Zukunftsentscheidung: Identitätspolitik oder demokratische Republik?
Rassismus ist ein Gift, das Völker erschöpft…
Anatolien ist seit Jahrhunderten eine Schnittstelle unterschiedlicher Sprachen, Glaubensrichtungen und Lebensweisen. Diese Vielfalt ist sowohl eine kulturelle Bereicherung als auch eine der empfindlichsten Stellen der Politik. Deshalb beruhte die Verfassung von 1921 auf Pluralismus. Nachfolgende Änderungen stellten jedoch ein monolithisches Identitätsverständnis in den Vordergrund und hielten die Politik über lange Jahre hinweg in einem Spannungsfeld. Die daraus entstandene Krise nannte man Identitätspolitik, und im Verlauf wurden Identitäten sowohl ins Zentrum der Regierung als auch des politischen Diskurses gerückt. Heute haben die wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Transformationen, die auf diesem historischen Erbe aufbauen, die durch Identitätspolitik geschaffenen Spannungsfelder noch deutlicher sichtbar gemacht. Deshalb ist die heutige Identitätspolitik-Spannung nicht nur das Ergebnis aktueller Akteure und Ereignisse, sondern die Fortsetzung eines fast ein Jahrhundert währenden historischen Erbes.
Die Frage der nationalen Identität
Nationale Identität und Nationenbildung waren im 19. und 20. Jahrhundert politische Formeln zur Gestaltung der kapitalistischen Weltordnung. Die Türkische Republik verstand sich als Bewahrung des letzten Territoriums, das aus dem Osmanischen Reich übrigblieb, mithilfe dieser Formel. Alle Maßnahmen, einschließlich der Verleugnungspolitiken innerhalb des Landes, zielten letztlich darauf ab, tragische Zersplitterung zu verhindern, neue Brüche zu vermeiden und insbesondere die regionalen Strategien feindlicher Staaten zu blockieren. Dies rechtfertigt nicht die angewandte Gewalt oder Unterdrückung, sondern verdeutlicht die tragische Tiefe des Problems sowie die historischen Ängste und Sorgen. Jede abweichende Stimme, die aus der politischen Perspektive der damaligen Zeit aufkam, verstärkte die geäußerten Befürchtungen.
Wir wissen alle sehr gut, welche Folgen es hat, wenn Forderungen und Sorgen nicht richtig gemanagt werden. Deshalb muss man dieses Gleichgewicht sowohl beim Bewerten der Sorgen als auch beim Formulieren der Forderungen sorgfältig gestalten. Denn Identitätspolitik vermittelt auf den ersten Blick ein Zugehörigkeitsgefühl: Der Einzelne fühlt sich als Teil eines großen Ganzen. Gleichzeitig zieht sie jedoch unsichtbare Grenzen: Wer „wir“ ist und wer „sie“ sind. Politik wird dadurch vom Raum zur Lösung gemeinsamer Probleme zum Feld der Konkurrenz zwischen Identitäten. Das Ergebnis ist ein Szenario ohne Gewinner, in dem nur Abgründe entstehen und sich vertiefen. Um dies deutlicher zu verstehen, muss man die strukturellen Probleme betrachten, die durch Identitätspolitik entstehen.
Diese Politikform, die auf ethnischer Herkunft, Konfession, Glauben, Lebensstil oder ideologischer Zugehörigkeit basiert, mag auf den ersten Blick ein starkes Instrument gesellschaftlicher Mobilisierung sein. Doch Geschichte und aktuelle Erfahrungen zeigen: Identitätspolitik trennt Gesellschaften eher, als dass sie sie vereint, verengt den Dialograum und kann sogar das Risiko von Gewalt erhöhen. In der heutigen Türkei verläuft Politik oft in diesem Spannungsfeld. Auf Wahlkampfplattformen, in Fernsehdebatten und selbst in den hitzigsten Social-Media-Diskussionen wird über Identitäten gestritten. Doch dieser Konflikt mildert weder die Last der Vergangenheit noch löst er die Probleme der Zukunft. Welche Wege stehen der Türkei offen? Werden wir diese enge, identitätsbasierte Politiklinie fortsetzen oder uns dem weiten Horizont der demokratischen Republik zuwenden?
Die Sackgassen der Identitätspolitik
Die oben gestellten Fragen und die Durchbrechung des Teufelskreises erfordern, dass nicht nur Identitäten, sondern die gemeinsame Bürgerschaft ins Zentrum der Politik rücken. Der Reiz der Identitätspolitik entsteht dadurch, dass sie wie ein leicht zu handhabendes politisches Instrument erscheint. Diese Leichtigkeit bringt jedoch hohe Kosten mit sich. Um diese Kosten zu verstehen, muss man die Sackgassen betrachten, die identitätsbasierte Politik erzeugt.
