Wie deuten die Golfstaaten die neue Balance im Nahen Osten?
Nach der jüngsten militärischen Eskalation zwischen Israel und dem Iran hat im Nahen Osten eine Suche nach einem neuen Gleichgewicht begonnen. Die gegenseitigen Raketen- und Drohnenangriffe gestalten die Machtverhältnisse sowohl regional als auch global neu, während der regionale Einfluss Irans deutlich zurückgeht. Diese Entwicklung stellt jedoch nicht automatisch eine Chance für die traditionellen Rivalen Irans, die Golfstaaten, dar. Vielmehr verfolgen Energieexporteure wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Kuwait die zunehmenden militärischen Schritte Israels in der Region mit Vorsicht. Denn das neue Gleichgewicht schwächt nicht nur den Iran, sondern birgt auch das Risiko, Israel strategische Handlungsspielräume zu eröffnen.
Wie verändert sich das Machtverhältnis mit dem Zerfall der Iran-Achse?
Die von Iran über Jahre aufgebaute Achse Teheran–Beirut wurde in letzter Zeit durch aufeinanderfolgende Schläge erschüttert. Mit dem Zusammenbruch des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien verlor Iran seinen wichtigsten Verbündeten in Damaskus. In Libanon zog sich die Hisbollah aufgrund israelischer Luftangriffe und wirtschaftlichem Niedergang in die Defensive zurück. Während die Macht der Organisation in der libanesischen Innenpolitik abnimmt, hat sich auch ihre Fähigkeit zur regionalen Initiativnahme deutlich verringert.
Im Jemen, wo die Huthi-Bewegung als wichtigste iranische Proxy gilt, sind die Kosten aufgrund von Angriffen im Roten Meer hoch. Luftoperationen unter Führung der USA und Großbritanniens, mit stillschweigender Unterstützung Israels, haben die Raketentechnologie und Drohnenkapazitäten der Huthis erheblich beschädigt. Logistikzentren, Waffenlager und Kommandostrukturen wurden gezielt angegriffen, wodurch das Risiko direkter Angriffe auf die Golfstaaten stark reduziert wurde.
Der eigentliche strategische Bruch erfolgte jedoch durch direkte Angriffe auf iranisches Territorium. Die USA trafen in koordinierter Aktion mit Israel kritische Nuklearanlagen wie Natanz und Fordo. Diese Entwicklung bedeutet für den Iran sowohl eine Schwächung seiner Abschreckung als auch eine Infragestellung seiner Verteidigungsfähigkeit.
Trotz all dieser Entwicklungen sind Länder wie Saudi-Arabien und die VAE nach wie vor zurückhaltend, sich direkt militärisch einzumischen. Besonders ihre Weigerung, eine umfassende Bodenoffensive gegen die Huthis im Jemen zu unterstützen, spiegelt diese vorsichtige Politik deutlich wider.
Gründe für die vorsichtige Haltung des Golfs
Die Zurückhaltung der Golfstaaten, sich militärisch zu engagieren, beruht auf vielschichtigen Gründen. Der erste ist die Sicherheitsbedrohung. Der Drohnenangriff der Huthis 2019 auf die Energieanlagen in Abqaiq und Khurais in Saudi-Arabien löste eine große Schockwelle in der Region aus. Diese Angriffe zeigten nicht nur die Verwundbarkeit Riad’s, sondern auch die Fragilität der globalen Energiemärkte. Die Golfstaaten wollen ein ähnliches Szenario nicht erneut riskieren.
Der zweite Grund liegt in den komplexen Machtverhältnissen im Jemen. Die offizielle jemenitische Regierung ist noch in Regionen wie Marib und Taiz präsent, steht jedoch nicht alleine da. Die von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten salafistischen Gruppen, bekannt als „Amalikas“, haben weite Teile unter ihre Kontrolle gebracht. Zudem verfolgt der ebenfalls von Abu Dhabi unterstützte Südliche Übergangsrat (STC) in Aden und Umgebung eine Unabhängigkeitsagenda und konkurriert mit der nördlichen Regierung. Diese fragmentierte Struktur macht eine koordinierte und zentrale militärische Operation praktisch unmöglich.
Unterschiedliche Ansätze zwischen Saudi-Arabien und den VAE
Obwohl sie gemeinsame Sorgen gegenüber dem Iran teilen, überschneiden sich die Positionen Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate in verschiedenen Nahost-Fragen nicht immer. Im Jemen unterstützt Riad stärker die Zentralregierung, während Abu Dhabi zeitweise lokale oder nichtstaatliche Akteure fördert.
Diese Differenzen beschränken sich nicht nur auf den Jemen. So verfolgt Saudi-Arabien im Sudan eine Politik, die auf Erhalt staatlicher Strukturen setzt, während die VAE engere Beziehungen zu paramilitärischen Gruppen wie den Rapid Support Forces (RSF) pflegen. Im Syrien-Konflikt zeigte sich ein ähnlicher Unterschied: Riad wählte einen kontrollierten Kontakt zum Regime über die Arabische Liga, während die VAE frühzeitig direkte diplomatische Beziehungen mit Damaskus aufnahmen.
Diese unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen, dass es im Golf keine einheitliche Entscheidungsstruktur gibt, sondern dass geopolitische Interessen für jedes Land unterschiedlich definiert sind.
Für die Golfstaaten besteht die Hauptaufgabe darin, Machtvakuums gewinnbringend zu nutzen, ohne dabei neue Bedrohungen zu schaffen. Denn die Schwächung eines Gegners im Nahen Osten bedeutet nicht zwangsläufig Stabilität – oft öffnet sie die Tür für neue Konflikte. Die Golfstaaten haben dies erkannt, sind vorsichtig und handeln entsprechend bedacht.
Der schwindende Einfluss Irans in der Region eröffnet den Golfstaaten ein historisches Zeitfenster. Diese Chance kann jedoch nur mit einer vorsichtigen und vielschichtigen Strategie genutzt werden. Die Priorität der Golfstaaten liegt heute nicht nur darin, die iranische Bedrohung abzuwehren, sondern auch darin, zu verhindern, dass Israel diese Lücke einseitig ausnutzt, den Jemen zu stabilisieren und die Energiesicherheit zu gewährleisten.