Wolfgang Streeck und die deutsche Frage sowie die Zukunft Europas
Walden Bello: Interview mit Wolfgang Streeck
Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, gehört zu den führenden Sozialdenkern Europas, der in den letzten drei Jahrzehnten die tiefgründigsten Analysen zu den Krisen der neoliberalen Wirtschaft und den Sackgassen der neoliberalen Gesellschaft vorgelegt hat. Streitbaren Debatten nicht fern, kritisierte Streeck die technokratischen Eliten in Europa und den Vereinigten Staaten, weil sie ihr Herrschaftsrecht nicht auf demokratische Verfahren, sondern auf vermeintlich „universelle Werte“ gründeten; er plädierte dafür, Europas Abhängigkeit von den USA zu beenden; sah in der sogenannten russischen Bedrohung ein Konstrukt, das von den baltischen Staaten erzeugt wurde; und schlug vor, Europa wie auch die globale Ordnung in Systeme kleinerer Staaten zu transformieren. Obwohl er als links gilt, hat er sich in Fragen von Frieden, Migration und Sozialpolitik sowohl von der SPD als auch von der Linkspartei distanziert. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 hat er sich deutlich mit der Partei der umstrittenen Sahra Wagenknecht (BSW) identifiziert. Sein neuestes Buch: Taking Back Control? States and State Systems after Globalism (2024).
Kommt die AfD an die Macht?
WB: Die rechtsextreme „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist bei den Wahlen im Februar 2025 zur zweitstärksten Partei im Bundestag aufgestiegen und hat damit die SPD überholt. Für eine Partei, die erst vor zwölf Jahren gegründet wurde, ist das bemerkenswert. Halten Sie es für unvermeidlich, dass die AfD eines Tages an die Macht kommt?
WS: Nein. Wir leben nicht in den 1930er Jahren. Die Welt ist heute eine völlig andere. Die Nazis hatten die Unterstützung der alten ostelbischen Junker, die einen Großteil des Militärs und des preußischen Staates kontrollierten. Außerdem wurden sie von Teilen der damaligen deutschen Großindustrie getragen, die frankreichfeindlich eingestellt war, sowie von jenen, die nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg die westlichen Alliierten ablehnten. Damals war die Industrie noch national organisiert und nicht internationalisiert wie heute. Faschismus war eine staatsorientierte und marktkritische Ideologie. Die heutigen AfD-Wähler hingegen hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat und jeglicher Form staatlicher Autorität – etwa bei der Impfpflicht. Es handelt sich mehrheitlich um staatsskeptische, neoliberale Kleinbürger-Poujadisten. Wir sprechen also von einer völlig anderen Wählerschaft und einem völlig anderen politischen Milieu.
Die Nazis konnten im Staatsapparat, im Militär und in der Polizei auf erhebliche Unterstützung zählen. Im Fall der AfD ist diese Unterstützung sehr, sehr begrenzt. Zudem handelt es sich bei der AfD eher um eine kulturell motivierte Bewegung als um eine strukturelle. Im gesellschaftlichen Makrogefüge gibt es für eine solche Formation keine breite Basis. Viel gefährlichere Entwicklungen sind derzeit im Gange als die AfD.
WB: Können Sie etwas mehr über das Verhältnis der Arbeiterklasse zur AfD sagen?
WS: In den letzten zwanzig Jahren haben viele Wählerinnen und Wähler der SPD den Rücken gekehrt. Die Rechte hat in diesem Prozess zahlreiche Angehörige der traditionellen Arbeiterklasse an sich gebunden. Allerdings hatte die AfD für diese Klientel von Anfang an kein konsistentes Programm. Wirtschaftspolitisch ist sie eine neoliberale Partei, doch in ihrer populistischen Rhetorik gibt sie sich arbeitnehmerfreundlich. Sie tut so, als ob sie die Arbeiter gegen Migranten verteidige, tritt aber in Wirklichkeit für den Abbau des Sozialstaats ein.
