Zwei Probleme, ein Gewissen: Israel, Amerika und die Unmoral der Macht

Der Krieg in Gaza hat eines deutlich gemacht: Die Krise ist längst nicht mehr auf den Nahen Osten beschränkt. Das, was geschieht, ist ein Test für die moralische Integrität der Welt. Von Frieden zu sprechen, während man eine dauerhafte Besatzung toleriert, ist Heuchelei. Führungsanspruch zu erheben, während man das Recht ignoriert, bedeutet Selbsttäuschung. Das „Israel-Problem“ und das „USA-Problem“ sind in Wirklichkeit ein und dasselbe Problem – das Problem einer Macht, die sich von Gewissen, Moral und menschlichen Werten gelöst hat. Die Geschichte zeigt, dass Imperien nicht nur durch Überdehnung, sondern auch durch moralische Erschöpfung untergehen. Solange beide Länder und ihre Unterstützer die Kluft zwischen ihren Idealen und ihrem Handeln nicht überwinden, wird diese Erschöpfung weiter vertieft.
Oktober 28, 2025
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Der Krieg in Gaza hat nicht nur das Leben von Millionen Palästinensern zerstört, sondern auch das Gewissen der Welt verletzt. Über Monate hinweg strömten ununterbrochen Bilder herein: die Trümmer der Stadt Gaza, vertriebene Familien, bombardierte Krankenhäuser, Schulen und Gotteshäuser… Während die physische Zerstörung anhielt, trat eine tiefere Spaltung zutage – zwei miteinander verwobene Krisen, die die globale Politik prägen.

Die erste ist das Israel-Problem: jahrzehntelange Besatzung, Massaker, der Einsatz übermäßiger militärischer Gewalt und die Fortsetzung all dessen ohne Konsequenzen. Israel wird zu einer zentralen Bedrohung für globale Sicherheit und Frieden. Die zweite ist das Problem der Vereinigten Staaten (USA): der automatische, bedingungslose Support Israels durch verschiedene Institutionen wie den Senat, das Repräsentantenhaus, Außenpolitik, Verteidigung und Geheimdienste. Diese Unterstützung schafft unter dem Einfluss einer politischen und bürokratischen Elite ein moralisches und strategisches Dilemma für das Land. Zusammen spiegeln diese beiden Probleme den Zusammenbruch der internationalen Ordnung wider, die einst behauptete, Gerechtigkeit, Recht und Menschenwürde zu verteidigen.

Das Israel-Problem: Straflosigkeit, Besatzung und Massaker

Israel verletzt seit über einem halben Jahrhundert das Völkerrecht und besetzt palästinensische Gebiete. UN-Resolutionen forderten den Rückzug Israels, die Anerkennung der Rechte der Palästinenser und die Sicherung ihrer Souveränität durch politische Lösungen. Trotz dieser Resolutionen vertiefte sich die Besatzung, und die Gewalt erreichte beinahe ein Ausmaß von Völkermord. Juristen, Menschenrechtsorganisationen und selbst einige Israelis bezeichnen die aktuelle Verwaltung als Apartheid. Die jüngste Gaza-Invasion ist kein isoliertes Ereignis, sondern Teil eines strukturellen Problems in einer permanenten Belagerung.

Die israelische Regierung rechtfertigt jedes Massaker mit dem Anspruch auf „Recht auf Selbstverteidigung“. Doch Massenmorde, die Zerstörung zivilen Eigentums, die Blockade lebensnotwendiger Versorgung und sogar die gezielte Bombardierung von Krankenhäusern widerlegen diese Begründung. Jede neue Gewaltwelle vertieft die moralische Kluft zwischen Israels Sicherheitsnarrativ und der humanitären Katastrophe. Praktiken, die einst als vorübergehende Kontrollmaßnahmen präsentiert wurden, entwickeln sich de facto zu einer dauerhaften Herrschaftspolitik.

Die Ansiedlung von Israelis auf palästinensischem Eigentum, Landaneignungen und tägliche Bewegungsbeschränkungen sind keine Nebenprodukte des Konflikts, sondern die Infrastruktur eines asymmetrischen Regimes. Das Israel-Problem hängt eng mit dem Verständnis zusammen, das durch US-Vetos und Zurückhaltung bei den UN die Besatzung palästinensischer Gebiete, die Enteignung von Eigentum und die Normalisierung ziviler Verluste ermöglicht.

