Warum kehren Liberale zu Elon Musks Plattform X zurück?

Während die sozialen Medien eine neue Phase der Sektiererei durchlaufen, scheint es, dass viele ehemalige Nutzer wieder zurückkehren.

Am 1. September veröffentlichte der Autor und Statistiker Nate Silver einen Beitrag auf X, in dem er einen neuen Trend diagnostizierte: „Blueskyismus“. Der Begriff leitet sich vom dezentralen sozialen Netzwerk Bluesky ab, das als Konkurrent zum alten Twitter entstand. Laut Silver repräsentiert Blueskyismus eine neue Art von Ideologie, die „alle Eigenschaften enthält, die Progressivität für normale Menschen abstoßend machen“ – und diese Eigenschaften verhindern nach Silver, dass die Demokraten bei Wahlen wieder breite Unterstützung gewinnen. Wie bei jedem erfolgreichen Social-Media-Trend vertiefte Silver seine Argumentation in seinem Newsletter „Silver Bulletin“.

Bluesky, ursprünglich als „giftnetzfreies“ soziales Netzwerk konzipiert, ist aufgrund von „aggressiver Zensur der Opposition“, „moralischen Mikropanikreaktionen“ und einer geschlossenen Nutzerbasis aus Akademikern und Experten nahezu erstickt. Silver selbst ist auf Bluesky nicht aktiv, aber seine Beiträge auf X werden häufig als Screenshots auf Bluesky geteilt, um dort Wut zu erzeugen. In seinem Bulletin gibt Silver offen zu, dass er im Wesentlichen die liberale „Wokeness“ kritisiert und diese Kritik auf eine einzige Plattform projiziert.

Silver liegt nicht völlig falsch: Auf Bluesky existiert tatsächlich eine wiederholende, reaktive Kultur der Tadelung, die die Plattform weniger unterhaltsam macht. (Auf der Plattform wird X implizit als „der andere Ort“ bezeichnet.) Zwar lässt sich nicht über alle Nutzer verallgemeinern – viele Bluesky-Nutzer posten nicht auf Englisch und beschäftigen sich nicht mit amerikanischer Politik – doch nach Musks Übernahme von Twitter und Trumps erneuter Kandidatur hat sich die Plattform für Liberale zu einem Zufluchtsort entwickelt. Im Vergleich zu vor fünf bis zehn Jahren zeigt sich deutlicher denn je, dass die Wahl einer bestimmten sozialen Plattform ein Indikator für politische Neigungen geworden ist. Eine Plattform zu nutzen, ohne zumindest deren generelle Ideologie zu akzeptieren oder zu tolerieren, ist kaum möglich geworden.

Insbesondere textbasierte soziale Netzwerke, in denen politische Debatten geführt werden, haben sich mit der zunehmenden Verlagerung der Politik ins Netz sektiererischer entwickelt. Wer auf einem Netzwerk aktiv ist, kann wie Silver für Aussagen auf einem anderen Netzwerk kritisiert werden. Deshalb ist die Entscheidung, welche Plattform man nutzt, heute schwieriger als früher. Vor zehn Jahren war es noch legitim, zwischen Netzwerken mit unterschiedlichen Content-Formaten zu wechseln. Da heute aber alle Plattformen ähnliche Mischungen aus Text, Bild und Video bieten, gleicht die Entscheidung, wo man Zeit verbringt, der Wahl des „mentalen Giftes“, das man konsumiert.

Silver beschreibt Bluesky als „eine merkwürdige Online-Nachbarschaft, in die man nur gerät, wenn man in die falsche Straße abbiegt“. Die Dynamik von X, wo Silver fast täglich postet, ist jedoch von Natur aus politischer. In den 2010er Jahren bot Twitter ein breites politisches Spektrum: Es diente sowohl Aktivisten zum Teilen von Protestdokumentationen als auch Trump während seiner ersten Amtszeit als Bühne. Nach Musks Übernahme 2022 entließ er das Moderationsteam, förderte bestimmte Inhalte (meist von rechtsgerichteten Influencern, die Musk bevorzugt) und änderte die Feeds der Nutzer zugunsten seiner KI-Initiativen wie Grok und xAI. (X wurde in diesem Jahr offiziell mit xAI zusammengeführt.)

Es lässt sich kaum ernsthaft behaupten, dass X unter Musk versucht, neutral zu sein oder wie Bluesky trotz aller Mängel einen besseren politischen Raum zu schaffen. Politik auf sozialen Plattformen wird nicht nur durch die Meinungen der Nutzer, sondern auch durch die infrastrukturelle Gestaltung des Netzwerks geformt. Bluesky, Teil des dezentralen Internets, arbeitet langsamer, bedient Nischeninteressen und belohnt innere Streitigkeiten über irrelevante Details. X hingegen ist absichtlich chaotisch gestaltet: Für eine überwiegend aus Bots bestehende Zuschauerschaft werden Follower-Scharen gesammelt und ideologische Beleidigungen gefördert. X-ismus bedeutet, um jeden Preis Interaktion zu suchen und Trolling als Methode zu akzeptieren – und aktuell ist genau das der Erfolgreiche.