Zudem hängt diese kulturelle Entfremdung auch mit der Entwicklung der Linken selbst zusammen. Die Linke wird zunehmend als elitär, bürgerlich, global marktorientiert und abgehoben von den Provinzen außerhalb der Großstädte wahrgenommen.
Hinzu kommt, dass Ostdeutschland einen Sonderfall darstellt. Die Spuren des Übergangs vom Kommunismus zum liberalen Kapitalismus sind noch lebendig – vielleicht nicht mehr physisch, aber gewiss im kollektiven Bewusstsein. Im 21. Jahrhundert wird unablässig die Rhetorik verbreitet: „Seid auf die nächste technologische und gesellschaftliche Transformation vorbereitet.“ Doch die Menschen im Osten haben nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren bereits eine radikale Transformation durchlebt. Heute lautet ihr Gefühl: „Es reicht. Wir haben das schon einmal hinter uns gebracht, wir wollen keine weitere Transformation.“ Daher sind die Ostdeutschen im Vergleich zu den Westdeutschen, die an die ständigen Veränderungen des modernen Kapitalismus gewöhnt sind und meist davon profitieren, deutlich konservativer eingestellt. Sie erinnern sich noch gut an jene traumatische Zeit, in der in manchen Regionen Ostdeutschlands die Arbeitslosigkeit bis zu 40 % erreichte.
Dazu kommt das bis heute anhaltende, herablassende Verhalten aus dem Westen, das ihnen das Gefühl gibt, nicht ausreichend anerkannt zu sein. Westdeutsche sind von einem Selbstbewusstsein durchdrungen, dass sie stets überlegen bleiben werden. Auf der Gegenseite eines solchen Gefühlsuniversums zu stehen – selbst wenn dies nicht offen ausgesprochen oder im Alltag sichtbar wird – kann politisch äußerst provokant und wirkungsvoll sein.
Migration: Das brennende Problem
WB: Wo steht in all dem, was Sie schildern, die Migrationsfrage?
WS: Ach, dieses Thema ist absolut zentral – nicht nur in Deutschland, sondern in allen Gesellschaften, die ich kenne. Menschen brauchen Zeit, um Fremden zu begegnen und sich an sie zu gewöhnen. Es gibt keine völlig offene Gesellschaft, in der jemand einfach sagen kann: „Ab heute bin ich auch Mitglied dieser Gemeinschaft.“ Gesellschaft ist das Resultat von generationenlangen Investitionen in vertrauensbasierte soziale Bindungen. Natürlich kann man Menschen ins Land holen, einbürgern, integrieren – aber das braucht Zeit. Wenn der Prozess zu schnell verläuft, werden die Leute unruhig.
In den Köpfen der deutschen Grünen gibt es diese naive Vorstellung: Menschen kommen – sagen wir aus Syrien – und siedeln sich dann direkt inmitten der Einheimischen an, leben wie eine ganz normale deutsche Familie. Die Realität sieht anders aus: Migranten ziehen in der Regel dorthin, wo schon Landsleute leben, wo ihre Sprache gesprochen wird, wo sie Hilfe und Vertrauen finden können. Während sie versuchen, ihr kulturelles Leben fortzuführen, stoßen sie auf das Misstrauen der Einheimischen.
Hinzu kommt: Die meisten Migranten beginnen nicht oben, sondern unten in einer Gesellschaft. In den oberen Schichten gibt es keine Probleme. Wenn Sie indischer Physik-Nobelpreisträger sind, können Sie überall leben. Aber wenn Sie ein ganz normaler Pakistaner sind, starten Sie unten – und dort begegnet man nicht immer den besten Menschen. Diese Unterschichten sind nicht vollständig in die Normen der Gesellschaft eingebunden; das kann, wie Soziologen sagen, zu einem „anomischen Zustand“ führen – oft verbunden mit höheren Kriminalitätsraten.