Das US-Problem: Bedingungslose Unterstützung und Unterwerfung

Die Rolle der USA geht über die eines bloßen Verbündeten hinaus. Die USA fungieren als Patron, Beschützer, Finanzier und politischer Ermöglicher. Washington finanziert seit Jahrzehnten Israels Militärmacht, blockiert internationale Rechenschaftspflicht und wiederholt Israels Narrative, während es seinen eigenen moralischen Ruf aufs Spiel setzt. Amerikanische Steuerzahler liefern jährlich Milliarden von Dollar an Militärhilfe. US-Diplomaten vetoieren routinemäßig Resolutionen zu Waffenstillständen oder Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen. Israel in der US-Politik zu kritisieren gilt als Tabu; wer es wagt, wird beschuldigt, illoyal oder antisemitisch zu sein.

Diese Dynamik führt zu einem politischen Stillstand, der es den USA unmöglich macht, nach ihren eigenen Prinzipien zu handeln. Menschenrechte werden in der Ukraine verteidigt, in Gaza aber blockiert. Demokratie wird gepredigt, Besatzung aber finanziert. Kriegsverbrechen in einigen Regionen werden verurteilt, während jene in Gaza ignoriert werden. Die Kosten sind nicht nur menschlich; sie zeigen die Moralisierung der Macht. Die Unterwerfung der US-Elite unter Israels politische Prioritäten untergräbt Washingtons diplomatische Glaubwürdigkeit weltweit. Länder von Afrika über Lateinamerika bis Asien sehen die Menschenrechtsrhetorik der USA als selektiv, instrumentell und eigennützig.

Die US-israelische Beziehung wurde einst als strategisches Bündnis in einer instabilen Region gerechtfertigt. Heute ist sie eher ein komplexes Geflecht aus ideologischer, religiöser Bindung und Interessenausgleich. US-Eliten unterstützen Israel bedingungslos, getrieben von Macht- und religiösem Überlegenheitsglauben. Das daraus resultierende US-Israel-Problem ist daher nicht nur eine politische, sondern auch eine identitätsbezogene Frage.

Die sich verändernde moralische Landschaft der Welt

Die Ereignisse in Gaza haben die moralische Geografie der globalen Politik neu geformt. Jahrzehntelang behaupteten westliche Staaten unter US-Führung, die moralischen Standards des internationalen Systems zu bestimmen. Sie schufen Menschenrechtsabkommen, finanzierten humanitäre Institutionen und präsentierten sich als Hüter von Recht und Freiheit. Gaza offenbarte jedoch eine fundamentale Doppelstandards: Während internationales Recht auf Russland angewandt wird, verlangt der Westen Rechenschaft; gegen Israel jedoch wird dasselbe Recht „politisiert“. Diese Inkonsistenz wird weltweit klar erkannt. Die Agitation westlicher Führer, um israelische Massaker zu vertuschen, zeigt die Tiefe moralischen Verfalls und Wertverlusts.

Die Krise beschleunigt global bereits vorhandene Veränderungen. Das westliche Monopol auf „moralische Legitimität“ wird nicht länger akzeptiert. Länder, die einst still blieben, sprechen nun mit Sprache von Dekolonisation, Solidarität und Gerechtigkeit. Bewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika sehen Palästina nicht als regionale Frage, sondern als Symbol eines größeren Kampfes gegen den Hochmut alter und neuer Imperien. Auch in westlichen Gesellschaften verändert sich die öffentliche Meinung. Menschen hinterfragen die moralische Grundlage bedingungsloser Unterstützung Israels, da sie die Suche nach Gerechtigkeit für Palästinenser als universelle moralische Pflicht erkennen.

Der Preis der moralischen Blindheit

Die Tragödie liegt darin, dass sowohl Israel als auch die USA das moralische Kapital verloren haben, das einst ihre Legitimität stützte. Die von Israel dauerhaft durchgesetzten Enteignungs- und Besatzungspolitiken gegenüber den Palästinensern vertiefen seine internationale Isolation. Für die USA zeigt die blinde Unterstützung Israels und die strategische Instrumentalisierung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, dass ihre behauptete Legitimität nicht aufrichtig ist. Diese moralische Blindheit ist das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen: Führende Persönlichkeiten gestalten ihre Politik nicht nach dem, was richtig ist, sondern nach der Angst vor möglichen Reaktionen auf ihre verwickelten, problematischen Beziehungen. In Washington ist die parteiübergreifende Bindung an Israel zu einer theologischen Frage geworden. In Tel Aviv hat die militärische Überlegenheit die politische Vorstellungskraft ersetzt. Das Ergebnis ist eine Partnerschaft, die auf Ideologie, Religion und Trägheit beruht – nicht auf Gerechtigkeit oder Frieden.

