Zelenskyj’s unmögliche Wahl
Der ukrainische Präsident hat keine gute Option mehr in der Hand.
Am 24. Februar 2022 traf Wolodymyr Zelenskyj die wohl schicksalhafteste Entscheidung seines Lebens. Angesichts des umfassenden militärischen Angriffs Russlands auf die Ukraine lehnte er die vom Westen angebotenen Vorschläge zur Kapitulation und zum Exil ab und entschied sich stattdessen zu bleiben und zu kämpfen. Vielleicht war es eine erfundene, aber dennoch stark widerhallende Formulierung: „Gebt mir Munition, nicht eine Mitfahrgelegenheit“ („Ammo, not a ride“).
Nach dreieinhalb Jahren Krieg, Hunderttausenden von Toten und der Zerstörung weiter Teile seines Landes steht der ukrainische Präsident nun erneut vor einer ebenso schicksalhaften Entscheidung – Krieg oder Frieden. Die erste Entscheidung mag spontan und instinktiv getroffen worden sein; die jetzige erfordert jedoch sorgfältige Berechnungen und feine Abwägungen.
Der ukrainische Präsident ist in den letzten Tagen durch intensive diplomatische Entwicklungen unter Druck geraten. Dieser Prozess begann mit dem Gipfeltreffen zwischen Donald Trump und Wladimir Putin in Alaska und setzte sich fort mit Trumps Gesprächen im Weißen Haus – sowohl mit Zelenskyj als auch mit der sogenannten „Koalition der Willigen“ Europas. Nun bereiten diese Entwicklungen in ganz Europa neue Treffen vor.
Natürlich lassen sich hier viele wichtige Anmerkungen machen. Der Ball liegt nicht nur im Feld Zelenskyjs, sondern auch im Feld Putins. Doch angesichts der seit Beginn des Krieges weitgehend unveränderten russischen Haltung wäre es unrealistisch, von Russland eine wesentliche Kursänderung zu erwarten. Solange Moskau diesen Konflikt auf seine eigenen Sicherheitsinteressen stützt, haben die wirtschaftlichen Sanktionen bislang keine Wirkung gezeigt – und werden dies wohl auch künftig nicht tun. Während Russland im Donbas langsam, aber stetig vorankommt, die Ukraine unter einem Mangel an ausgebildeten Soldaten leidet und die Europäer gezwungen sind, die Finanzierung neuer Waffenlieferungen zu übernehmen, liegt das militärische Momentum nicht auf Seiten der Ukraine. Damit steht Zelenskyj vor der uralten Frage, die am Ende eines jeden Krieges auftaucht: „Land für Frieden“ („Land for peace“).
Die offizielle Haltung der Ukraine besteht seit Langem darin, dass man zu den Grenzen von 1991 – also den nach dem Zerfall der Sowjetunion gezogenen Grenzen – zurückkehren müsse und dass die ukrainische Verfassung eine Veränderung dieser Grenzen verbiete. Dies deckt sich mit der europäischen Auffassung, dass „eine erzwungene Grenzverschiebung inakzeptabel ist und ein solches Vorgehen ein globales Ringen entfesseln würde“. Doch nichts ist so eindeutig, wie es von außen erscheint.
Noch vor den jüngsten Gesprächen im Weißen Haus deutete Selenskyj an, dass er – wenn auch nur für kurze Zeit – offen dafür sein könnte, auf bestimmte Gebiete zu verzichten. Verfassungen lassen sich ändern, wenn es nötig ist. Die Europäer konzentrieren sich dabei weniger auf die Frage, ob territoriale Zugeständnisse akzeptabel sind, sondern vielmehr darauf, dass die Entscheidung letztlich der Ukraine selbst überlassen bleibt.
Die entscheidende Frage, die Zelenskyj abwägen muss, lautet: Wie wertvoll ist es für die Ukraine, das Blutvergießen zu beenden? Könnte der Preis dafür die Abgabe von 20 Prozent des ukrainischen Territoriums sein, das Russland bereits kontrolliert? Oder würde ein solcher Verzicht die Sicherheit der Ukraine noch stärker untergraben? Manche Aspekte lassen sich messen; andere sind immateriell. Hat nationale Ehre einen Preis? Und was würden die trauernden Familien sagen, die das Gefühl hätten, ihre Angehörigen seien umsonst gefallen?