Außerdem: Wenn Sie in großer Zahl junge, alleinstehende Männer ins Land holen – egal woher –, dann bilden sie manchmal Banden, um sich gegen die arrogante Haltung der Einheimischen zu wehren. Das ist keineswegs ein spezifisch deutsches Problem.
WB: War es also ein Fehler, dass Angela Merkel 2015 die syrischen Flüchtlinge aufnahm?
WS: Aber was heißt eigentlich politischer Fehler? Was ich in der Politik beobachte, ist Folgendes: Wenn politische Führer Entscheidungen treffen, tun sie das fast immer aus mehreren Gründen zugleich. Sie müssen eine Koalition von Unterstützern hinter sich bringen – je mehr, desto besser, auch wenn die Motive unterschiedlich sind. Nicht alle Deutschen haben die Syrer begeistert empfangen, doch ein Teil der Arbeitgeber sah darin eine Chance: Angesichts der demographisch schrumpfenden Arbeitsmärkte begrüßten sie den Zuzug.
Dann gab es den „Obama-Faktor“ außerhalb Deutschlands. Warum Obama? Weil seine Syrien-Politik eine riesige Flüchtlingskrise im Nahen Osten ausgelöst hat. Diese von der amerikanischen „nation-building“-Strategie erzeugte Welle führte in Ländern wie der Türkei zu Instabilität. Obama hatte Merkel gebeten, Soldaten nach Syrien zu schicken. Aber Merkel konnte nicht – unsere Verfassung, ihre Partei und die öffentliche Meinung verboten es. Später, so scheint es, sagte Obama zu ihr – das habe ich aus verschiedenen Quellen gehört: „Angela, als wir das syrische Volk retten wollten, hast du uns im Stich gelassen; jetzt schuldest du mir etwas. Außerdem hast du mir immer von deinen demographischen Problemen erzählt; also zeig Verständnis und öffne deine Grenze.“
Die deutsche Außenpolitik ist nur im Kontext der tiefen Abhängigkeit von den USA zu verstehen.
Und dann war da noch Merkels strategische Hinwendung zu den Grünen. Sie versuchte, die Mitte-Rechts-Konservativen in der CDU allmählich nicht mit der SPD, sondern mit den Grünen zusammenzuführen. Denn in den Grünen sah sie die nächste Generation der deutschen Bourgeoisie – die Kinder ihrer traditionellen Wählerschicht. So wollte sie die politische Familie des Bürgertums in ihrer Koalition vereinen. Ihre 16-jährige Kanzlerschaft war ein permanentes Ringen darum, sich von FDP und SPD zu entfernen und die Grünen einzubinden.
Die Grenzöffnung 2015 war der sichtbarste Schritt, um die Grünen davon zu überzeugen, dass sie der geeignetste Koalitionspartner seien. Doch dieser Schritt schlug zurück: Innerhalb eines Jahres führte die Ankunft von einer Million Syrern zur Wiederbelebung der beinahe verschwundenen AfD.
Die Krise der Linken
WB: Kehren wir also noch einmal zur traditionellen deutschen Linken zurück. Die SPD ist doch inzwischen auf Platz drei der Wählergunst abgerutscht, oder? Wo liegt Ihrer Meinung nach der Fehler? Liegt es daran, dass sie außer der Großen Koalition keine politische Strategie hatten? Oder fehlt es schlicht an politischer Vorstellungskraft?
WS: Man muss das im Kontext der europäischen Sozialdemokratie insgesamt sehen; es ist kein spezifisch deutsches Problem. (Das einzige Land, in dem es diese Krise anscheinend nicht gibt, ist Dänemark. Aber die dänischen Sozialdemokraten sind ein Sonderfall: migrationskritisch, NATO-freundlich und russlandfeindlich.)