Identitätspolitik kann kurzfristig die Wählerunterstützung erhöhen, führt langfristig jedoch zur Erosion des gesellschaftlichen Gemeinwesens. Vier grundlegende Dynamiken lassen sich hier nennen:
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Schädigung des sozialen Friedens: Identitätspolitik verschärft die „Wir“-gegen-„Sie“-Trennung. Der Andere wird nicht nur als Andersdenkender, sondern als potenzielle Bedrohung wahrgenommen.
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Gegensätze schaffen: Die politische Stärkung einer Identität stärkt gleichzeitig die Gegenidentität, wodurch Polarisierung zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf wird.
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Verdeckung von Problemen: Grundlegende Themen wie Wirtschaft, Bildung oder Gesundheit geraten in den Schatten identitätsbasierter Debatten, wodurch die durch diese Probleme verursachten Schäden unsichtbar bleiben. Ressourcen werden nach identitätsbasierten Prioritäten verteilt, Loyalität ersetzt Meritokratie, langfristige Entwicklungsziele werden verschoben.
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Politische Blockade: Hier dominieren Frontstellungen statt Verhandlungen, und die Kultur des Kompromisses wird geschwächt.
Gibt es einen Ausweg aus diesen Sackgassen? Ein Modell, das die Trennung durch Identitäten nicht vertieft, sondern sie frei leben lässt und die Politik auf einer gemeinsamen Basis zusammenführt? Die demokratische Republik bietet hierfür eine Antwort.
Vision der Demokratischen Republik
Die demokratische Republik ist ein Modell, das Identitäten nicht negiert, sondern sie frei existieren lässt, während Politik auf der Grundlage gleichberechtigter Staatsbürgerschaft geführt wird. Hier lassen sich drei zentrale Themen unterscheiden. Erstens: Gleichberechtigte Staatsbürgerschaft. Ein System, in dem jede Person in rechtlichen und politischen Rechten gleich ist. Zweitens: Rechtsstaatlichkeit. Eine Gerechtigkeit, die unabhängig von Identität gilt. Drittens: Pluralismus. Unterschiedliche Identitäten, Glaubensrichtungen und Lebensweisen sind verfassungsmäßig geschützt.
Dieses Modell verhindert, dass Identitäten die einzige Achse politischer Konkurrenz bilden, und macht Politik problem- und lösungsorientiert. In einem solchen System existieren unterschiedliche Identitäten nicht nur durch verfassungsmäßigen Schutz, sondern auch sicher im natürlichen Alltag. Die demokratische Republik ist nicht nur eine Regierungsform, sondern das tragfähige Fundament für gesellschaftlichen Frieden und die Voraussetzung für langfristige Entwicklung. Doch eine Vision allein reicht nicht aus. Ihre Umsetzung erfordert strategische Orientierung und entschlossenes Handeln.
Die strategische Ausrichtung der Türkei auf die demokratische Republik lässt sich über drei Zeithorizonte betrachten. Kurzfristig: politische Rhetorik zur Verringerung von Polarisierung, Stärkung der Gesellschaft, Beseitigung von Hasssprache in den Medien. Mittelfristig: rechtliche und institutionelle Reformen, etwa Erweiterung der Meinungsfreiheit, Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz, Stärkung lokaler Verwaltungen. Langfristig: Förderung eines gemeinsamen Zugehörigkeitsbewusstseins durch Bildung. Dabei ist entscheidend, dass sich das Prinzip „Gleichheit der Identitäten + gemeinsame Staatsbürgerschaft“ durchsetzt.
Nation Building oder Demokratische Republik?
Hier ist entscheidend, ob die Verteidigung der demokratischen Republik mit den Aktivitäten des sogenannten „Nation-Building“ vereinbar ist. Denn diese beiden Konzepte sind gegensätzlich. So zu tun, als seien sie kompatibel, ist nicht möglich. Deshalb bleibt unklar, wie in PKK-nahen Kreisen die Begriffe „demokratische Republik“ und „kurdisches Nation-Building“ bewertet und miteinander in Einklang gebracht werden. In einem demokratischen System können diese beiden Konzepte nicht gleichzeitig bestehen. Demokratische Republik erfordert Pluralismus, Nation-Building hingegen zentriert eine nationale Identität und definiert andere Identitäten anhand dieses Zentrums. Einfach gesagt: Das eine basiert auf Vielfalt, das andere auf der Dominanz einer einzigen Identität. Eine Vermischung oder Harmonisierung ist daher unmöglich.