Auf jeden Fall scheinen territoriale Zugeständnisse unausweichlich zu sein. Aus strategischen wie auch aus emotionalen Gründen wird Russland die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim nicht aufgeben. Ebenso wenig ist es wahrscheinlich, dass Moskau den Großteil – oder auch nur Teile – der Gebiete im Donbas, die es derzeit kontrolliert, zurückgibt. Im Gegenteil: Russland könnte beabsichtigen, weitere Teile des Donbas zu erobern, die es bislang nicht in seiner Hand hat; im Gegenzug scheint es jedoch bereit zu sein, auf bestimmte Gewinne außerhalb des Donbas zu verzichten. Genau dies dürfte gemeint gewesen sein, als Trump von „Gebietstausch“ („land swaps“) sprach.
Die ukrainische Zurückhaltung, diese Gebiete aufzugeben, rührt nicht nur daher, dass Russland sie bislang nicht vollständig kontrolliert, sondern auch von der Überzeugung, dass es sich dabei um eine Reihe sogenannter „Festungsstädte“ („fortress towns“) handelt, die für die Sicherheit Kiews von entscheidender Bedeutung sind (freilich liegt auf der Hand, dass Russland sie eben aus diesem Grund anstrebt). Dieses Thema könnte potenziell Teil der Verhandlungen sein.
Von mindestens ebenso großer Bedeutung für die Ukraine ist die Frage nach den sogenannten „Sicherheitsgarantien“ („security guarantees“). Sie steht weiterhin im Zentrum der intensiven Debatten unter den Verbündeten der Ukraine. Zudem zeichnete sich in den Gesprächen zwischen Trump und Putin ab, dass es in diesem Punkt zu Veränderungen kommen könnte.
Beim Treffen in Alaska schien Putin der Gewährung von „Sicherheitsgarantien“ zugestimmt zu haben. Dies wurde als mögliches Zugeständnis an die Ukraine interpretiert. Allerdings könnten diese Garantien auch Sicherheitszusagen der USA gegenüber Russland beinhalten. Seit Langem war dies eine der zentralen Bedingungen Zelenskyjs, um überhaupt Friedensgespräche in Erwägung zu ziehen – und genau darauf zielte das Treffen im Weißen Haus am Montag ab.
Was sowohl Europa als auch insbesondere der Ukraine bislang fehlte, war die Unterstützung durch die USA zur Absicherung solcher Garantien – vorzugsweise in Form militärischer Rückendeckung. Trump signalisiert nun, dass die USA bereit sein könnten, sich in diesen Prozess einzubringen; damit würden territoriale Zugeständnisse für die Ukraine womöglich etwas akzeptabler erscheinen.
Es gibt auch andere Elemente, die diese für die Ukraine äußerst schmerzhaften „Pillen“ zumindest ein wenig versüßen könnten. Eine Neuziehung der Grenzen müsste nicht de jure (rechtlich), sondern lediglich de facto (faktisch) erfolgen. Das hieße: Die Kontrolle Russlands könnte akzeptiert werden, ohne dass dies eine rechtliche Anerkennung bedeutete – ähnlich wie der Westen die baltischen Staaten niemals offiziell als Teil der Sowjetunion anerkannt hatte. Eine Sicherheitsgarantie nach dem Vorbild von Artikel 5 der NATO könnte das ukrainische Ziel eines NATO-Beitritts zumindest teilweise erfüllen – auch wenn dies für Russland die rote Linie schlechthin darstellt. Sollten ausländische Truppen in der Ukraine stationiert werden, könnte dies unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen oder der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) geschehen, um den harten russischen Einwänden gegen eine NATO-Intervention zu begegnen.
Für die faktische (de facto) Übergabe des Donbas an Russland sprechen zudem einige höchst praktische – wenn auch problematische – Argumente. Die Region mag rohstoffreich sein, doch selbst vor Beginn des Zerstörungsprozesses in den vergangenen zehn Jahren war sie weitgehend ein industrielles Trümmerfeld („rust belt“). Wenn Russland diese Region will, soll es auch die Kosten dafür tragen. Jede Form von Bevölkerungsverschiebung wird schmerzhaft sein; doch inzwischen leben im Donbas deutlich weniger Menschen. Mindestens eine Million floh nach Russland, andere in andere Teile der Ukraine oder ins Ausland. Und diejenigen, die geblieben sind, werden sich nicht zwangsläufig gegen die Herrschaft Moskaus stellen – aufgrund von Geschichte, Sprache und Kultur. Ja, manche vertreten (wenn auch nur sehr leise) die Ansicht, dass eine Ukraine ohne den Donbas homogener und „ukrainischer“ sein könnte.