In Deutschland wie in Europa verfügte die Sozialdemokratie in den 1970er und 1980er Jahren noch über eine Tradition der détente. Entscheidend war jedoch anderes: die strukturelle Veränderung des Arbeitsmarktes, die Zersplitterung der Gewerkschaften, die finanziellen und ökonomischen Grenzen des Wohlfahrtsstaats. Viele soziale Probleme der 1960er Jahre wurden im Grunde gelöst; doch diese Lösungen wurden für Staat und Wirtschaft so teuer, dass die Sozialdemokraten an der Regierung gezwungen waren, Sozialausgaben zu kürzen. In dem Moment aber, in dem sie Austerität betrieben, enttäuschten sie ihre Wähler, die sich anderen Parteien zuwandten.
Das war nicht nur in Deutschland so; auch in Frankreich, Italien und Großbritannien. Die niederländischen Sozialdemokraten – einst eine stolze Partei – sind nahezu verschwunden. Die einstige Kommunistische Partei Italiens ist völlig marginalisiert. Wir sehen also einen gesamteuropäischen Trend.
Es gibt zudem eine kulturelle Dimension. Klassische sozialdemokratische Politik ging davon aus, dass kollektives politisches Handeln kollektive Disziplin erfordert. Gesellschaftliche Bewegungen wurden unter Führung einer Partei organisiert, die Parteitage abhielt und ein Programm beschloss. Als Wähler oder Mitglied verteidigte man dieses Programm, auch wenn man nicht jeden Punkt teilte. Es war die Vorstellung, dass gesellschaftlicher Fortschritt durch Organisation erreicht wird.
Im heutigen Kapitalismus kann jedoch niemand mehr solchen Fortschritt versprechen. Sozialdemokraten können höchstens versprechen, den Status quo zu sichern. Ehrlicherweise müssten sie sagen: „Um an derselben Stelle zu bleiben, müsst ihr schneller laufen.“ Oder: „Die Zukunft birgt viele Risiken, wir werden sie für euch managen – aber Garantien gibt es keine.“
Ich erinnere mich noch gut an die Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre: starke Gewerkschaften, wirtschaftliches Wachstum, Staaten mit Ressourcen für großzügige Sozialsysteme. Diese Ära ist vorbei.
WB: In Bezug auf die SPD hört man oft die Erklärung, dass die Schröder-Regierung neoliberale Reformen durchgesetzt habe, die die Christdemokraten niemals hätten durchsetzen können.
WS: Diese Erklärung ist etwas zu schlicht. In Deutschland gab es neben dem „Arbeitslosengeld“ eine weltweit einzigartige Institution: das „Arbeitslosengeld auf Lebenszeit“ (Arbeitslosenhilfe). Wer ein bestimmtes Alter erreicht hatte und nach Ablauf des Arbeitslosengeldes keine Stelle fand, erhielt bis zur Rente diese Hilfe. Das führte dazu, dass viele gar nicht mehr aktiv nach Arbeit suchten – sie wussten, erst kommt Arbeitslosengeld, dann Arbeitslosenhilfe, dann Rente.
Nach der Wiedervereinigung wurde dieses Recht auch auf Ostdeutsche ausgeweitet. Ab 1992 war die Arbeitslosigkeit im Osten sehr hoch. Viele konnten nach einigen Jahren Unterstützung direkt in den Ruhestand wechseln. Arbeitgeber nutzten dies aus: Sie entließen Mitarbeiter mit dem Versprechen, ihr Nettoeinkommen mithilfe der unbefristeten Arbeitslosenhilfe zu garantieren. De facto arbeiteten diese Menschen nicht mehr, verdienten aber genauso viel.
Mit der Zeit spielten auch die Gewerkschaften mit – teils, weil ihre Mitglieder zufrieden waren, teils, weil sie an die „lump-of-labor“-These glaubten: Wenn ein älterer Arbeiter geht, rückt ein junger nach. In der Realität geschah das nicht.