Für eine neue moralische Ordnung

Der Gaza-Krieg hat deutlich gemacht, dass die alte Ordnung zusammenbricht. Die Welt kann keine Hierarchie akzeptieren, die das Leben eines palästinensischen Kindes weniger wertvoll erscheinen lässt als das eines israelischen Kindes. Die Prinzipien des Völkerrechts dürfen nicht von Allianzen oder Kooperationen abhängig sein. Um das „Israel-Problem“ zu lösen, muss die Welt echte Rechenschaft verlangen: unabhängige Untersuchungen, die Beendigung der Straflosigkeit und die Umsetzung internationaler Beschlüsse. Staaten können nicht gleichzeitig Menschenrechte verteidigen und Menschenrechtsverletzungen finanzieren.

Um das US-Problem anzugehen, müssen die Bürger erkennen, dass die Schlüsselinstitutionen des Staates – Senat, Kongress, Außenpolitik, innere Sicherheit, Verteidigung und Geheimdienste – von Personen gelenkt werden, die Israels Politik bedingungslos unterstützen. Trotz dieser Realität ist es wichtig, die Debatten über die Gaza-Besatzung zu vertiefen und fortzuführen. Eine Demokratie, die nicht hinterfragt werden kann, kann sich nicht erneuern. Diese Krise zeigt, dass das Problem der globalen Gemeinschaft nicht nur politischer, sondern auch moralischer Natur ist. Deshalb muss eine neue internationale Moral geschaffen werden, die auf Gleichheit, Recht und Menschlichkeit beruht und sich der Macht nicht unterwirft.

Das Gewissen zurückgewinnen

Der Gaza-Krieg hat klar gezeigt: Die Krise beschränkt sich längst nicht mehr auf den Nahen Osten. Von Frieden zu sprechen, während man eine dauerhafte Besatzung toleriert, ist Heuchelei. Führungsanspruch zu erheben, während man das Recht ignoriert, ist Selbsttäuschung. Das „Israel-Problem“ und das „US-Problem“ sind in Wahrheit dasselbe: das Problem einer Macht, die sich von Gewissen, Moral und humanitären Werten gelöst hat. Die Geschichte zeigt, dass Imperien nicht nur durch Überdehnung, sondern auch durch moralische Erschöpfung untergehen. Solange beide Länder und ihre Unterstützer die Kluft zwischen Idealen und Handeln nicht überwinden, wird diese Erschöpfung weiter vertieft.

Die Zeit ist gekommen – nicht nur für politische Neuausrichtung, sondern für moralisches Erwachen. Die Welt braucht keine „Beschützer“ oder „Patrone“. Es braucht Wahrheit, Gerechtigkeit und Mut. Keine Nation steht über dem Recht, kein Volk darunter. Wenn unser Gewissen schweigt, setzt die Macht ihre eigenen Regeln durch. Nach all diesen Massakern kann die Welt nicht länger Zuschauer sein. Jeder von uns muss Verantwortung für die Menschheit übernehmen. Das Leben eines palästinensischen Kindes ist gleichwertig mit dem Leben jedes Kindes. Recht darf nicht den Interessen von Allianzen oder Machtspielen unterworfen sein. Die Geschichte hat den Untergang von Gesellschaften und Führern dokumentiert, die kein moralisches Erwachen zeigen.

Jetzt ist die Zeit, für Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschlichkeit zu handeln.

Adnan Boynukara

Zwischen 1987 und 2009 arbeitete er als Ingenieur und Manager in verschiedenen Institutionen. Von 2009 bis 2015 war er als Hochberatender bei dem Ministerium für Justiz tätig. In der 25. und 26. Legislaturperiode war er als Abgeordneter der Provinz Adıyaman im türkischen Parlament (TBMM) tätig. Er hat Arbeiten in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Konfliktlösung und Friedensprozesse durchgeführt.

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