Die faktische Abgabe des Donbas an Russland könnte zudem dafür sorgen, dass weitere von Moskau erhobene Forderungen von der Tagesordnung verschwinden: etwa die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, der Status des Russischen als Amtssprache oder die Anerkennung der russisch-orthodoxen Kirche anstelle der ukrainisch-orthodoxen Kirche. Während die russischsprachigen Ukrainer weitgehend zur Verantwortung Moskaus würden, wäre die Ukraine eine Bevölkerung los, die sie nicht selten als „fünfte Kolonne“ („fifth column“) betrachtet hat.
Kann Zelenskyj unter diesen Bedingungen im Amt bleiben? Kann er das ukrainische Volk von einer Lösung überzeugen, die – auch wenn ein territorialer Verlust technisch gesehen keine Kapitulation wäre – dennoch von vielen als Niederlage empfunden würde? Jüngste Umfragen zeigen, dass erstmals eine Mehrheit der Ukrainer ein Ende des Krieges befürwortet; doch „Land für Frieden“ („land for peace“) bleibt ein höchst umstrittenes Thema.
Dennoch könnte Zelenskyj mit gewissem Recht argumentieren, dass die Ukraine als lebensfähige und souveräne Nation bestehen bleibt: Das Land hätte um strategisch wichtige Städte wie den Hafen von Odessa und die zweitgrößte Stadt Charkiw gekämpft – und sie gehalten. Auch die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union besteht weiterhin (wenngleich diese Möglichkeit weiter entfernt scheint, als Kiew es sich erhofft hatte). Der finnische Präsident hat zwar klar betont, dass er der Ukraine keine „Finnlandisierung“ („Finlandisation“) nahelege – also jene heikle Balancepolitik, die Finnland während des Kalten Krieges praktizierte, indem es seine nationale Souveränität wahrte, zugleich aber öffentliche Kritik am benachbarten Superstaat vermied. Doch wenn man heute auf Finnland blickt, das sich zu einem prosperierenden Teil Europas entwickelt hat, ließe sich sagen: Für eine Nation gibt es deutlich schlimmere Schicksale.
Natürlich könnte Zelenskyj auch den umgekehrten Weg gehen und den Krieg fortsetzen – in der Überzeugung, dass der Preis für einen Kompromiss zu hoch wäre. Schon im April 2022 hatte er sich offenbar aus eben diesem Grund gegen einen Frieden entschieden: die fehlenden, schwer zu erreichenden Sicherheitsgarantien. Zudem vertreten manche die Ansicht, dass Selenskyj jeden Schritt meiden werde, der seine Präsidentschaft gefährden könnte, und dass die Absage der für das vergangene Jahr vorgesehenen Wahlen weniger dem Kriegsrecht als vielmehr autoritären Neigungen geschuldet gewesen sei. In diesem Fall wäre es durchaus denkbar, dass Zelenskyj sich entscheidet, für die Ukraine weiterzukämpfen – bis zum bitteren Ende, als eine Art „tragischer Held“.
Meiner Einschätzung nach hätte Zelenskyj ohne zu zögern auf die Macht verzichtet, wenn er wirklich geglaubt hätte, dass es auf der Landkarte eine Alternative für das Fortbestehen einer unabhängigen Ukraine gäbe. Doch unter den Bedingungen unzureichender Unterstützung seitens der USA und Europas könnte die Fortsetzung des Krieges die Ukraine weit mehr kosten, als Russland ohnehin bereits in seiner Hand hält.
Für den ukrainischen Präsidenten, der mitten im Krieg feststeckt, sind alle Wege voller Gefahren.
*Mary Dejevsky ist Autorin und Publizistin. Von 1988 bis 1992 war sie Moskau-Korrespondentin der Times. Außerdem berichtete sie aus Paris, Washington und China.
Quelle: https://www.spiked-online.com/2025/08/20/zelenskys-impossible-choice/