte der ethno-sozialen und natürlichen Säuberung – gegen Menschen, subhumane Wesen und Nicht-Menschen.
Eine Weltordnung, die auf denselben epistemischen und ethischen Voraussetzungen beruht wie seit dem 15. Jahrhundert – sei sie unipolar oder multipolar –, wird zur Durchsetzung des Prinzips Leben und Lebenlassen nichts beitragen können.
Schlussfolgerung
Der Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt ist an sich weder gut noch schlecht. Die wahre Alternative besteht darin, die Bereiche des Anderen und des Nutzlosen als zivilisatorische Werte zu erweitern: das Andere als Vielfalt, das Nutzlose als eine andere Form des Nützlichen (usefulness-otherwise). Die wahre Alternative ist, dem Leben einen Wert beizumessen – einen Wert, der nur durch das Leben selbst und durch das Zulassen von Leben respektiert werden kann.
Nach fünf Jahrhunderten kultureller, epistemischer und ethischer Indoktrination hege ich ernsthafte Zweifel daran, dass das westliche Denken in der Lage ist, eine multipolare Welt zu entwerfen oder in diesem Prozess eine führende Rolle zu spielen. Der Westen wird niemals lernen, ein Gleicher unter Gleichen zu sein. Darüber hinaus sind die Werte des Andersseins, des Nutzlosen sowie des Lebens und Lebenlassens in jenen Weltregionen, auf die JS Hoffnung setzt – Asien, Afrika und Lateinamerika – viel stärker präsent als in der hegemonialen westlichen Denktradition. Doch das allein ist keine Garantie. Denn nach fünfhundert Jahren globaler Vorherrschaft hat sich das westliche Denken besonders in den Eliten dieser Länder heimtückisch eingenistet – und gerade diese Eliten werden sehr wahrscheinlich jene neue (in Wahrheit jedoch alte) multipolare Welt gestalten.
Deshalb sind für mich die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen dieser Regionen jene, die über die größte Kraft verfügen, um den jahrhundertealten epistemischen Völkermord (epistemicide) zu bekämpfen. Und sie werden dies aus der Kraft ihrer eigenen, über Jahrhunderte gewachsenen Erfahrungen heraus tun. Diese Erfahrung hat stets zwischen Krieg und Revolution geschwankt. Heute – selbst wenn wir uns nicht schon mittendrin befinden – schreiten wir schlafwandlerisch auf einen Dritten Weltkrieg zu; vielleicht ist es an der Zeit, die Begriffe von Revolution und Befreiung neu zu denken, in neuen Begriffen zu fassen. Nur dann kann die vom Kapitalismus und Kolonialismus eingeschläferte Vernunft wieder erwachen.
Quelle: https://znetwork.org/znetarticle/the-west-is-not-blind-but-it-cannot-see/