2002 wurde Schröder nur knapp wiedergewählt. Die Koalitionsgespräche mit den Grünen waren katastrophal. Schröder entschloss sich daraufhin, den „Stier bei den Hörnern zu packen“ und dieses System unbegrenzter Arbeitslosenhilfe zu beenden. Heraus kam die Agenda 2010, die im Frühjahr 2003 Gesetz wurde. In der Öffentlichkeit galt sie als gewerkschaftsfeindlich, arbeiterfeindlich und austeritätspolitisch – was teilweise stimmte.
WB: Kann man sagen, dass die Linke im Bereich Migration an politischer Vorstellungskraft verloren und dadurch Boden eingebüßt hat?
WS: Das Thema ist sehr komplex. Man könnte stundenlang darüber sprechen. In den 1960er Jahren boomte die Wirtschaft. Damals herrschte die Vorstellung: Menschen aus Südeuropa würden für ein paar Monate kommen, arbeiten und zurückkehren. Das war die Zeit der „Gastarbeiter“.
Das typische Bild damals: Züge aus Italien, aus denen Männer aussteigen – die Frauen blieben zu Hause – und die am Jahresende mit Geld in der Tasche zurückkehrten. Doch bald zeigte sich: Das war eine Illusion. Die Menschen wollten bleiben, holten ihre Familien nach.
In dieser Phase spielten Gewerkschaften eine große Rolle bei der Organisation der Migranten. Besonders die IG Metall betrieb gezielte Ansprache. Denn Solidarität war ein zentraler Wert der Linken: Man arbeitete neben einem ausländischen Kollegen, freundete sich an, und wenn der Chef ihn schlecht behandelte, erhob man seine Stimme für ihn.
Bald sah man auch Italiener, Spanier, Türken in mittleren Gewerkschaftspositionen. In den 1970ern hörte ich bei Opel den Satz: „In unseren Fabriken gibt es keine zwei Arten von Arbeitern.“ Gemeint war: gleiche Rechte für ausländische und deutsche Beschäftigte.
Heute ist alles anders. Die Fabriken sind verschwunden. Migranten arbeiten nicht mehr Seite an Seite mit Deutschen, sondern mit anderen Migranten, meist im prekären Dienstleistungssektor. Sie stehen kaum in direktem Kontakt mit der deutschen Gesellschaft. Das erschwert die gewerkschaftliche Organisierung.
In Wirtschaftskrisen taucht dann wieder die Frage auf: „Warum gehen diese Menschen nicht in ihre Heimat zurück?“ Rassismus nimmt zu. Gewerkschaften akzeptieren mancherorts Regelungen, die faktisch deutsche Arbeiter besserstellen. Wo die sozialistische Tradition stark ist, passiert das seltener, aber es kommt vor.
Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten. Die zweite Generation italienischer oder spanischer Migranten hat es in den öffentlichen Dienst, in Ingenieur- oder Technikerberufe geschafft. In Deutschland führt der Weg zum Erfolg fast immer über Bildung. Manche Gruppen meistern diesen Weg besser als andere.
Heute jedoch gibt es Grundschulklassen, in denen 70–80 % der Kinder kein Deutsch sprechen. Das verunsichert deutsche Eltern, die zweifeln, ob ihre Kinder in solchem Umfeld genug lernen.
WB: Gibt es im oberen Mittelstand oder in den Eliten Menschen mit Migrationshintergrund, die sich durchgesetzt haben?
WS: Nicht so wie in Großbritannien. Dort ist die Elite durch Adel und Privatschulen geprägt. So etwas gibt es hier nicht. Nach dem Krieg war die Gesellschaft völlig durcheinander. 1949 lebten in Westdeutschland etwa 45 Millionen Menschen, hinzu kamen 15 Millionen Flüchtlinge aus dem Osten. Man kann sich vorstellen, wie das die traditionelle Gesellschaftsstruktur erschütterte.