Silver kann sich damit trösten, dass viele Liberale, die zu Bluesky geflohen sind, offenbar X-ismus wieder übernehmen und mit einem schwachen Schuldgefühl zurückkehren. Die Plattform ist teilweise sicher für ihre Rückkehr, da Musk nach Trumps Abgang und dem Zurückziehen von DOGE aus der öffentlichen Bühne weniger aktiv auftritt. Ohne Musks ständige Präsenz wird es einfacher, auf seiner Bühne zu performen.

Die Veröffentlichung des Buchs Abundance von Ezra Klein und Derek Thompson im März löste eine Debatte darüber aus, welche Anti-Trump-Botschaften auf X am effektivsten sind. Auch neue liberale Medien wie The Argument von Jerusalem Demsas beteiligten sich an der Diskussion. Besonders kollektive, spannende Ereignisse – etwa während des Super Bowl – machen das Teilen auf X attraktiver. Im vergangenen Monat begann Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom, über den X-Account seines Büros den Schreibstil von Trumps Truth-Social-Posts parodistisch nachzuahmen; seine Beiträge erhielten positive Berichterstattung und ermutigten andere Liberale, ebenfalls auf X aktiv zu werden.

Ich denke, dass linke Journalist:innen und Redakteur:innen nicht wegen des ideologischen Tons von Bluesky, sondern weil sie den Wettbewerb um Aufmerksamkeit vermisst haben, zu X zurückkehren. Wenn X-ismus gegenüber Blueskyismus bevorzugt wird, liegt das daran, dass X-Nutzer:innen weniger Aufwand betreiben müssen, um Menschen zu erreichen. Im Internet gilt immer noch: Je größer das Megafon, desto besser die Reichweite. Dennoch wird die detaillierte Analyse der Unterschiede zwischen Bluesky und X zunehmend zu einer vergeblichen Mühe.

Die Realität ist, dass textlastige soziale Netzwerke insgesamt weitgehend im Verfall begriffen sind. Laut den Open-Source-Daten von Bluesky hat die Anzahl der täglich aktiven Nutzer:innen seit ihrem Höchststand im Januar dieses Jahres – nach Trumps Amtsantritt – jeden Monat abgenommen (trotzdem immer noch viermal so hoch wie im Vorjahr). Aufgrund neuer Technologie-Regelungen der Europäischen Union musste X einige interne Statistiken offenlegen; die Anfang des Jahres erfassten Daten zeigen, dass die Plattform seit August 2024 etwa zehn Prozent ihrer Nutzer:innenbasis in Europa – rund elf Millionen Konten – verloren hat. Metas App Threads wächst dank kontinuierlicher Unterstützung durch Instagram, hat aber seit ihrem Start 2023, zumindest soweit ich mich erinnere, kein einziges bedeutendes kulturelles Ereignis oder Internet-Meme hervorgebracht.

Unter den aktivsten Nutzern sozialer Medien waren schon immer Kommentatoren (Pundits) dominant; inzwischen nimmt jedoch die stille Followerschaft ab, und weiter zu posten bedeutet oft, bereits Überzeugte, Desinteressierte oder inaktive Accounts anzusprechen. Das Mainstream-Publikum braucht soziale Medien möglicherweise nicht mehr so dringend wie früher, da es ähnliche Dynamiken inzwischen auch in den traditionellen Medien findet. Trumps zweite Amtszeit gleicht eher einer verlängerten Trollkampagne; zu seinen jüngsten Provokationen gehört, die Umbenennung des Verteidigungsministeriums anzukündigen und auf Truth Social Chicago zu drohen, „bald zu erfahren, warum es Kriegsministerium genannt wird“.

Es wird berichtet, dass der Unterhaltungsgigant Paramount plant, die kleine, aber einflussreiche Substack-Publikation The Free Press, gegründet von der führenden „Anti-Woke“-Journalistin Bari Weiss, zu übernehmen und Weiss eine leitende Position bei CBS News zu geben. The Free Press erlangte Bekanntheit durch Twitter-artige, rechtsgerichtete Unzufriedenheitsrhetorik und Aufmerksamkeit gegen wahrgenommene liberale Orthodoxie. Weiss’ journalistische Reflexe lassen sich durch einen kürzlichen Artikel zusammenfassen, der untersuchte, ob die unter der israelischen Blockade verhungernden Kinder in Gaza zuvor bereits Krankheiten hatten. Sollte die Übernahme stattfinden, ist kaum zu bezweifeln, dass Weiss eine ähnliche Sensibilität zu CBS – und damit zu einem viel breiteren, offline Publikum – transportieren wird.

Soziale Medien sind politisch stark polarisiert; noch wichtiger ist jedoch, dass die Art von Politik, wie sie in sozialen Medien betrieben wird, inzwischen zu einer unvermeidlichen Realität geworden ist.

Quelle: https://www.newyorker.com/culture/infinite-scroll/social-media-is-navigating-its-sectarian-phase