Weltweit zeigen Beispiele, dass Nation-Building-Projekte darauf abzielen, andere Identitäten zu transformieren oder zu unterdrücken, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Die demokratische Republik erkennt hingegen unterschiedliche Identitäten in ihrer Eigenständigkeit an und ermöglicht ein Zusammenleben unter dem Dach gleichberechtigter Staatsbürgerschaft. Daher lohnt es sich, Fragen zu stellen: Folgen wir den Sehnsüchten des 19. Jahrhunderts, oder setzen wir die Perspektive gleichberechtigter und freier Staatsbürgerschaft der Demokratischen Republik Türkei des 21. Jahrhunderts um? Können nicht alle Bürgeranliegen innerhalb dieser Perspektive berücksichtigt werden?
Die Antworten auf diese Fragen bestimmen unsere politische Positionierung und unsere Zukunftsperspektive. Dabei sollten die berechtigten und notwendigen Forderungen aller Gruppen als Motor für eine freiere, stärkere und größere Republik betrachtet werden. Über die gemeinsamen Interessen und die Zukunft des Landes und aller Bürger hinweg zu denken und zu sprechen ist wertvoller, als den alten nationalistischen Identitätsmustern zu folgen. Diese Haltung ist realistischer als die vermeintliche psychologische Erleichterung, die Identitätspolitik verschaffen könnte.
In der Aussage „tausendjährige Geschichte“ sind in jeder Phase alle sozialen Gruppen unserer Region enthalten. Innerhalb eines durch große Opfer und Widerstand gegen Besatzung im Ersten Weltkrieg geretteten Landes gibt es Beiträge aller Gruppen, um die Einheit zu erhalten, die trotz vieler Fehler durch Versuch und Irrtum erreicht wurde. Diese Beiträge sind rationaler als identitätspolitische Strategien. Das bedeutet nicht, dass berechtigte Forderungen zurückgestellt oder ignoriert werden. Im Gegenteil: alle berechtigten Identitäts- und Freiheitsansprüche können innerhalb dieser Haltung geäußert werden. Entscheidend ist, nicht verschiedene Versionen der Einparteienherrschaft zu imitieren, sondern eine universelle Haltung zu zeigen.
Wir müssen uns bewusst sein, dass Rassismus, Stammesdenken und Nationalismus Kinderkrankheiten der Menschheit sind. Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass die größten historischen Völker diejenigen waren, die diesen Krankheiten nicht verfielen und selbstbewusst in universeller Identität existierten. Daher ist es wichtig, die Möglichkeiten des heutigen Friedens- und Demokratisierungsprozesses nicht nach alten Berechnungen, Gewohnheiten und Konditionierungen zu bewerten, sondern mit einer neuen Perspektive, Haltung und den Chancen, die der Prozess bietet.
Eine Entscheidung ist notwendig
Abschließend: Identitätspolitik und Nation-Building bringen kurzfristig Vorteile, erschöpfen aber langfristig das Land. Die zugrunde liegenden politischen Spannungen in der Türkei resultieren eindeutig daraus. Die demokratische Republik hingegen lässt alle Identitäten frei existieren und stärkt damit die gemeinsame Zukunft. Sie bietet ein gemeinsames Dach, unter dem Unterschiede koexistieren können. Es ist daher richtig, dass die Türkei bei der Bewertung bestehender Probleme ein Modell wählt, das Identitäten frei leben lässt, während Politik nicht aus Identitäten, sondern aus gleichberechtigter Staatsbürgerschaft gespeist wird. Denn nicht unsere Trennungen, sondern unsere gemeinsamen Grundlagen werden uns in die Zukunft tragen.
Die zentrale Frage lautet daher klar: Bauen wir unsere Zukunft auf gemeinsamen Verstand und gleichberechtigter Staatsbürgerschaft, oder erschöpfen wir uns in den engen Grenzen unserer Identitäten? Die Wahl liegt bei uns: Entweder wir bleiben in den engen Formen der Vergangenheit gefangen oder wir gestalten das 21. Jahrhundert der Türkei auf den Grundlagen von Freiheit, Gleichheit und gemeinsamer Vernunft. Noch einmal: Es muss eine Entscheidung getroffen werden. Werden wir das Nation-Building wählen, das uns 100 Jahre in ähnlicher oder anderer Form wiederholen lässt, oder die demokratische Republik, die Gleichberechtigung und Pluralismus verwirklicht? Dass diese beiden nicht gleichzeitig existieren können, ist eindeutig.
Quelle: https://www.perspektif.online/gelecek-tercihi-kimlik-siyaseti-mi-demokratik-cumhuriyet-mi/