Natürlich gilt: Wenn die Eltern studiert haben, ist es wahrscheinlicher, dass auch die Kinder studieren. Aber ideologisch ist Deutschland ein Land, das an individuelle Leistung glaubt, nicht an Abstammung.
WB: Gibt es Unterschiede in der Akzeptanz von Süd- oder Osteuropäern gegenüber Menschen aus islamischen Ländern, aus Syrien oder aus Afrika?
WS: Ganz eindeutig. Afrikaner haben es besonders schwer. Ihre Hautfarbe macht sie sofort erkennbar.
Bei Syrern habe ich beobachtet: Viele der Flüchtlinge kamen aus der Mittelschicht. Syrien hatte offenbar eine große, gebildete Mittelschicht. Gehen Sie heute in ein deutsches Krankenhaus – die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Chirurg Syrer ist.
Die Türken wiederum sind mittlerweile relativ gut integriert. Das liegt an ihren Großfamilien und Gemeinschaftsstrukturen. Wenn ein Türke nach Deutschland zieht, gibt es dort schon viele andere, die ihm helfen. So kann man seinen Weg machen.
Der typische türkische Migrant heute ist vielleicht kein Chirurg, aber er betreibt einen Gemüseladen. Und die Leute wissen: Das beste Gemüse gibt es beim Türken – weil er eine Stunde früher aufsteht als sein deutscher Konkurrent und die beste Ware vom Markt holt. Mit der Unterstützung einer nationalen Gemeinschaft und einer Großfamilie können Menschen auch in der Fremde erfolgreich sein.
WB: Und was ist mit dem Islam?
WS: Mein Eindruck ist, dass die Lage in anderen Ländern – vor allem in Frankreich – deutlich schwieriger ist. Frankreich ist ein Staat, in dem Religion und Politik sehr strikt voneinander getrennt sind; deshalb herrscht dort gegenüber jeder Religion eine grundsätzliche Distanz. In Deutschland ist das anders. Hier gibt es die katholische und die evangelische Kirche, beides fest etablierte Institutionen, die – ähnlich wie in England – vom Staat offiziell anerkannt werden.
Beim Islam ist das anders: Die Muslime haben keine Kirche, keine zentrale Hierarchie und auch keine verbindliche theologische Orthodoxie. Der deutsche Staat versucht von Zeit zu Zeit, eine Art islamische Institution nach dem Vorbild der katholischen Kirche zu etablieren, doch solche Strukturen lösen sich in der Regel schnell wieder auf. Muslime haben noch stärker als Christen unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sie ihre Religion praktizieren wollen – und es gibt keine Institutionen, die diese Differenzen ausgleichen könnten.
Hinzu kommt in Deutschland die Frage nach dem Unterschied zwischen Islam und Islamismus. „Islamismus“ gilt als gefährlich, weil er als anti-demokratisch und antisemitisch wahrgenommen wird. „Islam“ hingegen gilt als akzeptabel – allerdings nur solange man nichts über den Genozid in Gaza sagt. Sobald man dazu Stellung nimmt, gilt man schnell als „Islamist“.
Wie Sie wissen, geht der deutsche Staat äußerst rigide damit um, seine Bürger dazu zu bringen, Israel, dessen Besatzungspolitik in Palästina und die Operationen in Gaza zu unterstützen.
*Walden Bello ist Co-Vorsitzender des Vorstands der Organisation Focus on the Global South am Chulalongkorn University Social Research Institute in Bangkok. Er war Professor an der Universität der Philippinen sowie an der State University of New York in Binghamton und arbeitete mit dem Transnational Institute in Amsterdam zusammen. Bello ist Autor zahlreicher Bücher; sein jüngstes Werk ist Global Battlefields: Memoir of a Legendary Public Intellectual from the Global South (2025).
Quelle: https://fpif.org/the-german-question-and-europes-future-part-one/